Es ist 5:12. Eigentlich sollte ich um diese Uhrzeit im Bett liegen und schlafen. Doch ich kann nicht. Zu sehr wühlen mich Gedanken auf, die mich seit gestern Abend plagen. So sehr, dass ich entspannende Musik hören muss um mich zu beruhigen – so sehr regt mich das auf, was ich gestern Abend lesen musste. Worum geht’s? Ich bin über den Blog http://pflegenot2014.wordpress.com durch einen Freund aufmerksam gemacht worden. Es ist eine Plattform in der Menschen aus den Pflegeberufen, also Altenpfleger oder Krankenschwestern, ihre Meinungen und Gedanken aufschreiben. Dort schreiben Menschen, die in Intensivstationen ihren Dienst verrichten und teilen ihre Gedanken. Ihre Empfindungen. Ihre Wut. Dass es in diesem Beruf stressig ist, das wusste ich. Dass Krankenhäuser, mittlerweile häufig betrieben durch Aktiengesellschaften, beim Personal sparen wusste ich auch. Aber ich bin ehrlich: ich habe mir nie Gedanken gemacht. Nie Gedanken über diese Folgen gemacht. Ich bin halbwegs fit und gesund und bin nicht aufs Krankenhaus angewiesen, war da noch nie Patient. Toi toi toi. Aber es kann mich jederzeit treffen. Morgen ein schwerer Unfall und ich könnte auf der Intensivstation liegen. Oder was ist, wenn ich doch mal in Zukunft starke gesundheitliche Probleme bekomme? Dann bin ich auf eine gute Pflege angewiesen. Das ist jeder von uns. Das sind wir alle. Und doch: haben wir uns einmal Gedanken gemacht welche Bedingungen die Menschen, die da arbeiten, ertragen müssen?
Ich habe exemplarisch einige Beiträge ausgesucht, die mich ganz besonders nachdenklich gemacht haben:
Ein älterer offener Brief an das System. Wahrscheinlich von der Initiatorin des Blogs verfasst. Darin beschreibt sie die Klischees, die Krankenschwesternausgesetzt sind: trinken Kaffee und schauen mal eben nach Patienten. Und stellt gegenüber aus was der Beruf mittlerweile wirklich besteht. Dass Krankenschwestern mittlerweile schon halbe Ärztinnen sind. Und unterbesetzt. Und unterbezahlt.
Hier beschreibt eine Fachkraft, dass der Job den Freundeskreis kostet. „Ich habe keinen Freundeskreis mehr. Ich kann die Menschen, die mir wichtig sind, an einer Hand abzählen. Zwei von ihnen arbeiten ebenfalls im Schichtdienst und manchmal hört man über einen Monat nichts voneinander. Nicht, weil man privat soviel um die Ohren hat, sondern weil es kein “privat” gibt und man zwischen den Diensten, zwischen den Nachtschichten und den Spätschichten, versucht einzukaufen, Vorsorgeuntersuchungen bei Ärzten wahrzunehmen oder Behördengänge zu erledigen. Und in der restlichen Zeit? In der restlichen Zeitschläft man. Man schläft, weil man kein Biorythmus hat, weil man Kraft für den nächsten Schicksalsschlag einer fremden, hilflosen Person braucht, weil das Hochziehen eines 140- Kilo Menschens, der absolut keine Eigenbewegung besitzt,wie ein Muskeltraining an den physischen Kräften zerrt.“ Von diesen Gedanken gibt es einige im Blog. Erschütternd, nicht wahr?
Hier beschreibt eine Krankenschwester wie sie beinahe zur Alkoholikerin wurde, weil sie das erlebte auf Arbeit nicht verarbeiten konnte, mit niemanden reden konnte.
Dieser Post hat mich mit am meisten erschüttert. Eine Schwester aus England erzählt über ihre Erfahrungen dort. Es zeigt auf traurige Weise auf was passiert, wenn so eine Station unterbesetzt ist. Und wenn dann einem noch die Kollegin Vorwürfe macht, während man umgeben von u.a. Demenzkranken ist. Dann bricht auch die stärkste Schwester zusammen.
Hier geht es um das Thema Fixierungen. Wie jemand eine Intensivstation mit 30-40 Patienten, mit oft zu 50% und mehr Pflegebedürftigen, in der Nachtschicht alleine betreuen muss. Und dass es nur geht, wenn man Patienten zur Bewegungsunfähigkeit fixiert. Es geht um die Schäden, die das eigentlich bewirkt. „Erschreckend ist, wie sich diese Patienten in den Gurtenverändern, wie schnell sie innerhalb von Tagen abbauen und dem Tode entgegen zurennen scheinen.“ Und dass die Kollegen wohl nicht alle so kritisch sind: „Erschreckend auch, wie wenige von uns in einer Fixierung ein Problem sehen. Wie wenige von uns wissen, dass sie sich regelmäßig strafbar machen. Das sie dem Patientenschaden, kein Leid abwenden, sondern viel größeres hervor rufen.“
Hier geht es um den Anspruch der Patienten und deren Angehörigkeit und der Realität. Dass ein vermeidlicher Arzt in Wahrheit nur Assistenzarzt mit wenig Erfahrung ist. Auch von zwei Schwestern ist nur eine wirklich erfahren und qualifiziert für die Arbeit in einer Intensivstation. Wohlgemerkt, Intensivstation! Also wo es um Leben und Tod der Patienten geht!
Und hier noch ein sehr berührender Text wie eine Schwesterversucht vielen Patienten gerecht zu werden. Weil Stationen mittlerweileständig unterbesetzt sind.
Wenn man all das liest, kommt man doch auf die Idee „sollen sie streiken“ – aber wer kümmert sich DANN um die Patienten? Und seien wir ehrlich: würden Medien wirklich wohlwollend darüber berichten? Wir erinnern uns: das Bild einer Krankenschwester und der Pflegeberufe allgemein ist einkomplett anderes, als die Realität zeigt. Wie viel Verständnis hätte also die Gesellschaft bei solch einem Streik?
In allen Berichten wird eines immer wieder deutlich: die WUT über die Tatsache, dass Krankenhäuser Profite maximieren wollen und so als erstes bei den Stellen einsparen. Gleichzeitig wird von allen Seiten erwartet, dass die Pflegequalität gleichzubleiben hat.
Und genau das macht mich wütend. Es zeigt was passiert, wenn man etwas elementar Wichtiges wie Gesundheit privatisiert. Wenn alles kalt zusammengestrichen wird und nur noch das über bleibt, damit ein Krankenhaus „gerade noch so funktioniert“. Und das vor allem auf dem Rücken der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Es macht mich wütend und ich bin aufgewühlt. Ich muss mich immer wieder zwingen, dass diese Blogpostings nicht irgendwelche Zustände in Afrika oder Indien beschreiben, sondern hier in Deutschland – eines der reichsten Länder der Welt, welches aber meinte die Gesundheit privatisieren zu müssen. Das sind die Folgen. Und bestätigt mich in meiner Analyse, dass der Kapitalismus menschenunwürdig ist und gegen ein solidarisches und faires Miteinander steht. Wachstum und Profit passen nun mal nicht mit Pflege und Gesundheit zusammen. Und Menschen die in der Pflege arbeiten sind keine Roboter!
Ich bin traurig. Wie lang soll es noch so weitergehen?