@ Mannbärschwein:
Da für dich die Existenzberechtigung dieses Ausländerslangs in einer “Brückenfunktion” auf dem Weg zum Standarddeutsch begründet ist, empfändest du es als “gewaltsames niederbüglen” der natürlichen Sprachentwicklung und des allgemeinen Sprachempfindens, wenn dieses “Provisorium” von seiten der Sprachwissenschaft, bzw. von diesem Forschungsprojekt gegenüber dem Hochdeutschen und den etablierten Dialekten künstlich bestärkt wird.
Das trifft es meiner Meinung nach ziemlich exakt.
Zum Punkt:
Das behauptest du anscheinend anhand deines Laienwissens. Oder gibt es Quellen?
Ich merke bereits seit mind. letzten Beitrag von Dir, dass Du mir indirekt die sachliche Befähigung absprichst, eine andere, aber inhaltlich begründete Meinung als Frau Prof. Wiese zu haben. Ja, ich bin ein Laie. Das heißt, dass ich mir mein Urteil vorsichtig überlege, aber nicht, dass ich mich immer jeden Urteils enthalte. Denn manchmal ist es auch begründet und kompetent.
Auch als Laie kann ich sehen, um einen konkreten Fall zu nennen, dass beispielsweise der Ausdruck “Pfötchen geben” semantisch in seinem Verb NICHT gebleicht ist, während dies bei “Messer machen” sehrwohl der Fall ist, auch wenn Frau Wiese den Eindruck erweckt, dass diese Fälle parallel verlaufen (siehe meinen lertzten Beitrag).
Dabei interessiert es mich übrigens auch nicht im Allermindesten, ob Frau Wiese promovierte und habilitierte Professorin ist. Mich interessieren die Argumente. Und meine Argumente (die natürlich bereits von anderen ins Feld geführt wurden) sind in diesem Fall besser als die von Frau Wiese, und alles andere ist irrelevant.
Auch als Nicht-Linguist ist es möglich, einiige Fragen zu beurteilen und sich eine begründete Meinung dazu zu bilden.
Und Frau Wieses Thesen und Argumente sind m.E. in diesem wie in anderen Punkten schwach, und das begründe und konkretisiere ich auch, dazu unten mehr.
Aber zur Frage des Dialekts sage ich dies: Es kommt ganz auf die Definition von “Dialekt” an. Und warum Kiezdeutsch sichjedenfalls von den üblichen Dialekten grundlegend unterscheidet und m.E. nicht die Anforderungen erfüllt, die man üblicherweise an Dialekte stellt, habe ich ausführlich dargelegt. Wenn man dennoch von einem Dialekt sprechen will, kann man das natürlich tun, aber dann wird leicht etwas Falsches mitsuggeriert.
WELT ONLINE: Kiezdeutsch ist ein Dialekt?
Wiese: Ja, in einem modernen Sinne. Früher hat man nach Regionen unterschieden, heute wird der Dialektbegriff in der internationalen Sprachforschung oft allgemeiner verstanden. Kiezdeutsch wird überall in urbanen Räumen gesprochen. Sogar in Regensburg. Es muss sich nicht einmal um eine riesige Großstadt handeln. Hinzu kommt, dass der Dialekt immer in multiethnischen Gebieten gedeiht, wo Jugendliche unterschiedlicher Herkunft, deutscher ebenso wie anderer Herkunft aufeinandertreffen. Ein mehrsprachiges Umfeld also.
Ja, weil dort eine möglichst einfache und regellose Sprache gefunden werden muss, damit man sich versteht. Wenn ich mit einem Ausländer mit schlechten Deutschkenntnissen spreche, dann spreche ich manchmal auch ähnlich ein stark simplifiziertes, einfaches Deutsch, um mich verständlich zu machen.
Aber Frau Wiese geht es darum, dass allein die Tatsache, dass Kiezdeutsch nicht regional gebunden ist, noch nicht ausschließen soll, dass es sich um einen Dialekt handelt; wo Dialekte doch typischerweise regional gebunden sind. Das schenke ich ihr von mir aus. Aber meine Argumente gegen das Kiezdeutsche als Dialekt haben ja eine ganz andere Stoßrichtung, so dass Wieses Darlegung meine Kiritk gar nicht erst tangiert.
Nehmen wir mal an, es gäbe einen USER “Ahmet Gündüz”, der die gleiche Meinung wie du vertritt und folgendes gepostet hätte:
Das wäre verhältnismäßig das Gleiche, was du in vier ellenlangen Posts gesagt hast, und auch viel effizienter, im Hinblick auf Umfang und Ökonomie.
Natürlich kann man Ahmet Gündüz verstehen. Man kann sich ja mit dem Kiezdeutsch durchaus einigermaßen verständlich machen. Das gilt ja oftmals, wenn jemand eine Sprache schlecht spricht. Man kann sie irgendwie verstehen, und notfalls kann der Betroffene sich mit Händen und Füßen verständlich machen.Das bestreite ich ja auch gar nicht.
Ähnlich könnte Frau Wiese ihre Thesen auch so formulieren: "Ist Kiezdeutsch nix schlecht. Ist Kiezdeutsch neue Erfindung und gut, wie andere Dialekte."
Aber wäre das dann noch eine wissenschaftliche These, und würde man das ersnt nehmen? Und wie sollte Frau Wiese ihre Analyse und Argumentation auf diese Weise vernünftig führen können?
Etwas “irgendwie” grob zusammenzufassen ist nicht dasselbe wie es gut, klar und detailliert auszudrücken und zu begründen!
Eine differenzierte Diskussion führen, sich nunaciert ausdrücken, komplexe Positionen treffsicher formulieren, all das kann man mit Kiezdeutsch kaum.
Was ich beispielsweise geschrieben habe, ist auch nicht dasselbe, was Du in der Rolle von Ahmed Gündüz sagst, sondern eine ungefähre Zusammenfassung. Ich sage ja nicht nur: “Ist Kiezdeutsch schlechtes Deutsch, hat Frau Wiese nicht recht, auch wenn sie nett meint, muss ma Deutsch lernen.” Ich formuliere eine viel differenziertere und detailliertere Kritik, begründe sie auch ausführlich, führe Beispiel an, verweise etwa auf den unnötigen Bedeutungsverlust durch fragwürdige semantische Bleichungen usw.
Also: Wenn es nur darum geht, etwas ganz ungefähr und grob zu sagen, dann mag Kiezdeutsch reichen. Wenn man aber eine sorgfältige Analyse und Argumentation durchführen, diskursiv debattieren möchte, dann reicht es nicht. (Und somit widerspricht Deine Anmerkung auch nicht meiner These.)
Aber nochmals zur Schwäche von Frau WIeses These an anderen Beispielen, auch um der Kritik entgegenzuwirken, dass ich mich nur auf Sekundärliteratur im Sinne von Artikeln über Frau Wiese stütze:
Wiese:
Wir finden in Kiezdeutsch grundsätzlich nicht bloß sprachliche Vereinfachung, sondern auch eine produktive und innovative Erweiterung des Standarddeutschen: Kiezdeutsch nutzt die Möglichkeiten, die das Deutsche im Bereich von Grammatik und Wortschatz bietet, und baut sie aus.
http://www.kiezdeutsch.de/sprachlicheneuerungen.html
Beispiel:
Die Partikel so hat im Deutschen viele Funktionen.[…] In Kiezdeutsch bildet sich darüber hinaus bei der Verwendung von so ein weiteres Muster heraus, bei dem der übliche Bedeutungsbeitrag von so entfällt. In den folgenden Beispielen gibt so keinen Vergleich o.ä. an, sondern ist bedeutungsleer, d.h. die Sätze hätten ohne so genau denselben Inhalt wie mit so [Die fettgedruckten Teile sind die, die besonders betont wurden].
Er ist Engländer und er feiert mit uns. Er hat so Türkeitrikot und Türkeifahne um sich.
Die hübschesten Fraun kommn von den Schweden. Also ich mien so blond so.
Da gibts so Club…für Jugendliche so.
Stattdessen erhält so in diesen Fällen eine neue Funktion für die Organisation des Satzes: so steht jeweils vor dem Teil des Satzes, der die wichtige, besonders hervorzuhebende Information liefert (der sogenannte „Fokus“ des Satzes). Neben der Markierung mit so trägt der Fokusausdruck eines Satzes auch die stärkste Betonung; auf ihm liegt der Hauptakzent. Wie in den Beispielen zu sehen, kann so sowohl vor als auch hinter dem Fokusausdruck stehen, und es kann diesen auch wie eine Klammer einschließen.
Hier entwickelt sich mit so also eine Option der Fokusmarkierung, nämlich die Verwendung eines speziellen Wortes, so, das keine eigene Bedeutung trägt, sondern dazu dient, die Position des Fokusausdrucks im Satz anzuzeigen.
Ich hab eine ganz andere Theorie: Es fehlen dem Sprecher die richtigen Artikel und Präpositionen. Deswegen verkommt “so” zu einem Universal-Artikel.
“Er hat so Türkeitrikot und Türkeifahne um sich.”
Hier ist eine Fokussierung offenbar überhaupt nicht nötig oder sinnvoll. (Und ich reiße hier nichts aus dem Zusammenhang, sondern der Satz wird so dargeboten!) Gemeint ist offenbaar: "Er hat so ein Türkentrikot und so 'ne Türkenfahne um sich."
Da dem Sprecher aber den richtigen Artikel nicht kennt, begnügt er sich mit “so”. Er will offensichtlich nicht “Türkentrikot” hervorheben - wieso sollte er -, sondern er kann es nicht besser formulieren. Das ist natürlich nicht die einzige Bedeutung von “so” im Kiezdeutschen; aber auch von dem, wie man die Sprecher dieses Slangs so reden hört, meine ich, dass meine Interpretation absolut plausibel ist. (Wenn man mir in deisem Punkt nicht zustimmt, ändert es wenig an meiner Gesamt-Kritik.) Und genau wegen dieser fehlenden Kenntnis von Artikeln und Propositionen werden die manchmal auch einfach ganz weggelassen:
Lassma Moritzplatz aussteigen! (Vorschlag, gemeinsam am Moritzplatz aus dem Bus zu steigen)
Musstu Doppelstunde fahren! (Vorschlag an den Hörer, in der Fahrschule eine Doppelstunde zu fahren)
Hier werden Präpositionen und Artikel völlig weggelassen. Wie häufig auch Orts- und Zeitangaben:
In Kiezdeutsch findet man häufig Orts- und Zeitangaben, die aus bloßen Nominalgruppen bestehen, ohne Artikel und/oder Präposition. Die Auslassung ist durch Ø markiert :
Um sieben Uhr steh ich auf, geh Ø Schule.
Wo ich Ø Grundschule war…
Nachher Ø acht Uhr ich hab Dienst.
Ähnliche Wendungen findet man in bestimmten Kontexten auch in der gesprochenen Sprache außerhalb von Kiezdeutsch. Regelmäßig treten sie bei der Bezeichnung von Haltestellen öffentlicher Verkehrsmittel auf. Hier einige Beispiele aus Antworten, die wir bekommen haben, als wir in Berlin nach dem Weg gefragt haben:
Da müssen Sie Ø Jakob-Kaiser-Platz umsteigen.
Dann steigen Sie Ø Mollstraße aus.
Da musst du bis Ø U-Bahnhof Hermannplatz fahren und dann bis Ø Mehringdamm.
Hier finden wir also wieder eine Neuerung in Kiezdeutsch, die entsteht, indem Möglichkeiten, die das Deutsche sowieso schon bietet, noch weiter ausgebaut werden: Kiezdeutsch ist eine neue Varietät des Deutschen, die – wie alle neuen Varietäten - die grammatischen Möglichkeiten unserer Sprache weiterentwickelt.
Da gibt es nur einen kleinen Unterschied: Im Deutschen werden in einigen Ausnhmefällen Artikel und Präpositionen weggelassen. Im Kiezdeutscehn hingegen werden si e oftmals überall weggelassen oder falsch gesetzt, und zwar aufgrund ders mangelnden Sprachverständnisses. Was in kleinen Dosen gut sein mag, führt oftmals, wenn es extrem ausgeweitet wird, zu einer Destrukturierung und Verarmung von Sprache.
Die Flexion in Kiezdeutsch entspricht nicht immer der im Standarddeutschen, z.T. fallen Flexionsendungen auch völlig weg. Das betrifft vor allem Endungen mit dem so genannten Schwa-Laut (phonetisch: [?], gemurmeltes „e“) und Nasalen (n oder m). Auch im gesprochenen Standarddeutsch sind diese Endungen oft verkürzt: einen wird zu einn oder ein, einem zu eim, geben zu gebm etc. (siehe z.B. Schwitalla 1997; Zifonun et al. 1997).
Hier einige Beispiele aus Kiezdeutsch:
... auf kein Fall ...
... die Wärme aus mein Land.
Wir kenn uns schon vom Fitness.
Die deutschen Fußballer, die gewinn immer in der allerletzten Minute.
Kiezdeutsch geht auch hier noch weiter als das Standarddeutsche. Es entfallen z.T. auch solche Schwa-Laute, die nicht vor einem Nasal stehen, so dass z.B. meine zu mein werden kann:
Das ist mein Hose.
Also mein Schule ist schon längst fertig.
Man sieht es später halt, wenn man kein Arbeit hat.
Da die Flexionsendungen keine eigentliche Bedeutung beisteuern, sondern in erster Lienie grammatische Information transportieren, bleibt der Satz trotzdem verständlich (ähnlich wie z.B. im Englischen, wo - verglichen mit dem Deutschen - eine Entwicklung hin zu einem reduzierteren Flexionssystem stattgefunden hat).
Diese Fälle sind aber überhaupt nicht vergleichbar. Im regulären Deutschen heißt es nicht: “Auf kein Fall”, sondern “auf keinen Fall” oder vielleicht gesprochen auf “kein’n Fall”, aber man hört den Unterschied doch praktisch immer deutlich. Und so auch bei den anderen Beispielen. Sagt man hingegen “mein Hose”, “mein Schule”, “kein Arbeit”, dann ist das keine Verieinfachung der Flexion, sondern ihr Wegfallen. Und das ist dann nicht nur eine ökonomische Verinfachung, sondern eine Änderung des grammatischen Genus. Aus feminin wird maskulin. Und da ja auch im Kiezdeutschen weiterhin zusätzlich die weiblichen Formen bestehen, bedeutet das, dass nun Worte verschiedene Genera gleichzeituig besitzen. Damit macht das Genus aber überhaupt keinen Sinn mehr.
Frau Wiese verwechselt hier zwei grundlegend verschiedene Dinge: Deutsche “verschleifen” manche Endungen, ohne dass dies zu einem Verlust oder einer Änderung der Genera oder anderer wesentlicher Unterscheidungsmerkmale des Wortes führt. Die Schöpfer des Kiezdeutschen hingegen kennen einfach nicht das richtige Genus. Aus diesem Grund benutzen sie oftmals die falschen Artikel, oder sie lassen Artikel und Präpsoitionen einfach gleich ganz weg. Deswegen herrscht hier praktisch Beliebigkeit: Man benutzt die richtigen Artikel, oder falschen, oder gar keine, oder manchmal auch nur ein “so”.
An anderer Stelle finden wir in Kiezdeutsch mehr Flexionsmarkierungen als im Standarddeutschen: Bei Vergleichen mit als und wie finden wir z.T. flektierte Formen von Pronomen, wo man sie im Standarddeutschen nicht erwarten würde:
Früher war er so wie uns.
Wir gehen zu den älteren Leuten, die älter als uns sind.
Ja, die sind so wie uns.
Durch diese Kasusmarkierung wird das System der Präpositionen in Kiezdeutsch regelmäßiger als im Standarddeutschen: Die Präpositionen als und wie sind hier keine Ausnahmen mehr, sondern weisen einen Kasus zu, wie alle anderen Präpositionen auch. Kiezdeutsch ist hier also grammatisch systematischer als das Standarddeutsche.
Es ist doch schon bemerkenswert: Da kennen manche Leute aufgrund ihrer mangelnden Deutschkenntnisse nicht die richtige Deklination von “wir” (so verständlich das sein mag). Und das wertet Wiese nun positiv. Das wäre ungefähr so, als würden manche Leute kein gutes Englisch sprechen, und daher bestimmte allgemein akzeptierte Regeln ständig verletzen, das aber nicht als Zeichen mangelnder Englisch-Kenntnisse, sondern als Fortschritt werten würden.
Aber wo liegt der Fortschritt? Vielleicht stehe ich auf der Leitung, das schließe ich nicht aus, aber wieso soll das “wir”, das den Nominativ vertritt, hier weniger angemessen sein als ein “uns”, das für Dativ und Akkusativ steht? Bei Ausdrücken mit “wie” und “als” steht doch immer Nominativ, oder? Wieso sollte hier eine Ausnahme vorliegen? Von welcher Regel denn? Und was ist an der Kiezdeutschen Sprachweise regelmäßiger oder logischer? (Vielleicht täusche ich mich auch, aber Frau Wise führt hier auch nicht ihre Behauptung weiter aus.)
Noch wichtiger: Ziemlich sicher wird man doch wohl auch im Kiezdeutschen “die sind so wie wir” sagen dürfen, ohne dass das dort als “falsch” gilt. Demnach hätten wir wieder die Beliebigkeit: Man weiß nicht, wie die richtige Flexion geht, und deshalb werden alle Flexionen zugelassen. Ich gebe zu, dass ich mir hier nicht zu 100% sicher bin, aber es ist doch sehr anzunehen.
Artikel und Pronomen entfallen mitunter; vor allem dort, wo der Satz trotzdem verständlich bleibt. Die Auslassung ist durch Ø markiert :
Ich sag: ’Hast du Ø Handy bei?’
Er hat schon Ø eigene Wohnung.
Ich mache Ø Ausbildung als Fachlagerist“
[ähnlich auch im Standarddeutschen: Ich mache Abitur!)
Auch diese Entwicklung ist im Standarddeutschen angelegt: Pronomen und Artikel werden in der gesprochenen Sprache oft verkürzt (aus machst du wird machste, aus ein Handy wird n Handy) und können z.B. am Satzanfang als Topikangabe entfallen (Kommt Anja auch zur Party? – Weiß nicht.).
Im Standarddeutschen werden Artikel außerdem häufig auf Hinweisschildern (Tür öffnet selbsttätig!) oder bei Überschriften in Zeitungen (Kunstsammlung eröffnet) weggelassen. Dieser telegrammartige Stil wird dort aus Gründen der Sprachökonomie verwendet und dient der schnelleren Informationsverarbeitung für den Leser (siehe z.B. Dürscheid 2003).
Genau! Aus Gründen der Sprachökonomie! Und in manchen Fällen! Im Kiezdeutschen scheint hingegen hat das mit Sprachökonomie nichts zu tun, sondern liegt daran, dass man nicht weiß, welche Artikel und Pronomen jeweils richtig sind. Und deswegen können sie im Kiezdeutschen offenbar überall und immer weggelassen, oder auch durch falsche Artikel ersetzt werden (s.o.).
Es ist sicher sinnvoll, wenn eine Sprache Ausnahmen von der Regel zulässt. Wenn sie hingegen praktisch alle Regeln aufgibt, dann ist das nicht mehr sinnvoll, sondern zerstört die Sprache und ist ein Indiz dafür, dass der Sprecher die Regeln nicht beherrscht. Diesen wesentlichen Unterschied ignoriert Wiese andauernd.
In sogenannten „generischen“ Kontexten, in denen etwas Generelles bezeichnet wird (siehe z.B. Wiegand 2000; Nübling 1992), werden im Standarddeutschen die Artikel typischerweise mit der Präposition verschmolzen („im Schwimmbad“ statt „in dem Schwimmbad“). In Kiezdeutsch wird hier häufig die Präposition allein verwendet, der Artikel entfällt ganz:
Zum Beispiel wenn wir in Unterricht sind.
Ich kenn ihn von Fitness.
Ja, nur ist “in Unterricht sein” nicht die log. Fortentwicklung von “im Unterricht sein”. Im einen Fall handelt es sich um eine Verinfachung, bei der der Artikel (in komprimierter Form) mit seinen Informationen erhalten bleibt; im anderen Fall wird der Artikel ersatzlos gestrichen. Im einen Fall ist die sprachliche Ökonomie ausschlaggebend, im anderen die Unkenntnis der richtigen Regel.
Ein Verb, das in Kiezdeutsch z.T. wegfällt, ist das Verb sein in seinem Gebrauch in Sätzen wie Sie ist eine Lehrerin., Der Zug ist noch in Köln. etc. In diesen Sätzen liefert das Verb keinen vollen Bedeutungsbeitrag (etwa im Sinne von „existieren“), sondern dient in erster Linie dazu, das Prädikat zu bilden (siehe z.B. Eisenberg 2006; Maienborn 2003; Steinitz 1999).Kiezdeutsch kommt in solchen Fällen dann oft ohne Verb aus:
Was Ø denn los hier?
Ja, ich Ø aus Wedding.
Sätze ohne Kopulaverb, auch Nominalsätze genannt, sind auch aus anderen Sprachen bekannt, z.B. aus dem Russischen (siehe z.B. Müller-Ott 1982) und dem Arabischen (siehe z.B. Haywood & Nahmad 1962).
Gewiß! Aber was folgt daraus? Dass alle sprachlichen Unterschiede verlorengehen sollen? Dass man sich in jedem einzelnen Aspekt des Deutschen jeweils an jener Sprache orientieren soll, die in jeweils genau diesem Aspekt die einfachste ist? Wenn man so argumentiert, dann kann man wirklich alles im Deutschen zulassen mit dem Argument, dass es auf der Welt irgendeine Sprache gibt, wo genau das geht.
Die Argumentation von Frau Wiese hinsichtlich des Kiez-Deutschen liegt auf der Hand. Sie geht etwa so: Das, was es im Kiezdeutschen gibt, das gibt es auch bereits im Deutschen, oder in anderen Sprachen.
Das ist teilweise richtig: Manche Vereinfachungen gibt es im Ansatz und einigen Fällen bereits im Deutschen. Frau Wiese scheint nun so zu denken: Wenn eine Vereinfachung in einigen Fällen im Deutschen vorkommt (beispielsweise Wegfall des Artikels), dann kann man die Vereinfachung ruhig auch ganz radikal durchziehen und gleich überall alle Artikel weglassen. Und genau das halte ich für eine äußerst schwache Argumentation. Was in einer gewissen Dosis unproblematisch sein mag, führt in extremen mengen zu einer Verminderung von Diversität und Struktur einer Sprache.
Wieses Behauptung ist aber teilweise auch schlichtweg falsch, wie ich in diesem und dem letzten Beitrag aufgezeigt habe, denn manchmal sind die Unterschiede zwischen Vereinfachungen im Deutschen und im Kiez-Slang grundlegend. Frau Wiese übersieht solche wesentlichen Differenzen mehrfach geflissentlich und ebnet sie dadurch ein: Beispielsweise, wenn sie “Pfote geben” und “Messer machen” in dieselbe Kategorie verbal gebleichter Ausdrücke einordnet, oder wenn sie “wir kenn’n uns vom Fitness” und “das ist mein Schule” als vergleichbare Änderungen der Flexion darstellt. Hier ist offenbar der Wunsch Vater des Gedankens, denn eine derart krude Argumentation würde einem Linguisten sonst wohl (hoffentlich) niemals unterkommen.
Zudem stellt Frau Wiese die völlige Beliebigkeit und permanente Verletzung wichtiger grammatischer Regeln als Fortschritt, als Erweiterung, als Innovation dar. Selbst das, was eine Sprache extrem simplifiziert, was ihr Eleganz und inhaltliche Ausdrucksmöglichkeiten raubt, ihre Differenzierungsmöglichkeiten vermindert, ihre Struktur auflöst, das ist für Frau Wiese eine sinnvolle Neuentwicklung und Bereicherung der Sprache. Wann immer irgendwo falsches Deutsch entsteht, findet Frau Wiese entweder im Deutschen einen Vorgänger, oder sie konstruiert ihn einfach, oder sie findet ihn notfalls im Russischen oder Arabischen - und damit meint sie, die Legitimität und Güte von schlichtweg jedem noch so fragwürdigen Sprachgebrauch, der ganz offensichtlich auf mangelder Sprachkompetenz beruht, begründen zu können.
Jede Regelverletzung, die aus mangelnder Sprachkompetenz herrührt, ist für Frau Wiese eine interessante Flexibilisierung und Innovation, oder wie sie es sagt: “Kiezdeutsch nutzt die Möglichkeiten, die das Deutsche im Bereich von Grammatik und Wortschatz bietet, und baut sie aus.”
Der Kernpunkt ist der, den ich bereits im letzten Beitrag erwähnt habe: Es gibt vernünftige Anpassungen der Sprache, die gut passen und dem Sprachgefühl entsprechen, und es gibt schlechtes Deutsch, das sich durch semantisch-inhaltlich arme und stilsitisch schlechte Ausdrücke, Übersimplifizierungen und Beliebigkeit auszeichnet. Und diesen Unterschied wahrzunehmen, weigert sich Frau Wiese konsequent.
Zusammen mit meinem letzten Beitrag habe ich nun in der Sache und anhand eines Original-Textes Frau Wiese in einer Reihe von Punkten kritisiert, und was inhaltlich von den Argumenten zu halten ist, mag jeder selbst beurteilen.
@ izzy-bizzy:
Kiezdeutsch ist Dialekt- so wie andere Dialekte auch, die auf Dörfern gesprochen wird. Kiezdeutsch orientiert sich stark am Deutschen und lässt gelegentlich andere Wörter mit einfließen- genauso wie Wörter wie Handy, stylisch oder abgefuckt. Sprache lebt von ihrer Weiterentwicklung, zu der Kitzdeutsch eindeutig gehört.
Natürlich bin ich kein Sprachwissenschaftler, aber ich finde es anmaßend, Kietzdeutsch als Unterschichtensprache ab zu tun.
Du kannst natürlich Deine Meinung haben und sagen, das ist Dein gutes Recht. Aber wenn Du nicht inhaltlich argumentierst und auf inhaltliche Argumente eingehst, ist Dein Beitrag dann eben nur eine Meinungsäußerung.