RTL Spiegel TV Extra: Lob für Unterschichtendeutsch

@Librarian
Das Beispiel mit der „Austauschstudentin“ sollte witzig gemeint sein, und zwar in dem Sinn, dass, wenn man sich beim Flirten wegen einer Sprachbarriere auf das Nötigste beschränken muss, man auch nicht als Hohlkopf auffallen kann.
Offenbar kam das nicht so an, wie gedacht. :ugly
Better Luck next gag :mrgreen:

…würde der Austauschstudentin gerne bei Nachhilfestunden näherkommen. :wink:

Nee, franz. Austauschstudentinnen können nur französisch.
Wenn ich mich schon auf die Pirsch begebe, dann nur nach einer ganz speziellen Frau, die sich mich auch leisten kann:
http://www.youtube.com/watch?v=IovTAun6 … lpage#t=7s

@Enio:
Erstmal ein Nachtrag zu meinem vorherigen Post:
Ich hab auch mal ein bißchen gegoggelt und bin auf ein interessantes Infoportal gestoßen, welches unter der Obhut von „Prof.Dr.Heike Wiese“ betrieben wird. Werd es mir bei Gelegenheit mal durchlesen.
http://www.kiezdeutsch.de/index.html

Wenn du Recht hättest, dass Fr. Wiese dem Ghettodialekt Amtssprachenfähigkeit attestiert, wäre deine bisherige Kritik natürlich im großen und Ganzen richtig.
Aber es geht ihr nunmal darum, das Kiezdeutsch als „Dialekt“ zum Gegenstand der Sprachforschung zu machen und es bloß einer Analyse zu unterziehen.
Oder fordert sie irgendwelche politischen Konsequenzen auf Basis ihrer Erkenntnisse zugunsten des Kiezdeutsch, also, dass z.B. der Schulunterricht diesem Dialekt angepasst wird oder dass man zukünftig bei Gerichten auf Dolmetscher verzichtet, selbst wenn „machen“, „haben“ und „sagen“ die einzigen Verben im Wortschatz des Angeklagten sind?
Ich denke nicht.
Wenn ja, bitte posten, möglichst mit Quelle.

Ich denke eher, du regst dich wieder künstlich auf:

Ist das denn wirklich so schwer einzusehen? Soll ich statt „Ich arbeite am Computer“ künftig „Mach ich Computer“ sagen, und anstatt „Ich schreibe im Forum“ künftig „Mache ich Forum“, und dann behaupten, dass das gutes Deutsch sei? Ist das denn wirklich nicht begreiflich? Kann man nicht Menschen, deren Deutsch schlicht und ergreifend sehr schlecht ist, respektieren, ohne ihr schlechtes Deutsch zu einem guten umzudeuten?

Nehmen wir einmal folgende fiktive Situation:

Bitte nicht!!! :smt009

aus dem Faz-Artikel:
…Wiese selbst fordert, Kiez-Deutsch zum Teil des Grammatikunterrichts zu machen, weil Jugendliche dann eher bereit wären, sich mit dem Standarddeutsch zu beschäftigen. Wie denn nun?..

Wahrscheinlich wirst du jetzt den Satz „zum Teil des Grammatikunterrichts machen“ als „gleichrangige Lehre“ zum Standard-Deutsch deuten, ohne genau zu wissen, wie die Frau das eigentlich gemeint hat.

Dass man auch das Kiezdeutsche untersucht und auf seine funktionale Bedeutung hinweist ist sicher legitim;…

Wo ist dann das Problem?
Glaubst du den Ergebnissen dieses Forschungsprojekts nicht?
Wenn ja, dann macht das wenig Sinn, diese Ergebnisse anhand von dürftigen Informationen aus zweiter Hand, aus deutlich polemischen Artikeln seitenlang in Frage zu stellen.
Vor allem verstehe ich nicht, wieso du dann bei einem selber geposteten Beispiel, das sich für eine argumentative Auseinandersetzung gut eignet, deinen unverbindlich scheinenden Standpunkt plötzlich relativierst und deine „Kritik“ in einem kurzen Absatz abhakst, um dann wieder weitschweifig die von dir selbst in den Raum geworfene Frage zu klären, warum das Hochdeutsch dem Kiezdeutsch überlegen ist, und dein Post mit dem immer gleichen Resümee zu beenden. :smt017

…aber wenn man es als ein gutes Deutsch, das dem Hochdeutschen in wesentlicher Hinsicht sogar oftmals überlegen sei, anpreist, dann tut man den Sprechern keinen Gefallen.

Denn diese These muss bereits auf den ersten Blick als derart offensichtlich abwegig und unsinnig erscheinen, dass man schnell zum Schluss kommt, dass Frau Wiese die Wissenschaft der Linguistik für Sozialpolitik missbraucht. Und das provoziert dann und kommt wie ein Boumerang zurück.

Um nochmal auf dieses konkrete Beispiel zurückzukommen:

Wiese:

[quote]Das haben wir eigentlich bei allen Dialekten. In manchen Bereichen sind sie logischer oder systematischer. Ein Beispiel das aus dem Kiezdeutsch bekannt ist, ist das es eine andere Art der Wortstellung hat wie „vorhin ich war noch zuhause, jetzt ich bin hier“. Wenn man sich das aus der Sicht der Informationsstruktur ansieht, also wie verpacke ich Informationen, dann ist das sinnvoller. Ich möchte erstmal sagen, wann etwas passiert also „jetzt“, dann um wen es geht „mich“ und dann was passiert „hier sein“. Diese Satzstellung verwendete man im Deutschen bereits vor ein paar hundert Jahren. Es gibt Texte in denen steht: „Danach die edle Königin fuhr nach Ungarn.“ Kiez-Deutsch bringt uns diese Möglichkeit wieder zurück. Das hatten wir verloren in der Sprachgeschichte und haben es jetzt wieder.

http://www.european-circle.de/applausal … alekt.html

Demnach ist Kiezdeutsch also nicht nur „milieutauglicher“, sondern (u.a.) strukturell grammatisch überlegen. Ob diese Satzstellung nun tatsächlich „logischer“ ist, kann man natürlich hinterfragen. Denn warum will ich erst einmal wissen, wann etwas passiert ist, und nicht mit wem? Satzstellungen sind natürlich prinzipiell arbiträr und haben so oder so Vorteile und Nachteile. Aber über so etwas kann man natürlich grundsätzlich streiten, und so etwas kann sich auch im Lauf der Zeit ändern.
[/quote]

Die Strukturierung der einzelnen Informationen in einem Satz scheinen unterschiedlich modifiziert, die Message mehr oder weniger aussagekräftiger zu machen.


3.3. „Topikalisierung“ oder Voranstellung ins Vorfeld
In den Sätzen in (6) steht intuitiv jeweils das, worüber etwas ausgesagt wird, im
Vorfeld – das Element, das hier jeweils bewegt wurde, ist durch Fettdruck gekennzeichnet.
(6a) ist aus einem Werbekontext von 2001, in dem es um Rindfleisch
geht, aus dem so genannten ‚Forum Rindfleisch aktuell‘. (6b) ist der
Anfang des Johannesevangeliums.
(6)
a. Alfons Schuhbeck, Sternekoch aus Bayern, im Rahmen der Werbekampagne
‚Forum Rindfleisch aktuell‘:
Rindfleisch kann ich meinen Gästen mit gutem Gewissen empfehlen.
b. Beginn des Johannesevangeliums:
Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott … (vs. Das Wort war im
Anfang, …)
Das Worüber-sein in diesen Beispielen kommt manchmal besonders klar heraus
beim Vergleich mit einer anderen Wortstellung. Zum Beispiel antwortet
(6b) eher auf die Frage: Was war im Anfang?, die Auskunft über den Anfang
einholt. Das Gegenstück dazu hingegen, Das Wort war im Anfang in (6b), antwortet
eher auf eine Frage wie:Wann war das Wort?, die nähere Auskunft über
das Wort einholt.

Quelle:
http://193.6.132.75/pragmatik/30_198.pdf

Holla, der unten verlinkte Artikel ist von meiner Syntax-Dozentin. Und mit der hatten wir auch Diskussionen und sie hat niemals beansprucht, die volle Wahrheit gebucht zu haben, sondern durchaus auch andere Wege gelten lassen. So als kleiner Zusatz. :smiley:

Kleiner Zusatz: Ich denke das „Tisch Sieben/Rotwein“ Beispiel verdeutlicht die ganze Sache doch ganz hübsch. In der Pragmatik gehts ja auch darum, inwiefern eine Antwort eine Frage gut beantwortet. Wenn man die Betonung falsch legt, führt das zu Irritationen. Daher die simple Frage: Ist das Kiezdeutsche alltagstauglich in der Hinsicht, die Antwort semantisch und pragmatisch richtig zu geben? Ja, denn dieser Soziolekt ist wie das Deutsche in der Lage, Schwerpunkte herauszugeben.

@Mr. Morizon
Naja, ich hab diese Arbeit weniger wegen dem Thema sondern wegen der Bezeichnung und Beschreibung der verschiedenen Wortstellungsvariationen verlinkt, da die Wortstellungen in den Beispielsätzen aus dem Prof.Wiese-Zitat “voranstellend ins Vorfeld” sind.
Oder ist die informationsstrukturelle Einteilung in “Vorfeld” und “Mittelfeld” *oder die Wirkung auf die Aussagekraft des Satzes auch nicht unumstritten?

Die Frage ist, ob Fr.Prof.Wiese diese beiden Sätze unten gerechtfertigterweise als sinnvoll in Bezug auf die Informationsstruktur lobt oder ob das bloß eine subjektive Meinung einer voreingenommenen Sprachforscherin ist?

„vorhin ich war noch zuhause, jetzt ich bin hier“
„Danach die edle Königin fuhr nach Ungarn.“

Edit:
*

Es ist wahrscheinlich ärgerlicher, wenn “Kanak Spanak” auch auf die deutschen Jugendlichen übergeht.
Vielleicht finden sie es auch nur cool, so “komisch” zu sprechen.
Mein Bekannter hatte eine liebe Not, aus seiner Tochter die Kanak Spanak wenigstens zuhause raus zu lassen.
Da kam dann sowas von ihr wie:“Kann ich trinken?” - Darf ich etwas zu trinken.
Worauf mein Bekannter sie “verhohnepiepelte” mit:"Ich weiss nicht ob du trinken kannst, das musst du selber wissen."
Oder auch:“Kann ich Computer?” - Darf ich an den Computer.
Mein Bekannter:"Na ich nehme doch mal an, dass du Ahnung vom Computer hast."
Durch diese Veräppelung wurde das Töchterchen wieder zur “normalen” Regionalsprache zuhause wieder zurückgeführt.

@ Librarian:

Wenn meine Mutter mich fragt, was ich den halben Tag gemacht habe (weil ich nicht ans Telefon gegangen bin), ist das „wer/mit wem“ ja schon geklärt - da erkenne ich keine logischen Probleme in der Antwort „Heute Nachmittag war ich in der Stadt“ .

Ich auch nicht. Aber das ist ja auch nicht die Frage.
Es geht eher darum, ob eine Antwort wie „Heute Nachmittag ich war in Stadt“ generell logischer ist als ein Satz, der nach der heutigen deutschen Gramamtik richtig ist. Das behauptet ja Frau Wiese und macht es zum Beispiel dafür, dass Kiezdeutsch dem Hochdeutschen logisch oftmlas über sei. Und das bezweifle ich, mehr nicht.

@ Mannbärschwein: Das Info-Portal meine ich bereits mehrfach hier verlinkt zu haben. :wink:

Die Strukturierung der einzelnen Informationen in einem Satz scheinen unterschiedlich modifiziert, die Message mehr oder weniger aussagekräftiger zu machen.

Dagegen habe ich wie gesagt nichts, nur, wenn man Satzstellungen die das Kiez-Deutsche, nicht aber das Hochdeutsche zulässt, ohne Differenzierung und überzeugende Begründung als allgemein logisch überlegen darstellt (was Fr. Wiese eindeutig tut), oder wenn man gegen das Sprachgefühl der Sprecher und ohne natürliche Entwicklung die Grammatik umkrempeln will.

Wenn du Recht hättest, dass Fr. Wiese dem Ghettodialekt Amtssprachenfähigkeit attestiert, wäre deine bisherige Kritik natürlich im großen und Ganzen richtig.
Aber es geht ihr nunmal darum, das Kiezdeutsch als „Dialekt“ zum Gegenstand der Sprachforschung zu machen und es bloß einer Analyse zu unterziehen.

Dagegen habe ich auch überhaupt nichts, und auch nicht gegen die Feststellung, dass Kiezdeutsch einen Sinn haben mag, weil es manchen Sprechern bei der Kommunikation hilft. Wenn Frau Wiese Kiezdeutsch jedoch als einen normalen Dialekt hinstellt, dann ist das problematisch. Dialekte haben ein Regelwerk und sind prinzipiell in der Lage, die Hochsprache zu substituieren, d.h. dass man in ihnen grundsätzlich dasselbe ausdrücken kann wie in der Hochsprache. Man kann sich in ihnen differenziert unterhalten, und sie bieten reiche Ausdrucksmöglichkeiten.

Wenn sich Fr. Wiese zudem dagegen wehrt, dass Kiezdeutsch (verglichen mit dem Standard-Deutsch) ein falsches oder schlechtes Deutsch sei, sondern betont, dass es sogar oftmals logischer als das Standard-Deutsche sei, dann ist diese Redeweise geeignet, den Eindruck zu erzeugen, dass Kiezdeutsch allemal so gut wie das Standard-Deutsche sei, wenn nicht besser. Würde Wiese sagen, dass es sich um einen einfachen Slang handelt, der für die alltägliche Kommunikation reicht, aber vom normalen Deutschen aus gesehen recht primitiv ist, dann wäre das etwas anderes.

Wahrscheinlich wirst du jetzt den Satz „zum Teil des Grammatikunterrichts machen“ als „gleichrangige Lehre“ zum Standard-Deutsch deuten, ohne genau zu wissen, wie die Frau das eigentlich gemeint hat.

Nö. Mich stört mehr die „Innovationsfreudigkeit“ von Frau Wiese.
Leut FAZ jedenfalls sind Frau Wieses Ziele in dieser Hinsicht nicht gerade bescheiden:

Wenn statt „dem Manne“ inzwischen meist „dem Mann“ gesagt wird, rechtfertigt das für sie - „die Vereinfachungen sind im Deutschen angelegt“ - auch weitere Simplifikation wie „Das ist mein Schule“.

http://m.faz.net/aktuell/feuilleton/deb … 64452.html

Sollte Frau Wiese tatsächlich so argumentieren, wie hier apostrophiert, so wäre das seltsam. Einem Wort eine Endsilbe zu nehmen ist etwas anderes, als wenn man ihm die Bestimmung seines Genus nimmt und es zum grammatischen „Zwitter“ macht. Dass Ausländer mit Artikeln Probleme haben, ist verständlich, deswegen eine Sprache aber der Fehlerhaftigkeit bzw. Beliebigkeit preiszugeben, ist etwas anderes.

Glaubst du den Ergebnissen dieses Forschungsprojekts nicht?
Wenn ja, dann macht das wenig Sinn, diese Ergebnisse anhand von dürftigen Informationen aus zweiter Hand, aus deutlich polemischen Artikeln seitenlang in Frage zu stellen.

Nun, wenn Du dieser Devise folgen würdest, dann würdest Du nicht inhaltlich Stellung nehmen, sondern Dich darauf beschränken, festzustellen, dass wir nicht über das Thema diskutieren können. Das tust Du aber nicht.
Und grundsätzlich kann man auch aufgrund von Sekundärliteratur Stellung zu einem Thema nehmen, warum nicht? Soweit ich Frau Wises Äußerungen und „Ergebnisse“ kritisiere, tue ich das, als sie mir durch Artikel bekannt sind und daher einem Urteil offen stehen. Man kann natürlich auch darauf verzichten, über etwas zu diskutieren, worüber man nur Artikel gelesen hat, aber worüber kann man dann noch diskutieren? Über wenig, sehr wenig.

Zudem ist zu unterscheiden zwischen objektiven Ergebnissen eines Forschungsprojekts und den hieraus abgeleiteten Interpretationen. Dass im Kiezdeutschen die Leute „Mach ich rote Ampel“ sagen mögen, glaube ich Frau Wiese gerne. Wenn sie dann aber schließt, dass das kein Beispiel für ein sehr schlechtes Deutsch sei, sondern eine legitime und sinnvolle Vereinfachung, wie wenn man aus „Ich trage eine Krawatte“ „Ich trage Krawatte“ macht, ist hingegen kein Ergebnis von Forschung mehr, sondern offensichtlicher Unfug. Und Entsprechendes behauptet Frau Wiese, jedenfalls laut FAZ:

Doch die Linguistin möchte das normative Urteil gern umkehren. Es handele sich bei „Ich mach dich Messer“ und dergleichen nicht um ein Zurückbleiben hinter dem richtigen Deutsch, sondern um eine legitime grammatische Innovation. Selbstverständlich lässt sie sich mittels Fachsprache liebevoll beschreiben: „Funktionsverbgefüge durch semantische Bleichung der Verben“.
Ähnliche Fälle, die es im Deutschen schon gibt - „Krawatte tragen“, „Angst machen“ -, werden herangezogen, um auch „Messer machen“ für „greife dich mit dem Messer an“ ganz im Rahmen zu finden. Selbst wenn das „Tragen“ der Krawatte, anders als das „Machen“ des Messers, semantisch ungebleicht, nämlich im Wortsinn erfolgt.

Oder hat die FAZ Frau Wiese falsch wiedergegeben? Was sagt sie selbst? Lassen wir sie doch einfach einmal zu Wort kommen:

Machst du rote Ampel.
[= Du gehst bei „rot“ über die Straße.; vgl. auch oben zur Verb-erst-Stellung]
Ich mach dich Messer.
[= Ich greife dich mit dem Messer an.]
Wir sind jetzt anderes Thema.
[= Wir sind jetzt bei eineam anderen Thema. / Wir behandeln jetzt ein anderes Thema.]

Auf den ersten Blick fehlt hier lediglich der Artikel beim Nomen. Bei näherer Betrachtung stellt sich aber heraus, dass es sich hier um eine viel interessantere Konstruktion handelt: Neben der Veränderung in der Nominalgruppe (= fehlender Artikel) sind auch die Verben verändert. Sie tragen kaum noch Bedeutung. Man spricht hier auch von einer semantischen Bleichung der Verben. Bei einem Satz wie Machst du rote Ampel führt diese Bleichung des Verbs dazu, dass er eben nicht bedeutet, dass jemand im wahrsten Sinne des Wortes eine rote Ampel macht/erzeugt/herstellt, sondern dass jemand bei Rot über die Ampel geht. Zentral ist hier die Bedeutung der Nominalgruppe rote Ampel und nicht die des Verbs machen.

Hat sie es also doch richtig gesehen, möchte man sich freuen! Wiese anerkennt, dass semantischer Sinn verlorengeht. Doch dann fährt sie munter fort:

Solche Verbindungen aus semantisch gebleichten Verben und grammatisch vereinfachten, oft artikellosen Nomen oder Nominalgruppen kennt auch das Standarddeutsche; es handelt sich um die so genannten Funktionsverbgefüge (siehe z.B. Heidolph et al. 1981). Zu den Funktionsverbgefügen gehören Konstruktionen wie Angst machen, Pfötchen geben, Krawatte tragen (außerdem gehören hierzu noch Konstruktionen mit Präpositionen, z.B. zur Aufführung bringen).

Also hat sie es offenbar doch nicht verstanden! Denn bei den Beispielen aus der Standard-Sprache handelt es sich ja gerade nicht um semantische Bleichungen, bei denen wesentlicher Sprachsinn verlorengeht! Das Verb mit seinem spezifischen Gehalt bleibt ja in allen Beispielen bestehen! Die Beispiele aus dem Kiezdeutschen (bis vielleicht auf das Dritte) und dem Standard-Deutschen sind also radikal verschieden!

Wahrscheinlich hätte Wiese gerne ein entsprechendes Beispiel aus der dt. Sprache angeführt, das dem Kiez-Jargon entspricht, aber keines gefunden. Und das hat seinen Grund: Eine semantische Bleichung wie bei der Ampel und dem Messer wird nie durch jemanden erfolgen, der eine Sprache beherrscht, sondern nur durch jemanden, der sie schlecht spricht, weil sie nämlich semantisch wie stilistisch schlecht und unangemessen ist. (Siehe meine früheren Beiträge zur ausführlichen Begründung, wieso radikale semantische Bleichungen dieser Art zu erheblichem Differenzierungs- und somit Bedutungsverlust sprachlicher Ausdrücke führen.)
Was Fr. Wiese als „interessante Konstruktion“ bezeichnet, ist schlicht und ergreifend ein schlechtes Deutsch, das auf fehlender Sprachkompetenz beruht.

Aber ganz zu entgehen scheint Fr. Wiese dann die Problematik auch nicht:

Wir finden hier neue, spontane Bildungen neben den schon vorhandenen Funktionsverbgefügen des Deutschen. Weil diese Bildungen nicht zum Standardlexikon gehören (wie Angst haben etc.), sondern aus der Situation heraus entstehen, sind sie oft auch stark an eine bestimmte Situation gebunden und erfordern für ihr Verständnis das entsprechende Kontextwissen (beispielsweise ist ein Satz wie Machst du rote Ampel! kaum verständlich, wenn er aus dem Kontext gerissen ist). Eine solche Kontextabhängigkeit ist typisch für gesprochene Sprache, besonders in informellen Gesprächssituationen.

http://www.kiezdeutsch.de/sprachlicheneuerungen.html

Ja, aber: Wenn jemand eine Sprache beherrscht, dann vereinfacht er sie oftmals auf eine bestimmte Weise, so dass sie kontextabhängig wird. Nur hält er dabei Maß. Er wird bestimmte Konstruktionen und Vereinfachungen tunlichst meiden. Vor allem solche, die eigentlich gar keine ökonomischen Verinfachungen sind, sondern einfach darauf beruhen, dass man die richtigen Worte nicht weiß. Bei denen ohne Zeit-Ersparnis spezifische Worte mit Informationsgerhalt durch dann nahezu bedeutungslose, unspezifische erstzt werden, weil man die Vokeblen nicht kennt.
Beispiel: Statt „Machst Du rote Ampel“ würde ein Muttersprachler vielleicht sagen: „Geh bei roter Ampel“ oder auch nur „Geh bei rot!“. Wenn aber bei diesem Beispiel das Verb „gehen“ dann durch „machen“ ersetzt wird („machst Du rote Ampel“ statt „geh bei roter Ampel“), dann wird der Informations- und Bedutungsgehalt ohne jegliche ökonomische Erspranis deutlich reduziert; diese Art von Semantik-feindlicher „Bleichung“ hat keinen höheren Sinn, sondern beruht schlichtweg darauf, dass manche Ausländer (verständlicherweise) das richtige Wort oder die richtige Wendung nicht kennen. (Deshalb findet man so etwas auch im normalen Deutsch nicht, auch nicht bei sprachfaulen Zeitgenossen.)

Oder statt „Mach ich Dich Messer“ würde ein Muttersprachler so etwas wie „Ich steche mit dem Messer zu“ oder auch nur „Ich steche zu“ oder „Ich stech Dich ab!“ sagen.

Es geht bei „Kiez-Bleichungen“ auch nicht primär um zeitliche Einsparung, sondern wirklich um den Mangel an korrekten Ausdrücken. „Sind wir anderes Thema“ beispielsweise beruht nicht darauf, das jemand Zeit einsparen will, sondern dass er schlecht Deutsch spricht und daher nicht weiß, dass es je nach Fall „Wir sind bei 'nem ander’n Thema“ oder „Neues Thema!“ heissen sollte. (Wobei das hinsichtlich des semantischen Verlustes noch das harmloseste Beispiel ist.)

Was Frau Wiese offenbar nicht wahrhaben will: Man kann eben sehrwohl zwischen Bleichungen, Vereinfachungen und Verkürzungen unterscheiden, die sprachlich passen, und solchen, die stilistisch und semantisch einfach schlecht und verunglückt sind, sinnloserweise Bedeutungsgehalt dramatisch reduzieren und nur von Leuten eingeführt werden, die es eben nicht besser können, weil sie die Sprache nicht richtig sprechen.

All das auszusprechen erscheint als unglaublich trivial, selbstverständlich, eigentlich überflüssig. Und doch erscheint es als nötig, wenn manche Linguisten (!!!) nicht mehr zwischen sinnvoller Vereinfachung und Innovation einerseits und erkennbar schlechtem Deutsch andererseits zu unterscheiden vermögen. Ich verstehe das einfach nicht. Das liegt doch nun wirklich so sehr auf der Hand; wieso muss man da noch darüber diskutieren, und wieso muss man Linguisten mit Professur über solche Selbstverständlichkeiten ihres Faches auch noch extra „belehren“?

Vor allem verstehe ich nicht, wieso du dann bei einem selber geposteten Beispiel, das sich für eine argumentative Auseinandersetzung gut eignet, deinen unverbindlich scheinenden Standpunkt plötzlich relativierst und deine „Kritik“ in einem kurzen Absatz abhakst, um dann wieder weitschweifig die von dir selbst in den Raum geworfene Frage zu klären, warum das Hochdeutsch dem Kiezdeutsch überlegen ist, und dein Post mit dem immer gleichen Resümee zu beenden.

Falls ich Deine Frage richtig verstehe, die sich wohl dann auch auf des Absatz über die Satzstellung bezieht, ist meine Antwort dies:

Meine Hauptkriitik am Kiezdeutschen ist nicht so sehr, dass es grammatische Strukturen zulässt, die im Deutschen ungeschliffen und sprachfremd klingen, obwohl das durchaus auch eine Kritik ist. (Denn prinzipiell sind solche Strukturen arbiträr und besitzen alle jew. Vor- und Nachteile.) Problematischer ist aber, dass im Kiezdeutschen eine ziemliche Willkür zu herrschen scheint, dass offenbar so ziemlich alles geht, auch beispielsweise was das Genus angeht, aber auch in anderer Hinsicht.

Ein Beispiel stellvertretend:

Kiezdeutsch geht auch hier noch weiter als das Standarddeutsche. Es entfallen z.T. auch solche Schwa-Laute, die nicht vor einem Nasal stehen, so dass z.B. meine zu mein werden kann:

Das ist mein Hose.
Also mein Schule ist schon längst fertig.
Man sieht es später halt, wenn man kein Arbeit hat.

Damit unterscheidet sich das Kiezdeutsch auch von anderen Dialekten und verweist auf seinen Ursprung als jene Sprache, die von denen gesprochen wurde, die die Regeln des Deutschen nicht kennen.

Zudem werden so oft die Regeln des Deutschen verletzt, dass es schon fast eine andere Sprache ist. Dies ist aber nur ein Kritikpunkt. Ein weiterer ist etwa, dass die Sprache sehr simpel ist, also kaum eine gehobenes, differenziertes und anspruchsvolles Gespräch unterstützen könnte. Oder anders gesagt: Dieser Jargon ist primitiv. (Das gilt so nicht für Dialekte.)

Hinzu kommen solche Konstruktionen wie das berüchtige „Mach ich Dich Messer“. Die Sprache ist semantisch oft unterbestimmt, inhaltlich arm, stilistisch schlecht und in ihrem Sinn unnöig häufig nur aus dem Kontext rekonstruierbar. Das ist kein Kennzeichen „guter“ Sprache. (Siehe oben.)

Ich anerkenne dennoch, dass der Slang seinen Sinn als Gebrauchssprache haben mag. Allerdings ist er mir auch nicht wirklich sympatisch. Das liegt nicht so sehr an dem „Yallah“ oder verwandten Wendungen, sondern an den schlechten Ausdrücken, den fehlerhaften Artikeln und Präpoistionen, der Regellosigkeit usw. Kiezdeutsch ist nicht nur eine Jugendsprache, sondern unterscheidet sich so sehr vom Hochdeutschen, dass derjenige, der nur so aufwächst, sicherlich erhebliche Probleme haben wird.

Vielleicht entwickelt sich das Kiezdeutsche ja mal so weiter, dass semantisch und stilistisch verfehlte und aus Sicht des „Standard-Deutschen“ grundfalsche Ausdrücke wegfallen, und so, dass man sich darin differenziert ausdrücken kann. Dann bin ich gerne bereit, es als neune Dialekt neben anderen anzuerkennen.

@Enio

Ich fasse mal zusammen:

Du findest es problematisch, wenn dieses Kiezdeutsch als Dialekt „geadelt“ wird, weil es eine aus der Not von sprachschwachen Einwanderern entstandene, verhältnismäßig nutzlose Behelfssprache ist, deren wohlmeinende, aber illusionäre Wertschätzung in jeglicher Form ein falsches Signal in Bezug auf die Integrationsproblematik setzen und vor allem den betroffenen „Außengeländern“ einen Bärendienst erweisen würde.
Da für dich die Existenzberechtigung dieses Ausländerslangs in einer „Brückenfunktion“ auf dem Weg zum Standarddeutsch begründet ist, empfändest du es als „gewaltsames niederbüglen“ der natürlichen Sprachentwicklung und des allgemeinen Sprachempfindens, wenn dieses „Provisorium“ von seiten der Sprachwissenschaft, bzw. von diesem Forschungsprojekt gegenüber dem Hochdeutschen und den etablierten Dialekten künstlich bestärkt wird.
Außerdem glaubst du die Ergebnisse und Erkenntnisse aus der Forschungsarbeit seien schöngefärbt auf Grund einer krampfhaft politisch korrekten Haltung.

Zum Punkt:

  • Kiezdeutsch kein Dialekt

Das behauptest du anscheinend anhand deines Laienwissens. Oder gibt es Quellen?
Prof. Wiese äußert sich jedenfalls wie folgt:

WELT ONLINE: Kiezdeutsch ist ein Dialekt?

Wiese: Ja, in einem modernen Sinne. Früher hat man nach Regionen unterschieden, heute wird der Dialektbegriff in der internationalen Sprachforschung oft allgemeiner verstanden. Kiezdeutsch wird überall in urbanen Räumen gesprochen. Sogar in Regensburg. Es muss sich nicht einmal um eine riesige Großstadt handeln. Hinzu kommt, dass der Dialekt immer in multiethnischen Gebieten gedeiht, wo Jugendliche unterschiedlicher Herkunft, deutscher ebenso wie anderer Herkunft aufeinandertreffen. Ein mehrsprachiges Umfeld also.

Auch Mr. Morizon, der offensichtlich über Fachkenntnisse verfügt, hat wiederholt und anhand von Beispielen darauf hingewiesen, dass es sich beim Kiezdeutsch erkennbarerweise um einen Soziolekt, bzw. also einen Dialekt handelt.

Warum Prof. Wiese nicht Soziolekt statt Dialekt sagt, bleibt fragwürdig. Würde doch die unbedeutend klingendere Bezeichnung „Soziolekt“ weniger provokant rüberkommen.

Nehmen wir mal an, es gäbe einen USER „Ahmet Gündüz“, der die gleiche Meinung wie du vertritt und folgendes gepostet hätte:

„Diese Frau Wiese keine Ahnung! Kanack Sprack sein gutes Deutsch - am Arsch! ICH immer große Problem, ich machen Doktor - oder Arbeitsamt. Immer muss sagen Sohn: Komm mit. Ohne Sohn gehn nix. Diese Professor Frau nett sein wollen. Aber das is nich gut. Das is nich gut. Müsse reden deutsche Sprache gut, brauchen immer. Brauchen immer deutsche Sprache.
Bei Arbeit immer Kollegas sagen: Ahmet, Lerne erstma Deutsch, Lerne erstma Deutsch, Ich verstehen nich, Ahmet! Und haben Recht kollegas. Hier ich bin gekommen, musse lernen. Musse Kollega mich versteh.
Aber Türken faul. Lernen so machen und kommen und gehen, arschloch, scheiße, Feierabend und sagen genug. Genug. Schluß. Lernen nix mehr. Aber isse nix genug. Nix genug Arbeit, nix genug Zeitung, nix genug reden mit deutsche kollegas. Türken reden mit Türken. Lerne nix neu.
Professor Frau keine Ahnung. Sagen nich gut. Sein nich gut für Türken und sein nich gut für Deutsche. Jetzt Deutsche noch mehr sagen: Scheiße Türke kein deutsch reden.“

Das wäre verhältnismäßig das Gleiche, was du in vier ellenlangen Posts gesagt hast, und auch viel effizienter, im Hinblick auf Umfang und Ökonomie.
Übrigens AHMET GÜNDÜZ gibt es wirklich. Er landete Anfang der 90er mal einen Underground-Hit mit diesem Hip-Hop-Song:

http://www.youtube.com/watch?v=E00uKrH1vtY

Kiezdeutsch ist Dialekt- so wie andere Dialekte auch, die auf Dörfern gesprochen wird. Kiezdeutsch orientiert sich stark am Deutschen und lässt gelegentlich andere Wörter mit einfließen- genauso wie Wörter wie Handy, stylisch oder abgefuckt. Sprache lebt von ihrer Weiterentwicklung, zu der Kitzdeutsch eindeutig gehört.

Natürlich bin ich kein Sprachwissenschaftler, aber ich finde es anmaßend, Kietzdeutsch als Unterschichtensprache ab zu tun.

Bei usn gibbet Wörter wie “Bemme” “Mutschekiepchen”- das finde ich viel irritierender als “Ey ich bin [in] Pause” oder so

@ Mannbärschwein:

Da für dich die Existenzberechtigung dieses Ausländerslangs in einer „Brückenfunktion“ auf dem Weg zum Standarddeutsch begründet ist, empfändest du es als „gewaltsames niederbüglen“ der natürlichen Sprachentwicklung und des allgemeinen Sprachempfindens, wenn dieses „Provisorium“ von seiten der Sprachwissenschaft, bzw. von diesem Forschungsprojekt gegenüber dem Hochdeutschen und den etablierten Dialekten künstlich bestärkt wird.

Das trifft es meiner Meinung nach ziemlich exakt.

Zum Punkt:

  • Kiezdeutsch kein Dialekt

Das behauptest du anscheinend anhand deines Laienwissens. Oder gibt es Quellen?

Ich merke bereits seit mind. letzten Beitrag von Dir, dass Du mir indirekt die sachliche Befähigung absprichst, eine andere, aber inhaltlich begründete Meinung als Frau Prof. Wiese zu haben. Ja, ich bin ein Laie. Das heißt, dass ich mir mein Urteil vorsichtig überlege, aber nicht, dass ich mich immer jeden Urteils enthalte. Denn manchmal ist es auch begründet und kompetent.

Auch als Laie kann ich sehen, um einen konkreten Fall zu nennen, dass beispielsweise der Ausdruck „Pfötchen geben“ semantisch in seinem Verb NICHT gebleicht ist, während dies bei „Messer machen“ sehrwohl der Fall ist, auch wenn Frau Wiese den Eindruck erweckt, dass diese Fälle parallel verlaufen (siehe meinen lertzten Beitrag).

Dabei interessiert es mich übrigens auch nicht im Allermindesten, ob Frau Wiese promovierte und habilitierte Professorin ist. Mich interessieren die Argumente. Und meine Argumente (die natürlich bereits von anderen ins Feld geführt wurden) sind in diesem Fall besser als die von Frau Wiese, und alles andere ist irrelevant.
Auch als Nicht-Linguist ist es möglich, einiige Fragen zu beurteilen und sich eine begründete Meinung dazu zu bilden.
Und Frau Wieses Thesen und Argumente sind m.E. in diesem wie in anderen Punkten schwach, und das begründe und konkretisiere ich auch, dazu unten mehr.

Aber zur Frage des Dialekts sage ich dies: Es kommt ganz auf die Definition von „Dialekt“ an. Und warum Kiezdeutsch sichjedenfalls von den üblichen Dialekten grundlegend unterscheidet und m.E. nicht die Anforderungen erfüllt, die man üblicherweise an Dialekte stellt, habe ich ausführlich dargelegt. Wenn man dennoch von einem Dialekt sprechen will, kann man das natürlich tun, aber dann wird leicht etwas Falsches mitsuggeriert.

WELT ONLINE: Kiezdeutsch ist ein Dialekt?

Wiese: Ja, in einem modernen Sinne. Früher hat man nach Regionen unterschieden, heute wird der Dialektbegriff in der internationalen Sprachforschung oft allgemeiner verstanden. Kiezdeutsch wird überall in urbanen Räumen gesprochen. Sogar in Regensburg. Es muss sich nicht einmal um eine riesige Großstadt handeln. Hinzu kommt, dass der Dialekt immer in multiethnischen Gebieten gedeiht, wo Jugendliche unterschiedlicher Herkunft, deutscher ebenso wie anderer Herkunft aufeinandertreffen. Ein mehrsprachiges Umfeld also.

Ja, weil dort eine möglichst einfache und regellose Sprache gefunden werden muss, damit man sich versteht. Wenn ich mit einem Ausländer mit schlechten Deutschkenntnissen spreche, dann spreche ich manchmal auch ähnlich ein stark simplifiziertes, einfaches Deutsch, um mich verständlich zu machen.

Aber Frau Wiese geht es darum, dass allein die Tatsache, dass Kiezdeutsch nicht regional gebunden ist, noch nicht ausschließen soll, dass es sich um einen Dialekt handelt; wo Dialekte doch typischerweise regional gebunden sind. Das schenke ich ihr von mir aus. Aber meine Argumente gegen das Kiezdeutsche als Dialekt haben ja eine ganz andere Stoßrichtung, so dass Wieses Darlegung meine Kiritk gar nicht erst tangiert.

Nehmen wir mal an, es gäbe einen USER „Ahmet Gündüz“, der die gleiche Meinung wie du vertritt und folgendes gepostet hätte:

Das wäre verhältnismäßig das Gleiche, was du in vier ellenlangen Posts gesagt hast, und auch viel effizienter, im Hinblick auf Umfang und Ökonomie.

Natürlich kann man Ahmet Gündüz verstehen. Man kann sich ja mit dem Kiezdeutsch durchaus einigermaßen verständlich machen. Das gilt ja oftmals, wenn jemand eine Sprache schlecht spricht. Man kann sie irgendwie verstehen, und notfalls kann der Betroffene sich mit Händen und Füßen verständlich machen.Das bestreite ich ja auch gar nicht.

Ähnlich könnte Frau Wiese ihre Thesen auch so formulieren: „Ist Kiezdeutsch nix schlecht. Ist Kiezdeutsch neue Erfindung und gut, wie andere Dialekte.“
Aber wäre das dann noch eine wissenschaftliche These, und würde man das ersnt nehmen? Und wie sollte Frau Wiese ihre Analyse und Argumentation auf diese Weise vernünftig führen können?

Etwas „irgendwie“ grob zusammenzufassen ist nicht dasselbe wie es gut, klar und detailliert auszudrücken und zu begründen!
Eine differenzierte Diskussion führen, sich nunaciert ausdrücken, komplexe Positionen treffsicher formulieren, all das kann man mit Kiezdeutsch kaum.

Was ich beispielsweise geschrieben habe, ist auch nicht dasselbe, was Du in der Rolle von Ahmed Gündüz sagst, sondern eine ungefähre Zusammenfassung. Ich sage ja nicht nur: „Ist Kiezdeutsch schlechtes Deutsch, hat Frau Wiese nicht recht, auch wenn sie nett meint, muss ma Deutsch lernen.“ Ich formuliere eine viel differenziertere und detailliertere Kritik, begründe sie auch ausführlich, führe Beispiel an, verweise etwa auf den unnötigen Bedeutungsverlust durch fragwürdige semantische Bleichungen usw.

Also: Wenn es nur darum geht, etwas ganz ungefähr und grob zu sagen, dann mag Kiezdeutsch reichen. Wenn man aber eine sorgfältige Analyse und Argumentation durchführen, diskursiv debattieren möchte, dann reicht es nicht. (Und somit widerspricht Deine Anmerkung auch nicht meiner These.)

Aber nochmals zur Schwäche von Frau WIeses These an anderen Beispielen, auch um der Kritik entgegenzuwirken, dass ich mich nur auf Sekundärliteratur im Sinne von Artikeln über Frau Wiese stütze:

Wiese:

Wir finden in Kiezdeutsch grundsätzlich nicht bloß sprachliche Vereinfachung, sondern auch eine produktive und innovative Erweiterung des Standarddeutschen: Kiezdeutsch nutzt die Möglichkeiten, die das Deutsche im Bereich von Grammatik und Wortschatz bietet, und baut sie aus.

http://www.kiezdeutsch.de/sprachlicheneuerungen.html

Beispiel:

Die Partikel so hat im Deutschen viele Funktionen.[…] In Kiezdeutsch bildet sich darüber hinaus bei der Verwendung von so ein weiteres Muster heraus, bei dem der übliche Bedeutungsbeitrag von so entfällt. In den folgenden Beispielen gibt so keinen Vergleich o.ä. an, sondern ist bedeutungsleer, d.h. die Sätze hätten ohne so genau denselben Inhalt wie mit so [Die fettgedruckten Teile sind die, die besonders betont wurden].

Er ist Engländer und er feiert mit uns. Er hat so Türkeitrikot und Türkeifahne um sich.
Die hübschesten Fraun kommn von den Schweden. Also ich mien so blond so.
Da gibts so Club…für Jugendliche so.

Stattdessen erhält so in diesen Fällen eine neue Funktion für die Organisation des Satzes: so steht jeweils vor dem Teil des Satzes, der die wichtige, besonders hervorzuhebende Information liefert (der sogenannte „Fokus“ des Satzes). Neben der Markierung mit so trägt der Fokusausdruck eines Satzes auch die stärkste Betonung; auf ihm liegt der Hauptakzent. Wie in den Beispielen zu sehen, kann so sowohl vor als auch hinter dem Fokusausdruck stehen, und es kann diesen auch wie eine Klammer einschließen.

Hier entwickelt sich mit so also eine Option der Fokusmarkierung, nämlich die Verwendung eines speziellen Wortes, so, das keine eigene Bedeutung trägt, sondern dazu dient, die Position des Fokusausdrucks im Satz anzuzeigen.

Ich hab eine ganz andere Theorie: Es fehlen dem Sprecher die richtigen Artikel und Präpositionen. Deswegen verkommt „so“ zu einem Universal-Artikel.

„Er hat so Türkeitrikot und Türkeifahne um sich.“

Hier ist eine Fokussierung offenbar überhaupt nicht nötig oder sinnvoll. (Und ich reiße hier nichts aus dem Zusammenhang, sondern der Satz wird so dargeboten!) Gemeint ist offenbaar: „Er hat so ein Türkentrikot und so 'ne Türkenfahne um sich.“
Da dem Sprecher aber den richtigen Artikel nicht kennt, begnügt er sich mit „so“. Er will offensichtlich nicht „Türkentrikot“ hervorheben - wieso sollte er -, sondern er kann es nicht besser formulieren. Das ist natürlich nicht die einzige Bedeutung von „so“ im Kiezdeutschen; aber auch von dem, wie man die Sprecher dieses Slangs so reden hört, meine ich, dass meine Interpretation absolut plausibel ist. (Wenn man mir in deisem Punkt nicht zustimmt, ändert es wenig an meiner Gesamt-Kritik.) Und genau wegen dieser fehlenden Kenntnis von Artikeln und Propositionen werden die manchmal auch einfach ganz weggelassen:

Lassma Moritzplatz aussteigen! (Vorschlag, gemeinsam am Moritzplatz aus dem Bus zu steigen)
Musstu Doppelstunde fahren! (Vorschlag an den Hörer, in der Fahrschule eine Doppelstunde zu fahren)

Hier werden Präpositionen und Artikel völlig weggelassen. Wie häufig auch Orts- und Zeitangaben:

In Kiezdeutsch findet man häufig Orts- und Zeitangaben, die aus bloßen Nominalgruppen bestehen, ohne Artikel und/oder Präposition. Die Auslassung ist durch Ø markiert :

Um sieben Uhr steh ich auf, geh Ø Schule.
Wo ich Ø Grundschule war…
Nachher Ø acht Uhr ich hab Dienst.

Ähnliche Wendungen findet man in bestimmten Kontexten auch in der gesprochenen Sprache außerhalb von Kiezdeutsch. Regelmäßig treten sie bei der Bezeichnung von Haltestellen öffentlicher Verkehrsmittel auf. Hier einige Beispiele aus Antworten, die wir bekommen haben, als wir in Berlin nach dem Weg gefragt haben:

Da müssen Sie Ø Jakob-Kaiser-Platz umsteigen.
Dann steigen Sie Ø Mollstraße aus.
Da musst du bis Ø U-Bahnhof Hermannplatz fahren und dann bis Ø Mehringdamm.

Hier finden wir also wieder eine Neuerung in Kiezdeutsch, die entsteht, indem Möglichkeiten, die das Deutsche sowieso schon bietet, noch weiter ausgebaut werden: Kiezdeutsch ist eine neue Varietät des Deutschen, die – wie alle neuen Varietäten - die grammatischen Möglichkeiten unserer Sprache weiterentwickelt.

Da gibt es nur einen kleinen Unterschied: Im Deutschen werden in einigen Ausnhmefällen Artikel und Präpositionen weggelassen. Im Kiezdeutscehn hingegen werden si e oftmals überall weggelassen oder falsch gesetzt, und zwar aufgrund ders mangelnden Sprachverständnisses. Was in kleinen Dosen gut sein mag, führt oftmals, wenn es extrem ausgeweitet wird, zu einer Destrukturierung und Verarmung von Sprache.

Die Flexion in Kiezdeutsch entspricht nicht immer der im Standarddeutschen, z.T. fallen Flexionsendungen auch völlig weg. Das betrifft vor allem Endungen mit dem so genannten Schwa-Laut (phonetisch: [?], gemurmeltes „e“) und Nasalen (n oder m). Auch im gesprochenen Standarddeutsch sind diese Endungen oft verkürzt: einen wird zu einn oder ein, einem zu eim, geben zu gebm etc. (siehe z.B. Schwitalla 1997; Zifonun et al. 1997).

Hier einige Beispiele aus Kiezdeutsch:

... auf kein Fall ...
... die Wärme aus mein Land.
Wir kenn uns schon vom Fitness.
Die deutschen Fußballer, die gewinn immer in der allerletzten Minute.

Kiezdeutsch geht auch hier noch weiter als das Standarddeutsche. Es entfallen z.T. auch solche Schwa-Laute, die nicht vor einem Nasal stehen, so dass z.B. meine zu mein werden kann:

Das ist mein Hose.
Also mein Schule ist schon längst fertig.
Man sieht es später halt, wenn man kein Arbeit hat.

Da die Flexionsendungen keine eigentliche Bedeutung beisteuern, sondern in erster Lienie grammatische Information transportieren, bleibt der Satz trotzdem verständlich (ähnlich wie z.B. im Englischen, wo - verglichen mit dem Deutschen - eine Entwicklung hin zu einem reduzierteren Flexionssystem stattgefunden hat).

Diese Fälle sind aber überhaupt nicht vergleichbar. Im regulären Deutschen heißt es nicht: „Auf kein Fall“, sondern „auf keinen Fall“ oder vielleicht gesprochen auf „kein’n Fall“, aber man hört den Unterschied doch praktisch immer deutlich. Und so auch bei den anderen Beispielen. Sagt man hingegen „mein Hose“, „mein Schule“, „kein Arbeit“, dann ist das keine Verieinfachung der Flexion, sondern ihr Wegfallen. Und das ist dann nicht nur eine ökonomische Verinfachung, sondern eine Änderung des grammatischen Genus. Aus feminin wird maskulin. Und da ja auch im Kiezdeutschen weiterhin zusätzlich die weiblichen Formen bestehen, bedeutet das, dass nun Worte verschiedene Genera gleichzeituig besitzen. Damit macht das Genus aber überhaupt keinen Sinn mehr.

Frau Wiese verwechselt hier zwei grundlegend verschiedene Dinge: Deutsche „verschleifen“ manche Endungen, ohne dass dies zu einem Verlust oder einer Änderung der Genera oder anderer wesentlicher Unterscheidungsmerkmale des Wortes führt. Die Schöpfer des Kiezdeutschen hingegen kennen einfach nicht das richtige Genus. Aus diesem Grund benutzen sie oftmals die falschen Artikel, oder sie lassen Artikel und Präpsoitionen einfach gleich ganz weg. Deswegen herrscht hier praktisch Beliebigkeit: Man benutzt die richtigen Artikel, oder falschen, oder gar keine, oder manchmal auch nur ein „so“.

An anderer Stelle finden wir in Kiezdeutsch mehr Flexionsmarkierungen als im Standarddeutschen: Bei Vergleichen mit als und wie finden wir z.T. flektierte Formen von Pronomen, wo man sie im Standarddeutschen nicht erwarten würde:

Früher war er so wie uns.
Wir gehen zu den älteren Leuten, die älter als uns sind.
Ja, die sind so wie uns.

Durch diese Kasusmarkierung wird das System der Präpositionen in Kiezdeutsch regelmäßiger als im Standarddeutschen: Die Präpositionen als und wie sind hier keine Ausnahmen mehr, sondern weisen einen Kasus zu, wie alle anderen Präpositionen auch. Kiezdeutsch ist hier also grammatisch systematischer als das Standarddeutsche.

Es ist doch schon bemerkenswert: Da kennen manche Leute aufgrund ihrer mangelnden Deutschkenntnisse nicht die richtige Deklination von „wir“ (so verständlich das sein mag). Und das wertet Wiese nun positiv. Das wäre ungefähr so, als würden manche Leute kein gutes Englisch sprechen, und daher bestimmte allgemein akzeptierte Regeln ständig verletzen, das aber nicht als Zeichen mangelnder Englisch-Kenntnisse, sondern als Fortschritt werten würden.
Aber wo liegt der Fortschritt? Vielleicht stehe ich auf der Leitung, das schließe ich nicht aus, aber wieso soll das „wir“, das den Nominativ vertritt, hier weniger angemessen sein als ein „uns“, das für Dativ und Akkusativ steht? Bei Ausdrücken mit „wie“ und „als“ steht doch immer Nominativ, oder? Wieso sollte hier eine Ausnahme vorliegen? Von welcher Regel denn? Und was ist an der Kiezdeutschen Sprachweise regelmäßiger oder logischer? (Vielleicht täusche ich mich auch, aber Frau Wise führt hier auch nicht ihre Behauptung weiter aus.)

Noch wichtiger: Ziemlich sicher wird man doch wohl auch im Kiezdeutschen „die sind so wie wir“ sagen dürfen, ohne dass das dort als „falsch“ gilt. Demnach hätten wir wieder die Beliebigkeit: Man weiß nicht, wie die richtige Flexion geht, und deshalb werden alle Flexionen zugelassen. Ich gebe zu, dass ich mir hier nicht zu 100% sicher bin, aber es ist doch sehr anzunehen.

Artikel und Pronomen entfallen mitunter; vor allem dort, wo der Satz trotzdem verständlich bleibt. Die Auslassung ist durch Ø markiert :

Ich sag: ’Hast du Ø Handy bei?’
Er hat schon Ø eigene Wohnung.
Ich mache Ø Ausbildung als Fachlagerist“
[ähnlich auch im Standarddeutschen: Ich mache Abitur!)

Auch diese Entwicklung ist im Standarddeutschen angelegt: Pronomen und Artikel werden in der gesprochenen Sprache oft verkürzt (aus machst du wird machste, aus ein Handy wird n Handy) und können z.B. am Satzanfang als Topikangabe entfallen (Kommt Anja auch zur Party? – Weiß nicht.).

Im Standarddeutschen werden Artikel außerdem häufig auf Hinweisschildern (Tür öffnet selbsttätig!) oder bei Überschriften in Zeitungen (Kunstsammlung eröffnet) weggelassen. Dieser telegrammartige Stil wird dort aus Gründen der Sprachökonomie verwendet und dient der schnelleren Informationsverarbeitung für den Leser (siehe z.B. Dürscheid 2003).

Genau! Aus Gründen der Sprachökonomie! Und in manchen Fällen! Im Kiezdeutschen scheint hingegen hat das mit Sprachökonomie nichts zu tun, sondern liegt daran, dass man nicht weiß, welche Artikel und Pronomen jeweils richtig sind. Und deswegen können sie im Kiezdeutschen offenbar überall und immer weggelassen, oder auch durch falsche Artikel ersetzt werden (s.o.).

Es ist sicher sinnvoll, wenn eine Sprache Ausnahmen von der Regel zulässt. Wenn sie hingegen praktisch alle Regeln aufgibt, dann ist das nicht mehr sinnvoll, sondern zerstört die Sprache und ist ein Indiz dafür, dass der Sprecher die Regeln nicht beherrscht. Diesen wesentlichen Unterschied ignoriert Wiese andauernd.

In sogenannten „generischen“ Kontexten, in denen etwas Generelles bezeichnet wird (siehe z.B. Wiegand 2000; Nübling 1992), werden im Standarddeutschen die Artikel typischerweise mit der Präposition verschmolzen („im Schwimmbad“ statt „in dem Schwimmbad“). In Kiezdeutsch wird hier häufig die Präposition allein verwendet, der Artikel entfällt ganz:

Zum Beispiel wenn wir in Unterricht sind.
Ich kenn ihn von Fitness. 

Ja, nur ist „in Unterricht sein“ nicht die log. Fortentwicklung von „im Unterricht sein“. Im einen Fall handelt es sich um eine Verinfachung, bei der der Artikel (in komprimierter Form) mit seinen Informationen erhalten bleibt; im anderen Fall wird der Artikel ersatzlos gestrichen. Im einen Fall ist die sprachliche Ökonomie ausschlaggebend, im anderen die Unkenntnis der richtigen Regel.

Ein Verb, das in Kiezdeutsch z.T. wegfällt, ist das Verb sein in seinem Gebrauch in Sätzen wie Sie ist eine Lehrerin., Der Zug ist noch in Köln. etc. In diesen Sätzen liefert das Verb keinen vollen Bedeutungsbeitrag (etwa im Sinne von „existieren“), sondern dient in erster Linie dazu, das Prädikat zu bilden (siehe z.B. Eisenberg 2006; Maienborn 2003; Steinitz 1999).Kiezdeutsch kommt in solchen Fällen dann oft ohne Verb aus:

Was Ø denn los hier?
Ja, ich Ø aus Wedding.

Sätze ohne Kopulaverb, auch Nominalsätze genannt, sind auch aus anderen Sprachen bekannt, z.B. aus dem Russischen (siehe z.B. Müller-Ott 1982) und dem Arabischen (siehe z.B. Haywood & Nahmad 1962).

Gewiß! Aber was folgt daraus? Dass alle sprachlichen Unterschiede verlorengehen sollen? Dass man sich in jedem einzelnen Aspekt des Deutschen jeweils an jener Sprache orientieren soll, die in jeweils genau diesem Aspekt die einfachste ist? Wenn man so argumentiert, dann kann man wirklich alles im Deutschen zulassen mit dem Argument, dass es auf der Welt irgendeine Sprache gibt, wo genau das geht.

Die Argumentation von Frau Wiese hinsichtlich des Kiez-Deutschen liegt auf der Hand. Sie geht etwa so: Das, was es im Kiezdeutschen gibt, das gibt es auch bereits im Deutschen, oder in anderen Sprachen.

Das ist teilweise richtig: Manche Vereinfachungen gibt es im Ansatz und einigen Fällen bereits im Deutschen. Frau Wiese scheint nun so zu denken: Wenn eine Vereinfachung in einigen Fällen im Deutschen vorkommt (beispielsweise Wegfall des Artikels), dann kann man die Vereinfachung ruhig auch ganz radikal durchziehen und gleich überall alle Artikel weglassen. Und genau das halte ich für eine äußerst schwache Argumentation. Was in einer gewissen Dosis unproblematisch sein mag, führt in extremen mengen zu einer Verminderung von Diversität und Struktur einer Sprache.

Wieses Behauptung ist aber teilweise auch schlichtweg falsch, wie ich in diesem und dem letzten Beitrag aufgezeigt habe, denn manchmal sind die Unterschiede zwischen Vereinfachungen im Deutschen und im Kiez-Slang grundlegend. Frau Wiese übersieht solche wesentlichen Differenzen mehrfach geflissentlich und ebnet sie dadurch ein: Beispielsweise, wenn sie „Pfote geben“ und „Messer machen“ in dieselbe Kategorie verbal gebleichter Ausdrücke einordnet, oder wenn sie „wir kenn’n uns vom Fitness“ und „das ist mein Schule“ als vergleichbare Änderungen der Flexion darstellt. Hier ist offenbar der Wunsch Vater des Gedankens, denn eine derart krude Argumentation würde einem Linguisten sonst wohl (hoffentlich) niemals unterkommen.

Zudem stellt Frau Wiese die völlige Beliebigkeit und permanente Verletzung wichtiger grammatischer Regeln als Fortschritt, als Erweiterung, als Innovation dar. Selbst das, was eine Sprache extrem simplifiziert, was ihr Eleganz und inhaltliche Ausdrucksmöglichkeiten raubt, ihre Differenzierungsmöglichkeiten vermindert, ihre Struktur auflöst, das ist für Frau Wiese eine sinnvolle Neuentwicklung und Bereicherung der Sprache. Wann immer irgendwo falsches Deutsch entsteht, findet Frau Wiese entweder im Deutschen einen Vorgänger, oder sie konstruiert ihn einfach, oder sie findet ihn notfalls im Russischen oder Arabischen - und damit meint sie, die Legitimität und Güte von schlichtweg jedem noch so fragwürdigen Sprachgebrauch, der ganz offensichtlich auf mangelder Sprachkompetenz beruht, begründen zu können.

Jede Regelverletzung, die aus mangelnder Sprachkompetenz herrührt, ist für Frau Wiese eine interessante Flexibilisierung und Innovation, oder wie sie es sagt: „Kiezdeutsch nutzt die Möglichkeiten, die das Deutsche im Bereich von Grammatik und Wortschatz bietet, und baut sie aus.“

Der Kernpunkt ist der, den ich bereits im letzten Beitrag erwähnt habe: Es gibt vernünftige Anpassungen der Sprache, die gut passen und dem Sprachgefühl entsprechen, und es gibt schlechtes Deutsch, das sich durch semantisch-inhaltlich arme und stilsitisch schlechte Ausdrücke, Übersimplifizierungen und Beliebigkeit auszeichnet. Und diesen Unterschied wahrzunehmen, weigert sich Frau Wiese konsequent.

Zusammen mit meinem letzten Beitrag habe ich nun in der Sache und anhand eines Original-Textes Frau Wiese in einer Reihe von Punkten kritisiert, und was inhaltlich von den Argumenten zu halten ist, mag jeder selbst beurteilen.

@ izzy-bizzy:

Kiezdeutsch ist Dialekt- so wie andere Dialekte auch, die auf Dörfern gesprochen wird. Kiezdeutsch orientiert sich stark am Deutschen und lässt gelegentlich andere Wörter mit einfließen- genauso wie Wörter wie Handy, stylisch oder abgefuckt. Sprache lebt von ihrer Weiterentwicklung, zu der Kitzdeutsch eindeutig gehört.
Natürlich bin ich kein Sprachwissenschaftler, aber ich finde es anmaßend, Kietzdeutsch als Unterschichtensprache ab zu tun.

Du kannst natürlich Deine Meinung haben und sagen, das ist Dein gutes Recht. Aber wenn Du nicht inhaltlich argumentierst und auf inhaltliche Argumente eingehst, ist Dein Beitrag dann eben nur eine Meinungsäußerung.

Du kannst natürlich Deine Meinung haben und sagen, das ist Dein gutes Recht. Aber wenn Du nicht inhaltlich argumentierst und auf inhaltliche Argumente eingehst, ist Dein Beitrag dann eben nur eine Meinungsäußerung.

Ich habe argumentiert, nur mal nebenbei. Guckst du…! :smt005

@ izzy-bizzy:

Ich habe argumentiert, nur mal nebenbei. Guckst du…! :smt005

Hab ich geguckt. :slight_smile:
Ich sehe es aber anders. Zwar schreibst Du:

Kiezdeutsch orientiert sich stark am Deutschen und lässt gelegentlich andere Wörter mit einfließen- genauso wie Wörter wie Handy, stylisch oder abgefuckt. Sprache lebt von ihrer Weiterentwicklung, zu der Kitzdeutsch eindeutig gehört.

Aber genau das wäre seinerseits zu belegen, damit es als gültiges Argument gelten kann. Ich meine, ausführlich belegt zu haben, dass Kiezdeutsch sich nur sehr ungenügend am Deutschen orientiert und letztlich im Wesentlichen keine „Weiterentwicklung“ darstellt - sondern einfach eine starke Übersimplifizierung, die sich vor allem durch den Verlust von Präzision, Gehalt und Regeln auseichnet (siehe etwa meinen letzten und vorletzen Beitrag).
Unter „Weiterentwicklung“ versteht man in der Regel, dass etwas Neues und Originelles hinzutritt. Frau Wiese versucht zwar genau das zu beweisen, aber wie schief ihre Argumentation ist, meine ich anhand einer Reihe von Beispielen in meinen letzten Beiträgen deutlich aufgewiesen zu haben. (Dass es vereinzelte sinnvolle Innovationen auch im Kiezdeutsch geben mag, bestreite ich natürlich nicht.)

@ Mannbärschwein:

Auch Mr. Morizon, der offensichtlich über Fachkenntnisse verfügt, hat wiederholt und anhand von Beispielen darauf hingewiesen, dass es sich beim Kiezdeutsch erkennbarerweise um einen Soziolekt, bzw. also einen Dialekt handelt.

Warum Prof. Wiese nicht Soziolekt statt Dialekt sagt, bleibt fragwürdig. Würde doch die unbedeutend klingendere Bezeichnung „Soziolekt“ weniger provokant rüberkommen.

Zumindest die wikipedia scheint Wiese in diesem Punkt zu bestärken:

Obwohl Soziolekte traditionell als Sonderfall von Dialekten aufgefasst wurden, geht man heute oft auch den umgekehrten Weg und rechnet die Dialekte zu den Soziolekten. Eigentlich aber sind Dialekte alle einer Sprache zugeordneten Varietäten, die man sowohl geographisch (horizontal) als auch nach sozialen Faktoren (vertikal) einordnen kann. Danach wären sowohl die Standardsprache als auch die Umgangssprache in einer bestimmten Ausformung Dialekte (im besonderen Soziolekte).

http://de.wikipedia.org/wiki/Soziolekt

Ich habe aber auch noch eine Vermutung, die zugegebenermaßen etwas spekulativ ist. Würde man Kiezdeutsch als Soziolekt bezeichnen, so würde es auch heißen: Ja, das ist die Sprache einer sozialen Gruppe, nämlich einer sozialen Unterschicht, die vorwiegend von Menschen mit Migrationshintergrund und geringen Deutschkenntnissen, geringer Bildung und schwachem ökonomischen Status gesprochen wird.
Genau solch eine „abwertende“, wenn auch wahre Feststellung scheint mir Wiese jedoch vermeiden zu wollen.

Dabei vertrete ich nach wie vor die These, dass das ein Eigentor wird. Sicher haben es viele Menschen mit Migrationshintergrund aus entsprechenden Vierteln schwer, selbst wenn sie noch so gutwillig und motiviert sein mögen. Es ist sicher gut, diesen Menschen Fairness und Respekt entgegenzubringen, anstatt negativen Klischees folgend alle als kriminell und integrationsunwillig abzustempeln. Und sicher ist es auch berechtigt, die Sprache deiser Leute zu analyiseren und hervorzuheben, dass sie eine positive Verständigungsfunktion bietet.

Wieses Thesen sind jedoch derart übertrieben und die Argumente derart schwach, dass das eigentlich nicht zu übersehen ist. Auch wenn man ihre Aussagen nicht systematisch analysiert und kritisiert, wie ich das zuletzt skizzenhaft gemacht haben, fällt einem die Unsinnigkeit vieler ihrer Behauptungen sofort auf.

Ich halte es für völlig ausgeschlossen, dass ein intelligenter Mensch, noch dazu ein Linguist oder gar Professor für Linguistik, je aus sachlichen Gründen zu solchen Behauptungen käme wie von Wiese vertreten. Daraus schließe ich, dass Wiese aus sozialem Interesse die Wissenschaft der Linguistik missbraucht, um unwissenschaftliche und sachlich unhaltbare Thesen zu untermauern, die eigentlich sozialpolitisch motiviert sind.

Ich vermute, dass die Reaktionen auf Wiese deswegen so negativ sind, weil viele genau denselben Schluss ziehen. So, wie viele empfindlich reagieren, wenn Ausländer abgewertet oder diskriminiert werden, so reagieren auch viele sensibel, wenn sie das Gefühl haben, dass ihre Sprache der Willkür und „Verhunzung“ preisgegeben wird, damit jemand auf dem Rücken der Sprache Politik treiben kann.

Und genau dieser Schuss muss zwangsläufig nach hinten los gehen: Diejenigen, die kein Problem mit Ausländern haben, werden natürlich auch nach Wieses unsinnigen Verlautbarungen weiterhin kein Problem haben. Diejenigen, die aber vielleicht ohnehin wenig Sympathie für Ausländer hegen, zugleich aber die deutsche Sprache durch „Kiez-Deutsch“ bedroht sehen, werden nun erst recht ärgerlich werden, da sie sich verdummt fühlen. Und das übrigens sogar vollkommen zurecht: Offenensichtlich schlechtes Deutsch soll auf Teufel komm raus als Fortschritt verkauft werden.

Eine rationale, wissenschatfliche Herangehensweise bei der Analyse des Kiez-Slangs wäre hier mehr. Weniger wäre hier mehr.

Ich werfe Wiese zudem vor, dass sie die Wissenschaft schwächt und missbraucht. Das tun viele, aber es ist nicht in Ordnung. Wissenschaftler müssen sich an Werten wie Wahrheit, Vernunft und Erkenntnis orientieren, sie müssen sich auf sachliche Argumente stützen. Wenn Wissenschaftler aus „ideologischen Gründen“ irgendwelche fragwürdigen Thesen unwissenschaftlich, aber unter dem Deckmantel der Wissenschaft, verkünden und mit unhaltbaren Argumenten zu begründen suchen, dann zerstören sie Wissenschaft. Der Außenstehende hat dann außerdem den Eindruck der Beliebigkeit, und dass die entsprechende Weissenschaft gar keine wirkliche Erkenntnis bringen kann, sondern dass nur verschiedenen (teils politisch motivierte) Meinungen vertreten werden. Dazu ist die Sprachwissenschaft aber zu schade.

Die sachfremde, ideologisch motivierte Beurteilung der Sprache scheint allerdings im Trend zu liegen, wie Wolfgang Krischke in der FAZ schreibt:

Ich geh Schule: In der Linguistik gibt es einen Exotismus der grammatischen Fehler. Die Erwartung, Regeln sollten eingehalten werden, wird als Diskriminierung von Unterschichten und Migranten betrachtet.[…]
Im Unterbau der deutschen Sprache knirscht es. Nicht nur im Umgangsdeutsch, sondern auch in formelleren Texten kommt die Grammatik immer stärker ins Rutschen. Da „bedarf es einem präzisen Regulierungsapparat“, man hat „Vertrauen für den Lehrer“, es gibt „Streit mit den Nachbar“, man „ratet ab“, Gebühren „werden erhebt“, und abends „gehn wir Disko“ - vertauschte Fälle, verbeugte Verben, falsche Präpositionen und andere Irrläufer scheinen ein Symptom für die langsame Erosion des gesamten Systems zu sein.[…]
Viele Einwanderer springen zwischen einem nur bruchstückhaft gelernten Deutsch und ihrer türkischen, arabischen oder russischen Muttersprache hin und her. Sie schleifen Endungen ab und vereinfachen Satzstrukturen. Entscheidend ist, dass die elementare Verständigung funktioniert, für Feinheiten bleibt wenig Raum. […]
Viele Linguisten urteilen nämlich durchaus, nur mit vertauschten Maßstäben: Neue Sprachtrends werden grundsätzlich begrüßt, ihr schöpferisches Potential oder ihr ökonomischer Minimalismus wortreich gelobt. Diese hegelianische Apologetik - Wie gesprochen wird, ist gut, sonst würde nicht so gesprochen - setzt allerdings aus, sobald es um die Hochsprache geht. Ihrer bedienen sich zwar auch die Linguisten - oft in der geschraubtesten akademischen Form -, aber das hindert sie nicht, den Verteidigern der Hochsprache vorzuwerfen, sie konservierten nur überflüssig komplizierte Regeln, um die bildungsfernen Schichten zu diskriminieren. Waren es in den siebziger Jahren noch „die Arbeiter“, denen man solche Barrieren aus dem Weg räumen wollte, so erstreckt sich die Fürsorge jetzt auch auf „die Immigranten“.[…]
In dieselbe Kerbe haut der Spracherwerbsforscher Raphael Berthele aus Fribourg: Auch für ihn sind solche hochsprachlichen Regeln überflüssiger „Luxus“ und Instrumente „symbolischer Gewalt“, mit der eine „Bildungselite“ die Ungebildeten und Zugewanderten unterjocht.

Allerdings, so fährt der Krischke fort, gibt es auch Sprachwissenschaftler, die anders denken. Und im Übrigen hat eigentlich auch das Hochdeutsche eine emanzipatorische Bedeutung:

Und vielleicht gäbe es in einer Deutschstunde auch einmal Gelegenheit, zu erklären, woher das Hochdeutsche in seiner heutigen Form eigentlich kommt. Viele seiner Grundlagen wurden im Zeitalter der Aufklärung gelegt, von Schriftstellern und Sprachgelehrten. Ihnen war durchaus klar, dass der Sinn standardisierender Normen nicht darin besteht, den Sprachwandel aufzuhalten, wohl aber darin, ihn zu verlangsamen und sinnvoll zu kanalisieren. Sie wollten mit ihren Grammatiken und Wörterbüchern die dialektale und orthographische Zersplitterung der frühen Neuzeit überwinden, die die überregionale Kommunikation erschwerte. Und sie wollten das Deutsche zu einem differenzierten und kultivierten Medium ausbauen, in dem auch über anspruchsvolle Themen der Wissenschaft, Kunst und Philosophie gedacht, gesprochen und geschrieben werden konnte. Zuvor war das denjenigen vorbehalten geblieben, die Latein und Französisch konnten. Nun sollten auch die „Unstudierten, der größte und edelste Theil eines Volkes“, wie Johann Christoph Gottsched sie nannte, eingeschlossen werden.
Das Projekt der Hochsprache war also durchaus emanzipatorisch, allerdings auch „bürgerlich“, denn es setzte eine Bildungsanstrengung voraus. Sie möglichst vielen - ob Immigranten oder Deutschstämmigen - zu ermöglichen und abzuverlangen könnte wohl auch heutzutage noch als fortschrittliche Bildungspolitik gelten.

http://m.faz.net/aktuell/feuilleton/gei … 44279.html

Was, wenn das Hochdeutsch immer mehr verschwindet, wie manche Linguisten das sehnlichst erhoffen? Wenn fast nur noch eine einfache Behelfssprache gesprochen wird, mit der man sich zwar grob verständigen, aber nicht anspruchsvoll und subtil ausdrücken kann?

Nun, das wird natürlich zu einer starken Zunahme von Unterschieden zwischen Schichten führen:

Denn natürlich werden die „Oberschichten“ weiterhin eine ausdrucksreiche und differenzierte Sprache pflegen.
Anders geht es gar nicht, es sei denn wir wollen beispielsweise auf Wissenschaft, Kultur, komplexe Technik und hochorganisierte Verwaltung (wie sie ein großer Statt braucht) verzichten. Hochsprache ist für eine komplexe und kultivierte Gesellschaft unverzichtbar. Linguisten und andere Wissenschaftler werden auch weiterhin in anspruchsvollem Hochdeutsch ihre Arbeiten verfassen, die Gerichte werden ihre Urteilsbegründungen ebenfalls weiter in diesem Stil schreiben.

Große andere Teile der Bevölkerung - insbesondere die Immigranten, wenn auch nicht nur diese -, werden aber nur noch ein schlechtes behelfsmäßiges Deutsch sprechen, denn es gilt ja, dass man doch "in vielen Berufen ‚mit einem restringierten Code bestens durchs Leben komme‘“, wie Raphael Bertehle sagt, für den hochsprachliche Regeln „überflüssiger Luxus“ und „symbolische Gewalt“ der Bildungselite sind. Somit wird der Unterschied zwischen denen, die gut sprechen, und denen, die schlecht sprechen, noch viel deutlicher und ausgeprägter sein als heute.

So wird es also keineswegs zu einer Nivellierung aller Unterschiede im Primitiven kommen, wie viele das wünschen und hoffen, sondern zu einer um so schärferen Trennung zwischen Spracheliten einerseits und dem „Normalmenschen“ andererseits. Und natürlich werden der „Normalo“ und sein simples und anspruchsloses Deutsch dann zwar von den elitären Sprachwissenschaftlern eifrig gelobt werden (im besten Hochdeutsch versteht sich). Aber das wird nichts daran ändern, dass der „Normalmensch“ keinen Zugang zur Lebenswelt der „Spracheliten“ und ihrer anspruchsvollen Berufe haben wird.

Was wir brauchen wären Sprachwissenschaftler, die gute Sprache lieben, anstatt sie als Instrument von „Gewalt“ und Unterdrückung zu verfemen; die sie schüzen anstatt abschaffen wollen; die in ihren Wissenschaften nach rationalen Kriterien urteilen, anstatt aus ideologischen Gründen jedes vernünftige Denken außer acht zu lassen; und die es sich zum Ziel setzen, den Menschen Bildung zu ermöglichen, anstatt Bildung schlechtzureden und damit unwillentlich den Graben zwischen Gebildeten und weniger Gebildeten zu vertiefen (anstatt ihn wie erhofft zu beseitigen).

Warum muss man eigentlich selbst die allerbanalsten Selbstverständlichkeiten lang und breit betonen? Warum muss man sich über das Banalste und Unbestreitbarste lange streiten? Wieso kann selbst der offensichtlich absurdeste Widersinn durch Akademiker mit Professur verbreitet werden? Warum kann es kein selbstverständlicher Konens sein, dass wir in unserem Denken und Handeln wenigstens innerhalb der Wissenschaften ein gewiesses Mindestmaß an Vernunft wahren? Kann mir das mal jemand sagen???

Also ich bin jetzt kein Fachmann, aber Sprache ist doch ein Mittel der Kommunikation. Wenn jemand nach China ginge käme der wahrscheinlich mit spanisch nicht sehr weit, wenn derselbe mit guten Russischkenntnissen nach Russland geht dann schon eher. Also lange Rede kurzer Sinn, du brauchst die Sprache, um dich zu verständigen.

Fachliche Diskussionen, was man wie nennt sind sicher ne tolle Sache für Experten, ich als Laie sehe das pragmatischer. Sprache verfällt nicht. Sprache ist nicht wie ein Diamant einmal geschliffen lupenrein und unveränderlich. Sprache die sich nicht mehr verändert ist eine tote Sprache.

Wenn Leute mit neuer Grammatik und neuem Vokabular Gleichgesinnte finden, um sich mit denen zu verständigen, nellos eis chod (lies rückwärts). Wenn irgendsoein Kiez-Deusch oder sonstwas sich durchsetzt dann, weil Leute sich damit verständigen können, so schlicht sieht mein einfaches Gemüt das.

Kietzdeutsch hat deswegen mehr Bezug zu deutschen Sprache, weil sie sich von der Satzstellung daran orientiert, beispielsweise. Oder ähnliche Kurzformen verwendet.

Beispiel: “Guckst du hier!” Ist eine verkürzte Form, die sich grammatikalisch an das “Schau hier nach !” erinnert.
Oder das " Gehssu Schule?" eine Kurzform von " Kommste mit in die Schule?"

In deutschen Dialekten wird oft mit Verkürzungen gearbeitet, man bedenke nur das “Ge?” oder “Nor” im Ostdeutschen, das " Ne?" in Norddeutschland oder das “gell” in Bayern. Alles Verkürzungen der Rückfrage.

@Relda
die moderne Sprachwissenschaft sieht das so ähnlich. Wenn man einen Linguisten ärgern will, sollte man ein Gespräch über Bastian Sick und andere Kreuzzügler der “Spracherhaltung” beginnen.

Ja, das Land der Dichter und Denker schafft sich scheinbar auch sprachlich ab. Und wenn ich so manche Befürworter hier lese, wird mir regelrecht schlecht. Ein Krüppeldialekt, entstanden aus mangelnder Bildung, wird hier als neue deutsche Sprache der Zukunft verkauft. Bei solchen Sachen kann ich kaum soviel fressen, wie ich kotzen möchte! :smt078

Muss Enzio auch zustimmen, da wird mir wirklich kotzübel :roll:

Sprache ist etwas lebendiges, welche sich ständig weiterentwickelt. Aber eine Entwicklung hin zu solch einem asozialen Proletendeutsch welches von Teilen der Unterschicht eingeführt wurde kann ich unter keinen Umständen gut heißen. Da werden Sprachfetzen und sonstige Verunstaltungen zu irgendwelchen “Sätzen” zusammengebastelt mit denen man gerade noch so eben dem anderen seinen Willen klar machen kann.

ich sehe das genau wie Enzio!

Wo soll diese “Verkrüppelung” denn sein? Das klingt so, als sei Sprache jetzt in einem “gesunden Zustand” und werde gerade “krank”. Das ist Blödsinn, Sprache ist immer nur ein Übergangszustand. Was ist denn an der Formulierung “Ich gehe ins Kino” objektiv besser als an “Ich geh Kino”? Haben einige hier so große Sehnsucht nach Präpositionen?
Sprache kann doch nicht gut oder schlecht sein. Die Ausdrucksfähigkeit eines Individuums kann unterschiedlich ausgeprägt sein. Aber ein Sprachsystem ist immer wertungsfrei zu analysieren.

Weil Sprache zu weit mehr da ist, als nur seinen Willen zum Ausdruck zu bringen. Sie ist in gewisser Weise auch ein ästhetisches Gebilde.

Wenn mir jemand sagen würde “Ey komm mal Kino mit mir morgen” würde ich mich keine Sekunde länger mit dieser Person unterhalten wollen. Man outet sich praktisch selbst schon als “Prolet” welcher keinerlei Wert auf anständige Umgangsformen legt.

Das Deutsche ist eine so schöne und ausdrucksstarke Sprache, und hier wird sich allen Ernstes dafür ausgesprochen, dass sie sich in einen primitiven und asozialen Dialekt verwandelt, der auch noch künstlisch von einer scheinbar unterbeschäftigten “Intellektuellen” aufgewertet wird? Entschuldigung, aber bei sowas fehlen mir einfach die Worte! Ich bin mit den sprachgewaltigen deutschen Klassikern aufgewachsen, und werde mich hüten, jemals einer solchen, 150 Wörter umfassenden Minimalkonsens-Schulhoflinguistik zu huldigen, die noch nichtmal das Wort “Dialekt” verdient! Wozu soll das gut sein? Damit sich überhaupt keiner mehr anstrengen muss, sich verständlich auszudrücken?

Wie würde man dann meinen Lieblingssatz von Kafka übersetzen, der da lautet: “Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt”.

Vielleicht wird daraus: “Ey krass Gregor is total Assi-Vieh geworden In Nacht Alda!” :ugly

Gruselige Vorstellung!

Ich merke bereits seit mind. letzten Beitrag von Dir, dass Du mir indirekt die sachliche Befähigung absprichst, eine andere, aber inhaltlich begründete Meinung als Frau Prof. Wiese zu haben.

Ich spreche dir die sachliche Befähigung bestimmt nicht ab. Das schaffst du schon ganz alleine.
Du machst nämlich mit deinen Beiträgen insgesamt keinen souveränen Eindruck.
Auf der einen Seite hantierst du mit Fachbegriffen rum, wie „arbiträr“, „Homonyme“ und „Äquivokationen“ und drückst dich formal wie ein Professor der Linguistik aus, aber auf der anderen Seite ist das, was du letztlich von dir gibst, nicht mehr oder weniger als die üblichen, allseits vernehmbaren Abwehrreaktionen auf die Thesen der Professorin, sprich, Phrasendreschereien wie, dass das Kiezdeutsch eine grammatiklose, wortschatzarme Sprachstörung ist, die aus Unvermögen gesprochen wird und dem Hochdeutschen inklusive seinen Dialekten unterlegen ist.

Witzig ist vor allem, dass du in deinem ersten Beitrag schon die Behauptungen der Wiese als „offensichtlichen Unsinn“ bezeichnet hast, um dann aber trotzdem in zig weiteren Posts umständlich und schwadronierend zu beweisen, dass der „offensichtliche Unsinn“ offensichtlicher Unsinn ist. Also wenn du mich fragst, ist das, was du tust, offensichtlicher Unsinn.
[…]
Du stellst ja praktisch den Gegenbeweis deiner eigenen These dar:
Sprichst perfekt Deutsch, beschränkst deine Kommunikation aber auf redundante Inhalte und Wiederholungen. Dagegen könnte z.B. ein sprachschwacher Diskutant trotz beschränkter Mittel vielleicht „effizienter“ kommunizieren.

Deswegen habe ich nach Quellen gefragt, jenseits von Artikeln, die ebenfalls Phrasendrescherei betreiben, also z.B. eine gehaltvollere Rezension des besagten Buches, oder ein Artikel, der sich mit Madames‘ Behauptungen fachlich auseinandersetzt, vielleicht eine Gegenthese aus der Sprachforschung oder zumindest eine Angabe, woher du dein Wissen hast, z.B. aus diesem oder jenem Buch, oder ob das „bloß“ deine eigene Meinung ist, sozusagen ohne „Schießeisen“.

Es ist ja nicht so, dass ich davon überzeugt bin, dass Prof. Wiese mit ihren Behauptungen absolut richtig liegt, aber es steckt nun mal mehr „Materie“ hinter dem Ganzen als das vordergründig Sichtbare, und eine wirklich angebrachte Kritik kann man nicht so eben aus dem Ärmel schütteln, obwohl das viele glauben.
Genosse Deissler hat das ja schon auf Seite 1 auf den Punkt gebracht:

Ich kann mir nicht vorstellen, dass Heike Wiese den Unterschied zwischen Soziolekt und Dialekt nicht kennt. Tatsächlich sind diese Kategorien alle sehr eng beieinander liegend und ich warne vor einem blindmachenden Multikultihass, der dazu führt, dass jede These der Linguistin ohne Lektüre des Buches per se als dämlich abgestempelt wird. In der Sprachwissenschaft gibt es keine einheitliche These zu dem, was ein Dialekt sei. Natürlich haben wir im Alltag eine sehr genaue Vorstellung. Daher ist die Verwirrung an dieser Stelle sicherlich berechtigt. Sie wird ihre Terminologie schon begründet haben. Nach allem was ich von ihr gehört habe empfinde ich durchaus Sympathie für sie. Und dabei geht es mir weniger um die vermeintliche Adelung sozial determinierter Milieus und eine damit verbundene Integrationsdebatte. Mich kotzen Sprachpuristen an, aber das führt vom hier eröffneten Thema zuweit weg. Nur so viel: WIR bilden die Sprache. Es gibt keine Behörde die festlegt, was richtiges Deutsch ist. Sprachwandel ist so natürlich wie Regen und Lungenkrebs.

Ich habe aber auch noch eine Vermutung, die zugegebenermaßen etwas spekulativ ist. Würde man Kiezdeutsch als Soziolekt bezeichnen, so würde es auch heißen: Ja, das ist die Sprache einer sozialen Gruppe, nämlich einer sozialen Unterschicht, die vorwiegend von Menschen mit Migrationshintergrund und geringen Deutschkenntnissen, geringer Bildung und schwachem ökonomischen Status gesprochen wird.
Genau solch eine „abwertende“, wenn auch wahre Feststellung scheint mir Wiese jedoch vermeiden zu wollen.

Ja, das könnte tatsächlich sein, warum sie sich nicht auf die Bezeichnung „Soziolekt“ beschränkt hat.
Oder vielleicht auch, um bewusst zu provozieren für mehr Publicity.
Wobei - wie aus dem Wiki-Artikel auch ersichtlich - es wissenschaftlich legitim ist.
Soziolekt=Dialekt

Warum muss man eigentlich selbst die allerbanalsten Selbstverständlichkeiten lang und breit betonen? Warum muss man sich über das Banalste und Unbestreitbarste lange streiten? Wieso kann selbst der offensichtlich absurdeste Widersinn durch Akademiker mit Professur verbreitet werden? Warum kann es kein selbstverständlicher Konens sein, dass wir in unserem Denken und Handeln wenigstens innerhalb der Wissenschaften ein gewiesses Mindestmaß an Vernunft wahren? Kann mir das mal jemand sagen???

Ja, gerne doch:
Weil es zu viele Typen gibt, deren Horizont nicht über den Stammtisch hinaus reicht.
Siehe z.B. weiter oben Posts von @Enzio @Grimaldi

Dass „so“ im Kiezslang wird ja auch oft ans Satzende gepackt und entspricht dann dem bayrischen „gell“ oder dem „wa“ der Brandenburger.