RTL Spiegel TV Extra: Lob für Unterschichtendeutsch

@ Baru:
Laut wikipedia hat „Hochdeutsch“ verschiedene Bedeutungen und kann durchaus auch die Hochsprache, nicht nur hochdeutsche Dialekte im Ggs. zu den niederdeutschen. Ich glaube das, weil es auch dem allg. Sprachgebrauch entspricht:
http://de.wikipedia.org/wiki/Hochdeutsch

@ Librarian:

strohaLm hat geschrieben:

[quote]„Gehst du Schule“ ist absolut nicht eindeutig, da nirgends festgelegt ist, dass es eine Frage ist.

Lässt sich ganz einfach lösen:
Im gesprochenen Deutsch über die Betonung bzw. Änderung der Stimmlage über den Satz hinweg.
Im geschriebenen Deutsch über Satzzeichen

Aber das wäre ja wieder zu einfach und böte kein Aufreger-Potenzial.[/quote]

Wenn das alles wäre, dann wäre das das kleinste Problem. Allerdings wirft es die deutsche Satzstellung um und widerspricht dem allgemeinen Sprachgefühl. Aber das ist nicht das Hauptproblem. Das Hauptproblem ist und bleibt, dass Kiezdeutsch eine destrukturierte, weitgehend regellose und eine in vielen Ausdrücken wie in ihrer Gesamtheit semantisch stark verarmte Pidgin-Sprache ist. Wenn ich mich nicht sehr irre, dann kann man im Kiez übrigens auch sagen: „Du gehst Schule“ staatt „Gehst Du Schule“. Es geht einfach nahezu alles, weil es keine verbindlichen Formen mehr gibt. (Frau Wiese spricht das so nicht aus, aber es folgt doch aus ihren Ausführungen und Beispielen, und wir wissen es doch eigentlich auch so, wenn wir biher nicht mit verschlossenen Ohren gelebt haben.) Diese regellose Vielfalt ist aber keine Bereicherung, sondern Verarmung von Sprache hinsichtlich ihrer formalen Struktur, Allgemeinverbindlichkeit und letztlich auch Eindeutgkeit und Klarheit.

@ Maschendraht:

Genau auf diesen Ersatz wollte ich hinaus: Präpositionen sind ersetzbar. Im Lateinischen wird ein Kasus verwendet zur Bestimmung der Richtung. Aber natürlich kann auch jemand, der Kiezdeutsch spricht die Bedeutung „aus Rom“ ausdrücken. Zum einen ist nicht einmal sicher, dass jemand im Kiezdeutschen in diesem Fall auch auf die Präposition verzichten würde (nur weil - nach meinem subjektiven Eindruck - die Präposition „in“ oft weggelassen wird, muss das nicht bedeuten, dass das für „aus“ wie in „aus Rom“ genauso gilt.) Und selbst wenn es so wäre, müsste zum anderen anhand echter Daten geprüft werden, ob im Kiezdeutschen die Bedeutung nicht doch durch etwas anderes ausgedrückt wird, also weder durch Präposition noch durch Kasus. Vielleicht durch Verben, die nur dann verwendet werden, wenn man ausdrücken möchte, dass man sich von einem Ort entfernt. Das letzte ist jetzt Spekulation, man müsste das überprüfen. Aber genau daran zeigt sich wieder, dass man einer Sprache nicht die Regelhaftigkeit absprechen kann, nur weil weil unser Kriterium für die Richtungangabe (Anzeige durch Präposition) keine Verwendung findet.

Meine Güte, Maschendraht! Wo lebst Du denn? Hast Du noch nie jene Sprache gehört, die Frau Wiese als Kiezdeutsch bezeichnet? Glaubst Du wirklch, dass da irgendwelche uns unbekannten Konstruktionen die Endungen und Präpositionen ersetzen?
Man soll es sich nicht zu einfach, aber auch nicht zu kompliziert machen.

Und dass Präpositionen tatsächlich oft bei Ortsangaben weggelassen werden, bestätigt ja sogar Frau Wiese, die auch übrigens nirgendwo etwas von einem Erstz dafür auch nur andeutet:

In Kiezdeutsch findet man häufig Orts- und Zeitangaben, die aus bloßen Nominalgruppen bestehen, ohne Artikel und/oder Präposition. Die Auslassung ist durch Ø markiert :

Um sieben Uhr steh ich auf, geh Ø Schule.
Wo ich Ø Grundschule war…
Nachher Ø acht Uhr ich hab Dienst.

Selbst wenn „Rom“ eine Ausnahme wäre, dann würde es nichts an der grundsätzlichen Kritik ändern. Da werden mal Präpositionen verwendet und mal nicht, und mal die richtigen und mal die falschen (siehe bei Frau Wiese auch Rest des Textes; Link unten).

Zum anderen ist doch klar, dass Enzios kritische Bemerkung über das willkürliche Weglassen von Präpsoitionen sich auf das Deutsche bezog, nicht auf andere Sprachen. Auch wenn er polemisch schreibt, seine Kritik richtete sich doch offensichtlich gegen eine Simplifizierung der Sprache und nicht dagegen, dass andere Sprachen, die genau so differenziert wie das Deutsche sind, eben andere Lösungen als Präpositionen finden. Seine Kritik eins zu eins in den Fall des Lateins zu übertragen wird der Sache und seiner Intention nicht gerecht.

Lest mal ein Transkript von einem Gespräch (normale Unterhaltung), meinetwegen von Sprechern, die Standarddeutsch verwenden. Dann werdet ihr auch denken, dass die Leute Müll reden, weil man dann erst sieht, wie anders die gesprochene Sprache als die schriftliche ist. Lauter Fehler, Abbrüche, Versprecher, Überlappungen, Satzenden passen nicht zum Satzanfang. Das machen wir aber so in Alltagsgesprächen. Das alles stört beim Sprechen aber überhaupt nicht, sondern vieles davon hat im Gegenteil sogar die Funktion, bei der Organisation des Gespräches zu helfen. Man kann also nicht, wie es in diesem Thread ständig getan wird, einen gesprochenen Satz aufschreiben und für syntaktisch fehlerhaft erklären, um daraus zu schließen, dass das Sprachsystem nichts taugt. Wenn man das so macht, könnte ich auch in ein paar Minuten beweisen, dass auch das gesprochene Standarddeutsch „Müll“ ist.

  1. Selbst die gesprochene hochdeutsche Sprache ist wesentlich regelmäßiger, strukturierter, eindeutiger und insbesondere semantisch reicher und differenzeierter als das „Kiezdeutsch“. Man kann die syntaktische Komplexität einer Sprache im Gesprochenen bis zu einem gewissen Grad runterbrechen, aber nicht beliebig, ohne dass es zu einer auch semantischen Verarmung (also in Beziug auf die inhaltliche Bedeutung) kommt.

  2. Sowohl beim Hochdeutschen wie auch bei Dialekten ist es leicht möglich, die gesprochene Sprache zu „glätten“ bzw. in eine gültige Schriftform mit ihrer Regelmäßigkeit und ihrem expliziten Informationsreichtum zu transformieren. (Die Übergänge sind eh fließend.)
    Und genau das ist beim Kiezdeutschen eben nicht möglich.
    Deshalb ist es m.E. auch einfach eine Umganssprache, ein Slang, aber kein Dialekt im üblichen Sinne. Nun kann man sagen: Dann ist das halt so, mehr soll und will das Kiezdeutsche ja auch gar nicht sein und leisten. Dies sollte dann aber auch klar gesagt werden, denn man gewinnt einen völlig anderen Eindruck, wenn Kiezdeutsch als normaler Dialekt bezeichnet wird, der oftmals sogar logischer als das Hochdeutsche sei.

@ alle:

Wir sollten vielleicht mal einige Unterscheidungen treffen. Wir bringen hier verschiedene Fragen durcheinander, manchmal unausgesprochen, die man sorgfältig unterscheiden muss:

  1. Sollte man Menschen mit Migrationshintergrund respektieren?
  2. Sollte man Menschen zuveörderst danach beurteilen, wie gut Deutsch sie sprechen?
  3. Kann Kiezdeutsch sinnvoll für die Verständigung mancher Menschen sein?
  4. Gibt es einen natürlichen Sprachwandel, der dem Sprachgefühl der Sprecher gerecht wird?
  5. Kann man in einem absoluten Sinne sagen, dass eine Sprache „gut“ ist, oder nur in einem relativen?
  6. Ist Kiezdeutsch ein gutes Deutsch, wenn man es nach naheliegenden Kriterien wie Ausdrucks- und Differenzierungsfähigkeit, Stil und Struktiur beurteilt?
  7. ist Kiezdeutsch ein Dialekt wie jeder andere, oder unterscheidet es sich grundlegend von anderen Dialekten (egal, ob man es nun als „Dialekt“ bezeichnen will oder nicht)?

Diese Fragen werden ständig in der Diskussion irgendwie überlagert. Ich denke, die ersten vier beantworten sich von selbst, daher zum Rest:

Natürlich kann man nicht in einem „absoluten“ Sinne sagen, ob eine Sprache „gut“ ist. Man kann es aber in einem relativen. Eine Sprache kann nämlich nicht nur im Hinblick auf ihre Nützlichkeit und funktionale Leistungsfähigkeit beurteilt werden, sondern auch sonst in verscheidenerlei Hinsicht:

Kann man in einer Sprache möglichst viel möglichst klar, eineutig und differenziert ausdrücken? Auch abstarkte und komplexe Gedanken? Ist es möglich, auch feine Nuancen zu formulieren? Ist sie also auch für Wissenschaft und Kultur geeignet? Besitzt sie einen reichen Wortschatz? Eine relativ feine grammatische Struktur? Eine gewisse Gesetzmäßigkeit, oder geht alles durcheinander? Und wie steht es um Stil, Ästehtik und Eleganz? Kann man in einer Sprache auch glänzend geschriebene Literatur verfassen usw?

Auch wenn eine Sprache nicht in einem absoluten Sinne gut oder schlecht sein kann, so würden doch wohl die meisten Menschen unter einer qualitativ hochwertigen Sprache eine verstehen, die Kriterien wie den gerade genannten in hohem Maße gerecht wird.
Und in diesem relativen, aber doch wichtigen und wesentlichen Sinne kann man dann auch sagen: Kiezdeutsch ist schlechtes Deutsch. (Dass und warum das so ist, habe ich bereits ausführlich und an vielen konkreten Beispielen (von Wiese) dargelegt.)

Und hier besteht auch ein wesentlicher Unterschied zu den etablierten Dialekten. Es wird ja ständig behauptet, Kiezdeutsch sei ein Dialekt wie jeder andere. Durch Wiederholen und Ignorieren der Gegenargumente wird diese These aber nicht wahrer.
Nochmals, ich weiß nicht zum wievielten male: Die üblichen Dialekte besitzen eine ähnliche Ausdrucks- und Differenzierungsfähigkeit, Regelmäßigkeit, Strukturiertheit und Klarheit wie die Hochsprache. Man kann auch in einem Dialekt Literatur verfassen, die nach allgemein akzeptierten Kriterien als „gut“ und sprachlich reich gilt. Und man könnte in einem Dialekt theoretisch auch einen anspruchsvollen Fachtext verfassen, wenn das vielleicht auch etwas aufwendiger und ungewohnt wäre. Dialekte besitzen einen reichen und distinguierten Wortschatz sowie eine der Hochsprache vergleichbare Grammatik, bei der nicht Willkür, sondern Struktur herrscht.

Ob man Kiezdeutsch nun als Dialekt bezeichnen möchte oder nicht, ist doch zweitrangig. Wesentlich ist, dass es sich in fundamentaler Hinsicht von den „normalen“ Dialekten unterscheidet. Und dass diese Tatsache hier ständig ignoriert wird, ändert nichts an ihr. (Im Übrigen erscheint es mir als angemessener, Kiezdeutsch als Jargon/Slang bzw. Pidgin zu bezeichnen, aber diese Frage ist m.E. nicht entscheidend. Die Definition von „Pidgin“ nach der wikipeia lautet übrigens: „Der Begriff Pidgin-Sprache (eigentlich nur Pidgin) bezeichnet eine reduzierte Sprachform, die verschiedensprachigen Personen zur Verständigung dient.“ Dass scheint mir ziemlich gut auf das Kiezdeutsch zuzutreffen.)

ich möchte einfach zur Verdeutlichung noch einmal ein paar Beispiele für Kiez-Deutsch geben. Alle nach Wiese:

Geh’ ich schwimmen mit Freunde.
Da gibts so Club…für Jugendliche so.
Und da stand und hat mir seine Hand gegeben. Wallah.
Lassma Moritzplatz aussteigen!
Machst du rote Ampel.
Ich mach dich Messer.
Wir sind jetzt anderes Thema.
Um sieben Uhr steh ich auf, geh Schule.
Wo ich Grundschule war…
Nachher acht Uhr ich hab Dienst.
Früher war er so wie uns.
Wir gehen zu den älteren Leuten, die älter als uns sind.
Ich sag: ’Hast du Handy bei?’
Zum Beispiel wenn wir in Unterricht sind.
Was denn los hier?
Ja, ich aus Wedding.

http://www.kiezdeutsch.de/sprachlicheneuerungen.html

Frau Wiese betrachtet dies zwar als „Innovationen im Kiezdeutsch“, aber m.E. ist das ein Deutsch, das dem Sprachgefühl völlig entgegengesetzt, stilistisch schlecht, grammatisch destrukturiert, weitgehend regellos, rudimentär, übersimpligfiziert und semantisch (also dem Bedeutungsgehalt nach) unnötig und stark verarmt ist.
Damit erfüllt Kiezdeutsch nach meinem Dafürhalten sämtliche Kriterien, um sinnvollerweise als schlechtes Deutsch bezeichnet zu werden.

Selbst dort, wo tatsächliche Innovationen oder eine neue Struktur auftreten, sind diese dem allg. Sprachgefühl in vielen Fällen dermaßen entgegengesetzt, dass es eine Vergewaltigung desselben wäre, wenn man sie in diesem Stadium der Sprachentwicklung als gutes und akzeptiertes Deutsch etablieren wollte. (Auch dies ist übrigens ein Unterschied zu den Dialekten.)

Das Hauptproblem ist und bleibt, dass Kiezdeutsch eine destrukturierte, weitgehend regellose und eine in vielen Ausdrücken wie in ihrer Gesamtheit semantisch stark verarmte Pidgin-Sprache ist.

Ist für das Beispiel (und das, was ich aussagen wollte) völlig egal.
Mir ging es schlicht und ergreifend darum, dass der Satz seine Funktion (Aussage, Frage, Aufforderung) über die Satzzeichen bzw. die Stimmlage beim Sprechen bekommt.
Nicht mehr und nicht weniger.

Wenn ich mich nicht sehr irre, dann kann man im Kiez übrigens auch sagen: „Du gehst Schule“ staatt „Gehst Du Schule“.

Und? Auch hier gilt wieder: Durch Hinzufügen von Satzzeichen bzw. Stimmlage beim Sprechen erhält der Satz seine Funktion.
Die Satzstellung ist für meine Aussage völlig unerheblich. :smt021

(Mir geht es überhaupt nicht darum, ob man nun zur Schule, um die Schule herum oder sonstwie geht, sondern einfach darum, ob es eine Aussage, eine Frage oder eine Aufforderung ist. Ist das so schwer zu begreifen?)

Nicht verzweifeln: Ich begrife ich schon. :wink:

Vielleicht habe ich Deine Intetntion auch für einen Moment missverstanden. Aber selbst wenn es gar nicht in Deiner Absicht liegt, so könnte jemand aus deinem Beitrag ableiten, was ich zurückweise. Und so hat meine Bemerkung ihre allgemeine sachlche Berechtigung, selbst wenn sie Dich nicht trifft und ich Dich vielleicht (leider) missverstanden und es daher nicht klargestellt thabe.

Klar ist natürlich generell, dass die Eindeutigkeit und damit der Informationssgehalt von Sprachen reduziert wird, je weniger distinkte Formen für unterschiedliche Mitteilungen existieren (wenn etwa Fragen, Feststellungen und Aussagen nur noch durch die Intonation unterscheidbar sind). Das ist nicht unbedingt im Einzelfall bedenklich. Wenn dieses „Vereinfachungs-Phänomen“ aber überhand nimmt, dann schwächt es die Präzision einer Sprache.

@ alle: Übrigens bedeutet Sprachentwicklung in Europa im Großen und Ganzen vor allem ständige Verienfachung. Das Urindogermanische, aus dem fast alle europäischen Sprachen entstanden sind, ist komplexer als beispielsweise Altgriechisch; dieses ist komplexer als Latein; dieses ist komplerxer als Alt- und Mittelhochdeutsch, dieses ist komplexer als Neuhochdeutsch. Aber auch außerhalb des Deutschen kam es zu vielen Vereinfachungen.

Beispielsweise besaß das Urindogermanische noch acht oder vielleicht sogar neun Fälle (Kasus). Das Deutsche besitzt noch vier (Nominativ, Genetiv, Dativ, Akkusativ). Der Genetiv könnte als nächster verschwinden und durch eine Dativ-Konstruktion ersetzt werden: Statt „das Buch des Lehrers“ würde es „das Buch von dem Lehrer“ heißen. Im Englischen ist das schon weiter vorangeschritten, wo nur noch selten der Genetiv verwendet wird, sondern meistens eine Konstruktion mit „of“ wie in „the colour of the paper“.

Diese Tendenz zur ständigen Vereinfachung der indogermanischen Sprachen - und zwar in vielerlei Hinischt - ist ein historischer Prozess wird aller Voraussicht nach auch weiter fortschreiten und ist im Englischen schon weiter als im Deutschen.

Allerdings bedeutet die syntaktische Reduktion (also die Vereinfachung der formellen Struktur) nicht oder jedenfalls nicht im gleichen Maße, dass die Sprache semantisch, also von ihrer Ausdruckskraft her betrachtet, verarmt. Ich möchte dennoch einfach auf diesen Punkt hinweisen, denn er ist überraschend. Man würde normalerweise eine (auch syntaktische) Höherentwicklung der Sprachen erwarten, doch das Gegenteil ist der Fall. Ein natürlicher Sprachwandedel (der nicht erzwungen ist und mit dem Sprachgefühl der Sprecher vereinbar ist) ist unvermeidbar.

Mehr als meine Kommentare von Seite 4 und 7 kann ich der Diskussion wohl nicht mehr beisteuern.

Ich möchte dennoch mal von Seite 1 zitieren:

Ich verstehe immer noch nicht, warum du sagst, Kiezdeutsch habe keine Regeln. Ich sehe das anders. Nimm mal das Beispiel mit der Wortstellung: Das erscheint uns im Kiezdeutschen völlig willkürlich. Frau Wiese sagt aber, dass dies keineswegs so ist. So folge die Wortstellung etwa in dem Satz „Normalerweise man geht zum Jugendclub“ sehr wohl festen Regeln, und zwar dahingehend, dass Rahmensetzer und Topik im Kiezdeutschen vor das Verb gesetzt werden können. Dies habe zur Folge, dass die Folge Adverb, Subjekt, Verb eine weitere Möglichkeit im Vergleich zum Standard möglich ist. Ich finde das plausibel und es folgt einer Regel. Regellos wäre es, wenn du alles in beliebiger Reihenfolge setzen könntest. Die Regel orientiert sich eben nicht so sehr an der Syntax, aber dafür an der Informationsstruktur.

Wenn man anhand der Aufnahmen festellen kann, dass sich diese Tendenz durchzieht, hat man eine Regelmäßigkeit nachgewiesen. Es erscheint nur uns unregelmäßig, weil wir mit unserem intuitiven Verständnis des Standarddeutschen nicht die Informationsstruktur erkennen bzw. nicht gewohnt sind, diese als ausschlaggebend für grammatische Strukturen anzusehen.

Zu deinen Beispielsätzen: Du postest nur die Sätze, lässt aber Frau Wieses Erklärungen dazu bezeichnenderweise weg. Liest man nur die Sätze, könnte man z.B. meinen, dass im Kiezdeutsch „wir“ und „uns“ völlig willkürlich vertauscht werden. Wiese meint dazu:

Bei Vergleichen mit als und wie finden wir z.T. flektierte Formen von Pronomen, wo man sie im Standarddeutschen nicht erwarten würde:
Früher war er so wie uns.
Wir gehen zu den älteren Leuten, die älter als uns sind.
Ja, die sind so wie uns.

„uns“ und „wir“ werden also keiseswegs einfach verwechselt. Die aus unserer Sicht falsche Verwendung beruht darauf, dass im Kiezdeutschen eine andere Regel(!) herrscht, wie Vergleiche gebildet werden. Ich habe mal die anderen Beispiele in ihrem Text überflogen und tatsächlich kommt der ominöse Tausch von „wir“ zu „uns“ nur bei Vergleichen vor. Von Willkür kann also keine Rede sein.
Und deshalb stehe ich dem:

Selbst die gesprochene hochdeutsche Sprache ist wesentlich regelmäßiger, strukturierter, eindeutiger und insbesondere semantisch reicher und differenzeierter als das „Kiezdeutsch“.

nach wie vor sehr skeptisch gegenüber.

Sowohl beim Hochdeutschen wie auch bei Dialekten ist es leicht möglich, die gesprochene Sprache zu „glätten“ bzw. in eine gültige Schriftform mit ihrer Regelmäßigkeit und ihrem expliziten Informationsreichtum zu transformieren. (Die Übergänge sind eh fließend.)
Und genau das ist beim Kiezdeutschen eben nicht möglich.

  1. bezweifle ich das sehr. Sätze wie „was hasn du inner Pause gemacht mim neun Kollegen dass der so gut drauf is“ (und so reden wir in informellen Gesprächen manchmal. Lest mal wirklich ein Transkript) sehen für mich nicht so aus, als seien sie näher am Standard als die kiezdeutschen Beispielsätze.

Und 2. ist doch für die Regelmäßigkeit einer Sprache nicht entscheidend, wie nah sie am „Original“ ist. Selbst wenn Kiezdeutsch bis zur Unkenntlichkeit anders als der Standard wäre, würde das die Tauglichkeit des Sprachsystems selbst in keinster Weise beeinflussen, solange es ein gewisses maß an Regeln besitzt, was meiner Meinung nach sehr wohl der Fall ist.

Wegen den Präpositionen (und nicht etwa wegen „der Präpositionen“ :stuck_out_tongue: )

Und dass Präpositionen tatsächlich oft bei Ortsangaben weggelassen werden, bestätigt ja sogar Frau Wiese, die auch übrigens nirgendwo etwas von einem Erstz dafür auch nur andeutet

Vielleicht weil ein Ersatz bei diesen Beispielsätzen gar nicht nötig ist? Über Zweifelsfälle, wo im Deutschen eine Präposition für die Eindeutigkeit notwendig ist, sagt sie nichts, also können wir auch keine Schlüsse ziehen, was sie dazu sagen würde. Ich selbst kann mangels Textkorpus auch nichts dazu sagen.

Da werden mal Präpositionen verwendet und mal nicht, und mal die richtigen und mal die falschen

Ich habe einen Idee, woran das liegen könnte (welche Regel dahinter steckt), aber ich werde jetzt nicht herumraten, bis ich demnächst vielleicht doch mal ein paar Transkripte besorgen kann.

@ Maschendraht:

Ich verstehe immer noch nicht, warum du sagst, Kiezdeutsch habe keine Regeln. Ich sehe das anders. Nimm mal das Beispiel mit der Wortstellung: Das erscheint uns im Kiezdeutschen völlig willkürlich. Frau Wiese sagt aber, dass dies keineswegs so ist. So folge die Wortstellung etwa in dem Satz „Normalerweise man geht zum Jugendclub“ sehr wohl festen Regeln, und zwar dahingehend, dass Rahmensetzer und Topik im Kiezdeutschen vor das Verb gesetzt werden können.

Ja, können. Und das ist auch der springende Punkt. Wenn meine im Laufe meines Lebens eigenständig sowie die durch Frau Wiese erworbenen Kenntnisse nicht trügen, dann kann die Satzstellung eben auch ganz anders sein. (Wiese: „Die Regel, dass im Aussagesatz nur ein Satzglied vor dem finiten Verb stehen kann, scheint in Kiezdeutsch unter bestimmten Bedingungen außer Kraft gesetzt zu sein. Dort findet man neben den Verb-zweit-Sätzen, die auch im Standard vorkommen, ebenfalls Sätze, bei denen zwei Satzglieder vor dem finiten Verb stehen: ein Adverbial und das Subjekt (Adv SVO)“).

Es kann praktisch mehr oder weniger alles der Fall sein. Es kann auch einfach das Subjekt ausglassen werde („Und da stand und hat mir seine Hand gegeben“). Es kann aber auch sein, dass das Subjekt auftaucht. Oder es kann auch einfach das Verb „sein“ gekippt werden („Was denn los hier?“„Ja, ich aus Wedding.“) Es kann aber auch weiter gebraucht werden.
Oder es kann dort „mein Hose“, „mein Schule“ oder „mein Arbeit“ heißen. Es kann aber auch jeweils „meine“ heißen. Oder es kann verkürzt „Wo ich Grundschule war“ heißen (anstatt „wo ich in der Grundschule war“), muss es aber offenbar nicht.

Offenbar ist so ziemlich alles möglich. Strukturen und grammatische Regeln lösen sich in die Beliebigkeit auf. Frau Wiese ssagt das natürlich nirgends explizit, denn das klingt ja nicht gut. Aber es folgt eben doch eindeutig aus dem, was sie schreibt. Sie spricht dann jeweils diplomatisch davon, dass im Kiezdeutschen neben dem Althergebrachten auch dies und jenes möglich sei, und dass man teilweise statt der üblichen Form etwas jeweils auch jeweils so sagen könne.
Und es wäre auch mehr als seltsam, wenn es klare Regeln oder einen einheitlichen Wortschatz im Kiezdeutschen gäbe:
Deser Slang oft auch von Viertel zu Viertel zuiemlich unterschiedlich.
http://www.spiegel.de/video/video-1181174.html
„Kiezdeutsch“ ist also ein Sammelbegriff für ziemlich vieles, aber keine einheitliche Sprache mit festen Regeln.

Dies habe zur Folge, dass die Folge Adverb, Subjekt, Verb eine weitere Möglichkeit im Vergleich zum Standard möglich ist. Ich finde das plausibel und es folgt einer Regel. Regellos wäre es, wenn du alles in beliebiger Reihenfolge setzen könntest. Die Regel orientiert sich eben nicht so sehr an der Syntax, aber dafür an der Informationsstruktur.

Das wäre so, wenn die neuen Regeln die alten ersetzen würden. Tun sie aber nicht. Natürlich, wenn man Regeln kippt, dann ist Neues möglich, was bisher nicht möglich war. Und etwas Neues kann man immer als „Innovation“ bezeichnen, wenn man möchte. Nur ist es doch offensichtlich eine Rationalisierung, wenn nun gesagt wird, dass die neue Satzsstruktur sich an einer wohlüberlegten Informationsstruktur orientieren würde. Denn diese ist beliebig, man kann sie so oder so wählen, und dafür, dass die die neuen Möglichkeiten im Kiezdeutschen dem Standard-Deutschen überlegen seinen, fehlt mir jedes Argument (Frau Wiese behauptet solches ja).

Die Wahrheit ist doch offensichtlich so: Diejenigen, die kein richtiges Deutsch konnten, haben mal grammatisch korrekte und mal falsche Sätze formuliert, und sich dabei vermutlich an der Grmmatik ihrer Ursprungssprachen orientiert. Dass diejenigen irgendwie groß über Informationsstrukturen nachgedacht haben, darf man wohl getrost als „unwahrscheinlich“ erachten.
Und daher geht im Kiezdeutschen nun eben ziemlich alles: Neben (vom Standard-Deutschen gesehen) richtigen Satzstellungen sind nun auch falsche zugelassen, eben, weil ziemliche Beliebigkeit herrscht.

Dabei kann man natürlich grundsätzlich durchaus darüber diskutieren, ob nun neue Stazstellungen prinzipiell sinnvoll sein könnten, wobei hier natürlich keine Beliebigkeit gelten sollte. Nur sollte man das Sprachgefühl einer Sprecher-Community dabei auch nicht einfach übergehen.
Wenn ich aber mal vom Sprachgefühl abstrahiere und die Situation unter semantischen Gesichtspunkten betrachte, dann stören mich übrigens neue gramatische Satzsumsetellungen keineswegs am meisten, wenn die Veränderungen so erfolgen, dass kein Verlust an Klarheit und Regelmäßigkeit entsteht.
Prinzipiell problematischer sind Verkürzungen, bei denen wesentlicher Bedeutungshgehalt wegbreicht, ohne dass eine große ökonomische Ersparnis zum Ausgleich da wäre. Darauf komme ich noch zurück.

Nö. Man versucht einfach so gut Deutsch wie möglich zu sprechen und übernimmt, da man die deutschen Regeln nicht kennt/beherrscht, aller Wahrscheinlichkeit nach intuitiv die Satzstellung aus der eigenen Ursprungssprache. (Im übrigen kann man auch das Subjekt zuerst verorten; das ist arbiträr und das eine nicht „logischer“ als das andere, jedenfalls nicht im Allgemeinfall.)

Es erscheint nur uns unregelmäßig, weil wir mit unserem intuitiven Verständnis des Standarddeutschen nicht die Informationsstruktur erkennen bzw. nicht gewohnt sind, diese als ausschlaggebend für grammatische Strukturen anzusehen.

Es erscheint uns deswegen als unregelmäßig, weil wir im Deutschen eine andere Informationssturkur besitzen, die genau so gut und legitim wie eine andere ist, und weil unsere Grammatik diese unsere Informationsstruktur ausdrückt. Dass es daneben auch ganz andere Informationsstrukturen und generell ganz andere Formen gibt, ist durchaus klar; nur eben in anderen Sprachen. Jede Sprache hat eben ihre Besonderheiten, aucch wenn das Kiezdeutsch diese auflöst.

Zu deinen Beispielsätzen: Du postest nur die Sätze, lässt aber Frau Wieses Erklärungen dazu bezeichnenderweise weg. Liest man nur die Sätze, könnte man z.B. meinen, dass im Kiezdeutsch „wir“ und „uns“ völlig willkürlich vertauscht werden. Wiese meint dazu:

[quote]Bei Vergleichen mit als und wie finden wir z.T. flektierte Formen von Pronomen, wo man sie im Standarddeutschen nicht erwarten würde:
Früher war er so wie uns.
Wir gehen zu den älteren Leuten, die älter als uns sind.
Ja, die sind so wie uns.
[/quote]

Nein. Ich hatte bereits auf Seite 4 Frau Wiese in diesem Punkt ausführlich im Kontext zitiert, sogar ausführlicher als Du (und kommentiert):
viewtopic.php?f=15&t=10587&start=45
Ich habe dort auch sonst Wiese immer ausführlich im Gesamtzusammenhang kritisiert. Ich will sie nicht unfair darstellen, im Gegenteil. Wenn ich aber dann Beispiele für Kiezdeutsch summiere, kann ich aber natürlich nicht jedesmal einen langen Begleitkontext zitieren.

„uns“ und „wir“ werden also keiseswegs einfach verwechselt. Die aus unserer Sicht falsche Verwendung beruht darauf, dass im Kiezdeutschen eine andere Regel(!) herrscht, wie Vergleiche gebildet werden. Ich habe mal die anderen Beispiele in ihrem Text überflogen und tatsächlich kommt der ominöse Tausch von „wir“ zu „uns“ nur bei Vergleichen vor. Von Willkür kann also keine Rede sein.

Das ist Spekulation, denn natürlich kann es sehrwohl sein, dass es auch woanders vorkommt. Wiese gibt ja nur einige Beispiele. Aber auch, wenn es (in diesem Fall mal) nicht willkürlich ist, dann folgt es eben völlig anderen Regeln als im Deutschen. Und wieso dies besser als im Standard-Deutschen sein soll, wie Wiese nahelegt, habe ich bereits auch auf S. 4 gefragt. (Man bedenke aber nochmals, dass Kiezdeutsch nur ein Oberbegriff für viele regional sehr verschiedene „Slangs“ ist; siehe oben verlinktes Spiegel-Video. Es wäre daher höchst verwunderlich, wenn man ein ausgefeiltes Regelwerk gerade bei dem uns/wir-Beispiel finden sollte.9

Und deshalb stehe ich dem:

[quote]Selbst die gesprochene hochdeutsche Sprache ist wesentlich regelmäßiger, strukturierter, eindeutiger und insbesondere semantisch reicher und differenzeierter als das „Kiezdeutsch“.

nach wie vor sehr skeptisch gegenüber.[/quote]

Zu der Regelmäßigkeit: Siehe oben. Und zur semantischen Klarheit und Differenzierungskraft: Man kann auch mündlich im Standard-Deutschen eine sehr anspruchsvolle philosophische, wissenschaftliche oder literarische Diskussion führen, bei der sehr abstrakte Themen sehr punktgenau und mit feinen Unterscheidungen abgehandelt werden. Dies gilt analog auch für Dialekte. Und fürs Kiezdeutsche?

[quote]Sowohl beim Hochdeutschen wie auch bei Dialekten ist es leicht möglich, die gesprochene Sprache zu „glätten“ bzw. in eine gültige Schriftform mit ihrer Regelmäßigkeit und ihrem expliziten Informationsreichtum zu transformieren. (Die Übergänge sind eh fließend.)
Und genau das ist beim Kiezdeutschen eben nicht möglich.

  1. bezweifle ich das sehr. Sätze wie „was hasn du inner Pause gemacht mim neun Kollegen dass der so gut drauf is“ (und so reden wir in informellen Gesprächen manchmal. Lest mal wirklich ein Transkript) sehen für mich nicht so aus, als seien sie näher am Standard als die kiezdeutschen Beispielsätze.[/quote]

Man kann nicht von einzelnen Sätzen ausgehen, sondern muss einen längeren Ausschnitt betrachten, um dann den informationellen Gehalt zu vergleichen. Im Kiezdeutsch gehen durch unnötige sprachliche Verkürzungen ohne nennenswerten ökonomischen Gewinn viele Informationen verloren, die auch in der Umgangssprache transportiert werden. Dazu unten mehr.

Wesentlicher aber ist vielleicht noch dieses: „Standard-Deutsch“ besteht nicht nur aus einer gesprochenen Sprache, die vom durckreifen Vortrag bis hin zur verwässetrten Umgangssprache reichen kann, sondern „Standard-Deutsch“ besitzt zudem eine gehobene Schriftsprache. Das gilt für Hochdeutsch wie für Dialekte. Und für das Kiez-Deutsch? Eben nicht. Nataürlich kann man Kiezdeutsch auch in gehobenes Schriftdeutsch übersetzen. Aber dann ist es kein Kiezdeutsch mehr. Hochdeutsch und Dialekte besitzen anders als das Kiezdeutsche eben auch eine hochsprachliche Schriftform, die etwa Kultur und Wissenschaft unterstützt. Hochdeutsch und Dialekte sind also auch Umgangssprache, Kiezdeutsch ist hingegen nur Umgangssprache. Und deshalb ist Kiezdeutsch auch kein Dialekt, sondern ein Slang bzw. ein Pidgin: Eine vereinfachte Sprache, die dort entsteht, wo verschiedene Sprachen aufeinandertreffen.

Und 2. ist doch für die Regelmäßigkeit einer Sprache nicht entscheidend, wie nah sie am „Original“ ist. Selbst wenn Kiezdeutsch bis zur Unkenntlichkeit anders als der Standard wäre, würde das die Tauglichkeit des Sprachsystems selbst in keinster Weise beeinflussen, solange es ein gewisses maß an Regeln besitzt, was meiner Meinung nach sehr wohl der Fall ist.

Zum ersten Teil ja, zum zweiten Teil nein (s.o.).

[quote]Und dass Präpositionen tatsächlich oft bei Ortsangaben weggelassen werden, bestätigt ja sogar Frau Wiese, die auch übrigens nirgendwo etwas von einem Erstz dafür auch nur andeutet

Vielleicht weil ein Ersatz bei diesen Beispielsätzen gar nicht nötig ist? Über Zweifelsfälle, wo im Deutschen eine Präposition für die Eindeutigkeit notwendig ist, sagt sie nichts, also können wir auch keine Schlüsse ziehen, was sie dazu sagen würde. Ich selbst kann mangels Textkorpus auch nichts dazu sagen.[/quote]

Das könnte natürlich theoretisch sein: Die „Kiezler“ beherrschen die deutschen Pronomen und Artikel bestens, und ganz gezielt und selektiv verzichten sie auf deren Anwendung, wenn sie nicht nötig ist; aber sobald ihr Gebrauch der Semantik (Bedeutung der Sprache) willen angezeigt ist, verwenden sie sie stets und stets korrekt.

Lieber Maschendraht, wo lebst Du denn eigentlich? :wink: Hast Du noch nie zugehört, wenn „Kiezdeutsch“ gesprochen wurde?
Kiezdeutsch ist doch kein uns unbekanntes geheimnisvolles Alt-Assyrisch, über das wir nur mühsam anhand einiger kurzer Abhandlungen von Frau Wiese mühsam spekulieren können, ohne wirklich etwas Sicheres zum Inhalt sagen zu können.
Kiezdeutsch eine Sprache bzw. ein Slang, den wir doch alle kennen. „Kiezdeutsch“ ist schlichtweg eine Sammel-Bezeichnung für jene Sprachweisen, die vorwiegend von Menschen in Vierteln mit Migrationshintergund gesprochen werden und uns allen bekannt und vertraut sind. Und dass da oft eine stark simplifizierte Sprache herrscht, bei der ziemlich alles durcheinandergeht oder Präpsoitionen, Artikel usw. einfach mal weggelassen werden, das zu leugnen wäre doch geradezu weltfremd. (Und wie gesagt: Der Slang unterscheidet sich eh oft von Viertel zu Viertel, so dass da kaum Regelmößigkeit zu finden sein wird.)

Aber es hilft vielleicht auch ein Analogieschluss, indem man von den anderen Beispielen von Frau Wiese ausgeht. Wieses Beispiele bestätigen beispielsweise, dass Verben (ohne ökonomische Ersparnis) „semantisch gebleicht“ werden, so dass der entsprechende Ausdruck viel an inhaltlichem Sinn verliert und nur noch aus dem Kontext verstehbar ist. (Etwa „Machst Du rote Ampel“ statt „Geh bei roter Ampel“). So etwas ist ein guter Beleg für mangelnde Sprachkompetenz des Sprechers, denn wer eine Sprache gut spricht, der raubt den Ausdrücken nicht grundlos einen Großteil ihrer semantischen Bestimmtheit. Auch wenn man sich die anderen Beispiele ansieht, wird hier doch die fehelnde Sprachkompetenz deutlich. Und hieraus kann man dann analog schließen, dass diese manchmal in erheblichem Maße fehlende Kompetenz sich auch beispielsweise bei Präpositionen bemerkbar machen wird.
(Natürlich gibt es sicher auch Kiez-Sprecher, die gut Deutsch sprechen können und solche Konstruktionen vermeiden würden. Aber wenn man einfach alles sammelt zusammenschweißt, was in entsprechenden Vierteln so gesprochen wird, und unter einen einheitlichen Begriff fasst - und das tut Wiese offensichtlich - dann ist klar, dass da eben auch viel qualitativ Bedenkliches dabei ist.)

Nachtrag: Im Nachhinein habe ich übrigens doch noch eign nettes Beispiel gefunden (nach Wiese):
„Ich bin Thomas Mann.“
http://www.sueddeutsche.de/leben/jugend … .1278128-2

Im Hochdeutschen: „Ich bin an der Thomas-Mann-Haltestelle.“ Der Verlust (u.a.) der Präposition bedeutet hier eben sehrwohl einen Verlust an Eindeutuigkeit. Der Aussage-Gehalt des Satzes wird stark reduziert, und der Satz ist nur noch aus dem Zusammenhang heraus zu verstehen.
Und nach aller Vernunft und Wahrscheinlichkeit ist das nicht das einzigen Beispiele.

@ alle: Da ich zuletzt erwähnt hatte, dass die indogermanischen Sprachen sich ständig vereinfachen, möchte ich noch stärker als das letzte mal herausheben, dass dies nicht unbedingt einen Verlust an Semantik (Bedeutung der Sprache) impliziert. Wenn man beispielsweise den Genetiv aufgibt und statt „das Geld des Bankiers“ „das Geld vom Bankier“ sagt, dann ist das von der Semantik her gesehen eigentlich egal.

Anders ist es, wenn Präpositionen gestrichen werden, ohne dass ein Ersatz bestünde. „Gehst Du Brücke“ ist semantisch weniger bestimmt und somit inhaltlich ärmer als „geh zur Brücke“, „geh auf die Brücke“, „geh über die Brücke“ oder „geh unter die Brücke.“ (Und dieses Beispiel für das Weglassen einer wichtigen Präposition ist nicht abwegig; siehe oben das „Ich bin Thmas Mann“ -Beispiel.)

Aber mich würde wirklich ernsthaft interessieren, worin denn die Innovationen und „Bereicherungen“ des Kiezdeutsch bestehen. Wenn man „yallah“ sagt, dann ist das wohl weder eine große „Bereicherung“ noch eine große „Schädigung“ des Deutschen. Und dass die Grammatik ziemlich regellos wird und damit neue Formen entstehen, die dem allgemeinen Sprachgefühl widersprechen, vermag ich auch nicht eindeutig positiv zu werten. Und dass die Sprache oftmals semantisch verarmt ist, kann ich auch nicht als sinnvolle Innovation ansehen. Auch wenn ich Kiezeutsch nicht als Dialekt wie Sächsisch oder Schwäbisch, sondern als eine Mischung aus Jugendsprache, Slang und Pidgin betrachte, will ich es nicht schlichtweg abwerten; aber wieso man es als „Innovation“ feiern sollte, ist mir andererseits auch rätselhaft.

Übrigens scheint die Charakterisierung des Kiez-Deutschen als eine ziemlich regellose Sprache, anstatt einer, die einfach nur andere Regeln hat, durchaus zutreffend zu sein.

In einem kritischen Artikel (den man natürlich seinerseits kritisieren kann) wird Wieses Haltung wie folgt wiedergegeben:

Wiese kann ihre Begeisterung nicht verhehlen. Sie schwärmt: „Da gibt es dann auf einmal überhaupt keine Artikel mehr, keine Pronomen, und jedes Verb steht nur noch im Infinitiv.“ Auf den Einwand eines Journalisten des Bayerischen Rundfunks, daß das „trotzdem eine Vergröberung, eine Verkürzung, eine Vereinfachung unserer Sprache“ sei, antwortet sie: „Nein, das ist eine Weiterentwicklung.“

http://deutschesprachwelt.de/archiv/papier/DSW36.pdf

Hier stellt sich für mich nochmals die Frage, was man unter einer „Weiterentwicklung“ oder „Innovation“ eigentlich sonnvollerweise verstehen möchte. Wenn man jede „Neuentwicklung“ als Bereicherung ansieht, dann ist es natürlich in der Tat auch eine wertvolle Weiterentwicklung der deutschen Sprache, wenn sie einfach stark simplifiziert und reduziert wird, wenn es also „Ich gehen Ubahn“ heißt, ganz zur Begeisterung von Frau Wiese ohne Artikel, ohne Pronomen und das Verb im Infinitiv.

Wenn man eine solchermaßen syntaktisch wie semantisch verarmte Sprache als „Weiterentwickllung“ feiert, dann entsteht aber wirklich irgendwo der Verdacht, dass da sozialpolitische Gesichtspunkte in linguistische überlagern. Mich erinnert das Anpreisen der Sprachverarmung als Fortschritt wirklich an des „Kaisers neue Kleider“.
Tatsächlich scheint erst mal alles für ein Pidgin zu sprechen:

Pidgins entwickeln sich aus Jargons und dienen meistens nur sehr wenigen Zwecken, wie etwa der rudimentären Kommunikation für Handel, Arbeiten oder zwangsweise soziale Kontakte (etwa in Arbeitslagern). Sie haben somit einen eingeschränkten Funktionsbereich. Ihre Grammatik ist stark vereinfacht, der Sprachcode restringiert. Ein Großteil des gering umfassenden Vokabulars ist der Sprache entlehnt, die in der Sprachkontaktsituation die dominante Sprache ist (im Kolonisationskontext z. B. die Sprache der Herrschenden).

http://de.wikipedia.org/wiki/Pidgin-Sprachen

Als Grund dagegen, dass Kiezdeusch ein Pidgin sei, wird angeführt, dass es bevorzugt von Jugendlichen gesprochen würde, auch um sich abzugrenzen. Das widerspricht dann aber natürlich auch wieder der Dialekt-These.

Vielleicht hilft zur besseren Einordnung dies:

Dialekt, Argot und Jargon

Ein Dialekt ist eine regionale Varietät einer Sprache, die sich deutlich von anderen Varietäten der gleichen Sprache unterscheidet, die in anderen geographischen Gebieten verwendet werden. Innerhalb einer Gruppe von Menschen, die die gleiche Sprache sprechen, gibt es andere, von spezifischen Situationen oder sozialen Gruppen abhängige Sprachvarietäten. Menschen aus dem gleichen Umfeld oder mit dem gleichen Beruf können eine gemeinsame Sondersprache benutzen, die sie von anderen Menschen außerhalb ihrer Gruppe unterscheidet. Zu diesen Varianten der Umgangssprache gehören Argot, Jargon und Slang. Argot ist zum einen die Bezeichnung für die saloppe französische Umgangssprache, wird aber auch als Begriff für eine Sonder- oder Geheimsprache benutzt, die von sozialen Randgruppen verwendet wird, um sich von Außenstehenden abzugrenzen. Eine ebenso informelle, saloppe Variante der Umgangssprache ist der Slang. Er zeichnet sich besonders durch neuartige Verwendung des vorhandenen Vokabulars sowie durch Wortneuschöpfungen aus und wird ebenfalls von sozialen Gruppen verwendet. Slang wird oft mit Argot gleichgesetzt. […] Argot, Jargon und Slang sind schwer voneinander abzugrenzen – häufig werden die Begriffe gleichbedeutend verwendet.

Pidgin- und Kreolsprachen

So wie bei einer Sprache Varietäten in Form von Dialekten und Slang oder Jargon entstehen können, kann sie sich auch als Ganzes verändern (die verschiedenen romanischen Sprachen haben sich z. B. aus dem Lateinischen entwickelt). Der Kontakt von Menschen, die verschiedene Sprachen sprechen, führt manchmal zu einem rapiden Sprachwandel. Unter solchen Umständen kann sich eine Pidginsprache entwickeln. Pidginsprachen beruhen auf der Grammatik einer Sprache, werden aber vor allem im Wortschatz von anderen beeinflusst. Sie verfügen über ein vergleichsweise kleines Lautsystem, einen eingeschränkten Wortschatz und eine vereinfachte und veränderte Grammatik. Das Verstehen dieser Mischsprachen ist sehr stark kontextabhängig. Pidginsprachen entstanden vor allem in überseeischen Gebieten durch den Kontakt von Händlern mit Insel- und Küstenvölkern während der Kolonialisierung. Pidginsprachen sind keine Muttersprachen. Entwickelt sich eine Pidginsprache zur Muttersprache eines Volkes (z. B. indem die Kinder nur noch diese lernen), wird sie zur Kreolsprache. Sobald genügend Menschen die Kreolsprache sprechen, um eine Sprachgemeinschaft zu bilden, kann sie sich zu einer vollständig entwickelten Sprache ausbilden. Dies geschah mit Krio, der heutigen Nationalsprache im westafrikanischen Sierra Leone. Krio entstand aus einem ursprünglich auf Englisch basierendem Pidgin.

http://www.schultreff.de/referate/deutsch/r0196t00.htm

Demnach wäre „Kiezdeutsch“ wohl am ehesten als ein Jugendslang mit ausgeprägten Pidgin-Zügen zu charakterisieren.

(Wiese: „Die Regel, dass im Aussagesatz nur ein Satzglied vor dem finiten Verb stehen kann, scheint in Kiezdeutsch unter bestimmten Bedingungen außer Kraft gesetzt zu sein. Dort findet man neben den Verb-zweit-Sätzen, die auch im Standard vorkommen, ebenfalls Sätze, bei denen zwei Satzglieder vor dem finiten Verb stehen: ein Adverbial und das Subjekt (Adv SVO)“).

Die Regel des Standard ist unter bestimmten Bedingungen außer Kraft gesetzt. (Nämlich dann, wenn es sich um die Folge Adv S V O handelt). Das bedeutet aber mitnichten, dass man nun alles machen „kann“

Oder es kann auch einfach das Verb „sein“ gekippt werden („Was denn los hier?“„Ja, ich aus Wedding.“) Es kann aber auch weiter gebraucht werden.

Nein, es kann eben nicht „einfach“ gekippt werden, sondern unter einer bestimmten Bedingung: Wenn das Verb „sein“ ein Kopulaverb ist. (Dann hat es auch von vornherein keine Bedeutung)

Übrigens kann auch im Standard das Verb „sein“ manchmal weggelassen werden. Was nun…(die Worte „soll man“ kann man m. M. n. im Standard auch gerne mal weglassen: „Wohin gehen?“ „Wie darauf reagieren?“)

Es wird in jeder Sprache immer Möglichkeiten geben, wo der Sprecher wählen „kann“. Auch im Standard. Du kannst ein „r“ normal aussprechen, oder auch Rollen. Das hat keinerlei Einfluss auf die Bedeutung des Wortes. Du kannst Pizzas, aber auch Pizzen sagen. Du kannst sagen" Was denkst/glaubst du, dass sie geschrieben hat?“ oder du kannst auch sagen „Was denkst/glaubst du, was sie geschrieben hat?“ Das ist ganz normal für Sprachen und sagt nichts darüber aus, ob eine Sprache regelhaft ist oder nicht. Mittlerweile kann man auch „wegen dir“ statt „deinetwegen“ sagen und dazwischen wählen, wie man lustig ist.
Das zur „allgemeinen“ Möglichkeit im Sprachsystem zuweilen frei zu wählen. Innerhalb einer realen Konversation kann man jedoch nicht immer so frei wählen. So sind im Standard folgende Wortstellungen theoretisch möglich:
Ich möchte dieses Auto kaufen
Dieses Auto möchte ich kaufen
Kaufen möchte ich dieses Auto
Innerhalb einer Konversation kann man aber nicht in jedem Kontext jeden Satz verwenden, wenn man verstanden werden will, da man mit jedem dieser Sätze unterschiedliche Aspekte betont. Das zeigt einmal mehr, wie sehr Sprache vom Kontext immer abhängig ist. Ob die kiezdeutsche Variante innerhalb einer echten Unterhaltung also witklich beliebig eingesetzt wird, oder ob dies nur unter bestimmten Bedingungen im Kontext möglich ist, müsste wohl noch erforscht werden.

„Kiezdeutsch“ ist also ein Sammelbegriff für ziemlich vieles, aber keine einheitliche Sprache mit festen Regeln.

Das könntest du über „das Bayerische“ auch sagen, mit all seinen tausen Regionalsprachen und Dialekten. Es gelten halt nicht überall dieselben festen Regeln. :wink:

Die Wahrheit ist doch offensichtlich so: Diejenigen, die kein richtiges Deutsch konnten, haben mal grammatisch korrekte und mal falsche Sätze formuliert, und sich dabei vermutlich an der Grmmatik ihrer Ursprungssprachen orientiert. Dass diejenigen irgendwie groß über Informationsstrukturen nachgedacht haben, darf man wohl getrost als „unwahrscheinlich“ erachten.

Nur weil die Sprecher nicht über die Regeln nachdenken, heißt das nicht, dass sich die Sprecher nicht an besagten Regeln orientieren. Wir können Sprachen sprechen (namentlich unsere Muttersprache), ohne irgendetwas über Grammatik zu wissen. Wir können die Regeln alle nur intuitiv anwenden; das „warum“ der Regeln entzieht sich uns genauso wie den Migranten mit ihrem Kiezdeutsch. Wenn ich dich zum Beispiel Frage, ob es heißen muss „ich bin dir treu“ oder ob es heißen muss „ich bin treu dir“, dann hast du kein Problem, bis ich dich nach der dem Grund für diese Abfolge frage (die Antwort lautet „Kasusfilter“) Insofern magst du zwar Recht haben, dass die Strukturen des Kiezdeutsch unreflektiert entstanden sind. Das ändert aber nichts an der Regelhaftigkeit, solange man diese (empirisch) nachweisen kann. Die wissen zwar nichts über die Informationsstruktur, handeln aber danach, so wie wir uns täglich am Kasusfilter orientieren ohne je davon gehört zu haben.

Nur sollte man das Sprachgefühl einer Sprecher-Community dabei auch nicht einfach übergehen.
Wer tut das denn? Es zwingt einen ja niemand, genauso zu sprechen. Es geht mir nur darum, den Sprechern des Kiezdeutsch nicht die Tauglichkeit ihrer Sprache abzusprechen.

[quote]„uns“ und „wir“ werden also keiseswegs einfach verwechselt. Die aus unserer Sicht falsche Verwendung beruht darauf, dass im Kiezdeutschen eine andere Regel(!) herrscht, wie Vergleiche gebildet werden. Ich habe mal die anderen Beispiele in ihrem Text überflogen und tatsächlich kommt der ominöse Tausch von „wir“ zu „uns“ nur bei Vergleichen vor. Von Willkür kann also keine Rede sein.

Das ist Spekulation, denn natürlich kann es sehrwohl sein, dass es auch woanders vorkommt. [/quote]

Könnte ja. Das muss man dann aber auch zeigen. Es gibt eine (zugegeben sehr geringe) Menge an Beispielen, aus denen man besagte Regel ableiten kann. Natürlich muss man das auch empirisch untermauern. Wenn du jetzt allerdings nur sagst es „könnte“ auch Gegenbeispiele geben, dann bist du derjenige, der spekuliert. Es nützt nichts zu sagen, dass es abweichende Beispiele geben kann, wenn man keines findet.

Aber auch, wenn es (in diesem Fall mal) nicht willkürlich ist, dann folgt es eben völlig anderen Regeln als im Deutschen.

Hier machst es dir zu leicht, wenn du das Vorhandensein einer Regel einfach mal eben so als Ausnahme darstellst. Natürlich muss jede Regel einzeln nachgewiesen werden, aber wenn du sagst, dass alles beliebig ist, und dann kommt jemand und zeigt doch eine Regel, ist es doch sehr einseitig, wenn du dann durch die Blume sagst „ja, das zählt nicht, is` ne Ausnahme.“

Und zur semantischen Klarheit und Differenzierungskraft: Man kann auch mündlich im Standard-Deutschen eine sehr anspruchsvolle philosophische, wissenschaftliche oder literarische Diskussion führen, bei der sehr abstrakte Themen sehr punktgenau und mit feinen Unterscheidungen abgehandelt werden. Dies gilt analog auch für Dialekte. Und fürs Kiezdeutsche?

Käme auf einen Versuch an. Man müsste Leute, die das gut beherrschen und über einen gewissen Bildungshorizont verfügen, an einem Versuch teilnehmen lassen. Die, die das dann auswerten, müssten natürlich mit den Regeln des Kiezdeutschen vertraut sein (Linguisten beispielsweise), um überhaupt eine Beurteilung abgeben zu können. Selbst wenn dies aber nicht gelingen sollte, muss das nicht bedeuten, dass das Kiezdeutsche „minderwertig“ ist, da der alltägliche soziale Umgang dennoch mit dieser sprache sehr gut zu bewältigen sein dürfte (hier kommt es darauf an, aus welchem Grund dich diese Frage interessiert: gehört es für dich für eine „ordentliche“ Sprache zwingend dazu, dass man philosophische Diskussionen führen kann? Oder ist dies lediglich ein Indiz dafür, wie differenziert man sich damit ausdrücken kann. Wenn die Genauigkeit nicht für eine philosophische Diskussion ausreicht, bedeutet das noch längst nicht, dass sie für den Alltag zu ungenau/unregelmäßig ist. Aber ob das Kiezdeutsche überhaupt ungenauer ist, ist fraglich)

Man kann nicht von einzelnen Sätzen ausgehen, sondern muss einen längeren Ausschnitt betrachten, um dann den informationellen Gehalt zu vergleichen.

Mein Beispielsatz war ein typischer satz. So sieht gesprochenes Deutsch regelmäßig aus.

Nataürlich kann man Kiezdeutsch auch in gehobenes Schriftdeutsch übersetzen. Aber dann ist es kein Kiezdeutsch mehr. Hochdeutsch und Dialekte besitzen anders als das Kiezdeutsche eben auch
eine hochsprachliche Schriftform, die etwa Kultur und Wissenschaft unterstützt.

Bei vielen Dialekten und auch bei einigen informellen Gesprächen ist auch schon „Übersetzungsarbeit“ notwendig.

Wesentlicher aber ist vielleicht noch dieses: „Standard-Deutsch“ besteht nicht nur aus einer gesprochenen Sprache, die vom durckreifen Vortrag bis hin zur verwässetrten Umgangssprache reichen kann, sondern „Standard-Deutsch“ besitzt zudem eine gehobene Schriftsprache.

Alleine dass du die Umgangssprache als verwässert betrachtest, muss ich so deuten, dass du sie für defizitär hältst. Dabei muss man sich immer fragen, in welchem Kontext sie defizitär ist. Bei einem Vortrag an der Uni vielleicht, aber bei der Gruppenarbeit im Seminar vielleicht schon nicht mehr. Alltagssprache muss so sein, wie sie ist: würdest du in informellen Gesprächen nur druckreife Sätze sprechen, würde die Konversation nicht mehr funktionieren. (beispielsweise gäbe es Probleme bei der Zuweisung des Rederechts) Die aus syntaktischer Sicht fehlerhafte gesprochene Sprache hat System und Sinn. Die „verwässerte“ Umgangssprache ist das, was wir in Alltagsgesprächen brauchen, um das Gespräch auch organisieren zu können; es funktioniert also für den gedachten Zweck. Und das Schriftdeutsch funktioniert nach anderen Regeln, aber auch für seinen speziellen Zweck. Genau wie das Kiezdeutsch. Jede Sprachform hat ihren natürlichen Lebensraum, indem sie vorkommt und an dessen Anforderungen sie sich anpasst. Dass es keine „konzeptionell schriftliche“ Form des Kiezdeutschen gibt (also eine Sprachform, die „wie Schriftsprache“ aufgebaut ist) braucht die Anwender, die die Sprache für die soziale Interaktion benutzen, nicht weiter zu stören.

(Bezüglich Präpositionen: )

Das könnte natürlich theoretisch sein: Die „Kiezler“ beherrschen die deutschen Pronomen und Artikel bestens, und ganz gezielt und selektiv verzichten sie auf deren Anwendung, wenn sie nicht nötig ist; aber sobald ihr Gebrauch der Semantik (Bedeutung der Sprache) willen angezeigt ist, verwenden sie sie stets und stets korrekt.

Ich habe ja nicht gesagt, dass es dieselben Merkmale wie im Deutschen sein müssen. Aber das ist Spekulation. Wenn ich Zeit hätte, würde ich mir ja nen Korpus besorgen und untersuchen, aber das ist bei mir im Moment nicht drin.

Lieber Maschendraht, wo lebst Du denn eigentlich :wink: ?

Ich weiß nicht ob die Antwort, die du erwartest „hinterm Mond“ lautet oder ob sich die Frage tatsächlich auf meinen Wohnort bezieht :slight_smile: Jedenfalls habe ich diese Sprache schon gehört, auch wenn sie hier im Süden glaube ich nicht so häufig ist.

(Etwa „Machst Du rote Ampel“ statt „Geh bei roter Ampel“). So etwas ist ein guter Beleg für mangelnde Sprachkompetenz des Sprechers, denn wer eine Sprache gut spricht, der raubt den Ausdrücken nicht grundlos einen Großteil ihrer semantischen Bestimmtheit.

Oh, das sehe ich anders. Stell dir das mal vor: neulich habe ich tatsächlich jemanden an einer Ampel sagen hören „nicht über rot“. Und die konnte mit Sicherheit Deutsch. Also ich finde „machst du rote Ampel“ nicht besser oder schlechter als „über rot“. Die nun einmal bestehende Formulierung „über rot (gehen)“ ist semantisch deutlich verarmter als die „formal richtige“ Variante. Und doch wird das von uns allen so gesagt…

Nachtrag: Im Nachhinein habe ich übrigens doch noch eign nettes Beispiel gefunden (nach Wiese):
„Ich bin Thomas Mann.“
http://www.sueddeutsche.de/leben/jugend … .1278128-2

Im Hochdeutschen: „Ich bin an der Thomas-Mann-Haltestelle.“ Der Verlust (u.a.) der Präposition bedeutet hier eben sehrwohl einen Verlust an Eindeutuigkeit. Der Aussage-Gehalt des Satzes wird stark reduziert, und der Satz ist nur noch aus dem Zusammenhang heraus zu verstehen.

Schade nur, dass gerade das auch in der normalen Umgangssprache von manchen Deutschen so gesagt wird…(ich meine jedenfalls das irgendwo gelesen zu haben, aber ohne Garantie)

Auch wenn ich Kiezeutsch nicht als Dialekt wie Sächsisch oder Schwäbisch, sondern als eine Mischung aus Jugendsprache, Slang und Pidgin betrachte, will ich es nicht schlichtweg abwerten; aber wieso man es als „Innovation“ feiern sollte, ist mir andererseits auch rätselhaft.

Es ist halt ein schöner Betrachtungsgegenstand für Linguisten. Es geht nicht darum, dass das Einfluss auf den Standard nehmen soll. Es geht einfach darum zu sagen „ach guck mal; spannend, was unsere Sprache so alles hervorbringen kann“.

Zu den Begriffen Slang, Pidgin und Dialekt hatte ich mich ja schon kurz geäußert. Wie gesagt, diese Frage der Definition ist für mich nicht wichtig. Mir geht es darum zu prüfen, ob das das System die Regelhaftigkeit und „Wertigkeit“ besitzt, dass es für seinen natürlichen Entstehungs- und Verwendungsbereich praktikabel ist. Und das sehe ich beim Kiezdeutsch gegeben.

… aber wieso man es als „Innovation“ feiern sollte, ist mir andererseits auch rätselhaft.

Nun, Kiezdeutsch ist eine Innovation.
Innovation bedeutet soziologisch zunächst einmal nur eine Neuerung.
Die zusätzliche Bedeutung des Fortschritts hat sie nur in der wirtschaftlichen Wortbedeutung.

Es ist halt ein schöner Betrachtungsgegenstand für Linguisten. Es geht nicht darum, dass das Einfluss auf den Standard nehmen soll. Es geht einfach darum zu sagen „ach guck mal; spannend, unsere Sprache so alles hervorbringen kann“.

Ich würde dem noch hinzufügen, dass Kiezdeutsch Linguisten eine wunderbare Möglichkeit bietet, das Entstehen einer neuen Sprache / eines neuen Dialekts in vergleichsweise kurzer Zeit und am lebenden Objekt zu betrachten.
Kiezdeutsch befindet sich derzeit in einer Entwicklungsphase, die die meisten Sprachen schon seit Jahrhunderten hinter sich gelassen haben und die man bestenfalls noch an alten Texten nachvollziehen kann (aber eben in erster Linie für die Schriftsprache und nicht für die Alltagssprache).

Die Regel des Standard ist unter bestimmten Bedingungen außer Kraft gesetzt. (Nämlich dann, wenn es sich um die Folge Adv S V O handelt). Das bedeutet aber mitnichten, dass man nun alles machen „kann“

Ist das wirklich so? Wiese:

Machst du rote Ampel.
[= Du gehst bei „rot“ über die Straße.; vgl. auch oben zur Verb-erst-Stellung]

Auch ann würde gelten, dass die Beliebigkeit bzw. Wahlfreiheit nicht absolut wäre, aber wenigstens größer als im Standard-Deutschen. Ich sage in diesem Fall aber nicht, dass dies unbedingt „schlimm“ sein muss. Das ist etwas, was man auch nacch meinem Dafürhalten durchaus diskutieren kann. Eine zusätzliche neue Satzstellung ist nicht das größte „Problem“, das ich mit dem Kiezdeutsch verbinde. Hierzu müsste man aber dann mehr wissen, etwa wleche Satzstellungen nun genau hinzukämen und welche nicht, und was für Auswirkungen das dann hat usw. Nur ist wie gesagt mein Verdacht, dass da statt einer definierten neuen Form eine ziemliche Beliebigkeit herrscht, aber ohne Beweis kann ich da auch nur spekulieren und lasse es daher erst mal lieber, zumal die Satzstellung nie im Zentrum meiner Kritik stand.

[quote]Oder es kann auch einfach das Verb „sein“ gekippt werden („Was denn los hier?“„Ja, ich aus Wedding.“) Es kann aber auch weiter gebraucht werden.

Nein, es kann eben nicht „einfach“ gekippt werden, sondern unter einer bestimmten Bedingung: Wenn das Verb „sein“ ein Kopulaverb ist. (Dann hat es auch von vornherein keine Bedeutung)[/quote]

Na ja, „sein“ wird im Deutschen ja fast nur als Kopulaverb gebraucht, da ist der Unterschied zu meiner Formulierung dem Ergebnis nach nicht groß. :wink:

Übrigens kann auch im Standard das Verb „sein“ manchmal weggelassen werden. Was nun…(die Worte „soll man“ kann man m. M. n. im Standard auch gerne mal weglassen: „Wohin gehen?“ „Wie darauf reagieren?“)

Ja, nur scheint man im Kiezdeutschen das „sein“ manchmal zu gebrauchen und manchmal wegzulassen, und zwar auch in Zusammenhängen, in denen ein Subjekt des Satzes vorhanden ist (anders als in Deinen Beispielen) und nach dem deutschen Sprachempfinden das Kopulaverb da sein müsste.

Damit will ich gar nicht leugnen, dass man im Deutschen das „sein“ als Kopulaverb auch weglassen könnte. Nur ist das dann eine Sprache, die sich in einer ihrer Grundstrukturen derart vom Standard-Deutschen unterscheidet, wie kein Dialekt das tut. Das ist dann fast schon eine andere Sprache, jedenfalls dann, wenn auch noch andere Satzstellungen, andere Genera, fehlende Propositionen, fehlendes Subjekt usw. hinzutreten. Und wenn das Kopulaverb belibig gebraucht und weggelassen wird, und das ist offenbar der Fall (und auch sonst ziemliche Beliebigkeit herrscht), dann haben wir eben keine regelmäßige Sprache mehr vor uns.
(Der Wegfall der Verbkopula ist wahrscheinlich ein typsches Pidgin-Merkmal, da hier vermutlich der russische und arabische Einfluss eine Rolle spielt.)

Es wird in jeder Sprache immer Möglichkeiten geben, wo der Sprecher wählen „kann“. Auch im Standard. Du kannst ein „r“ normal aussprechen, oder auch Rollen. Das hat keinerlei Einfluss auf die Bedeutung des Wortes. Du kannst Pizzas, aber auch Pizzen sagen. Du kannst sagen" Was denkst/glaubst du, dass sie geschrieben hat?“ oder du kannst auch sagen „Was denkst/glaubst du, was sie geschrieben hat?“ Das ist ganz normal für Sprachen und sagt nichts darüber aus, ob eine Sprache regelhaft ist oder nicht. Mittlerweile kann man auch „wegen dir“ statt „deinetwegen“ sagen und dazwischen wählen, wie man lustig ist.

Natürlich. Aber diese Beliebigkeit geht eben nicht beliebig weit. Man kann beispielsweise im Deutschen nicht einfach einem Wort zwei verschiedene Genera zukommen lassen („mein Schule“ UND „meine Schule“) oder das Kopulaverb einfach mal benutzen oder nicht, oder in jedem Fall Artikel und Präpositionen weglassen oder benutzen, oder Sätze einfach mal im Infinitiv formulieren. Die Beleibigkeit im Kiezdeutschen geht tiefer. Und es ist auch nicht ein einzelnes Phänomen, sondern die Summe, die hier ausschlaggebend ist.
Und diese Änderungen sind offensichtlich alle entweder Simplifizierung oder Beleibigkeit; das hat wenig mit Innovation oder „Weiterentwicklung“ zu tun, jedenfalls nicht im üblichen Sinne des Wortgebrauchs.

Das zur „allgemeinen“ Möglichkeit im Sprachsystem zuweilen frei zu wählen. Innerhalb einer realen Konversation kann man jedoch nicht immer so frei wählen. So sind im Standard folgende Wortstellungen theoretisch möglich:
Ich möchte dieses Auto kaufen
Dieses Auto möchte ich kaufen
Kaufen möchte ich dieses Auto
Innerhalb einer Konversation kann man aber nicht in jedem Kontext jeden Satz verwenden, wenn man verstanden werden will, da man mit jedem dieser Sätze unterschiedliche Aspekte betont. Das zeigt einmal mehr, wie sehr Sprache vom Kontext immer abhängig ist. Ob die kiezdeutsche Variante innerhalb einer echten Unterhaltung also witklich beliebig eingesetzt wird, oder ob dies nur unter bestimmten Bedingungen im Kontext möglich ist, müsste wohl noch erforscht werden.

Dass man hier im Deutschen verschiedene Formulierungen gebrauchen kann, hat insbesondere auch mit den Flexionen und Kasus zu tun - und die gehen im Kiezdeutschen ja offensichtlich oft verloren:, was unbestritten ist (und auch von Frau Wiese explizit erörtert wird).

Aber in einem gewissen Sinne hast Du recht. Sprache lebt fast immer auch vom Kontext und nicht nur von ihrem semantischen Gehalt. Nur darf man daraus, dass zwei Digen (Hochdeutsch und Kiezdeutsch) eine bestimmte Eigenschaft (Kontextabhängigkeit) zukommt, nicht schließen, dass sie beiden in demselben Maße zukommt; oder dass das Maß, indem sie dem einen, nicht aber dem anderen Ding zukommt, irrelevant wäre.

Ein Muttersprachler reduziert den semantischen Gehalt von Ausdrücken nicht sinnloserweise. Wenn er sich so ausdrückt, dass wesentliche inhaltliche Informationen verlorengehen, dann nur, wenn der Satz dadurch wesentlich kürzer wird. Ein Deutscher würde daher kaum sagen: „Gehst Du Brücke“, sondern „geh zur Brücke“ („geh auf die Brücke“, „geh über die Brücke“, „geh unter die Brücke“). Beide Ausdrücke beinhalten drei Silben, aber der zweite ist semantisch wesentlich bestimmter und damit informativ reicher. Wenn im Kiezdeutschen etwas verkürzt wird, dann entsteht oft nur eine geringer oder überhaupt keine Zeitersparnis bei gleichzeitigem erheblichem semantischen Verlust.
Oder denke an die bekannten „Mach ich Dich Messer“ und „gehst Du rote Ampel“-Beispiele.

Oh, das sehe ich anders. Stell dir das mal vor: neulich habe ich tatsächlich jemanden an einer Ampel sagen hören „nicht über rot“. Und die konnte mit Sicherheit Deutsch. Also ich finde „machst du rote Ampel“ nicht besser oder schlechter als „über rot“. Die nun einmal bestehende Formulierung „über rot (gehen)“ ist semantisch deutlich verarmter als die „formal richtige“ Variante. Und doch wird das von uns allen so gesagt…

Der Muttersprachler lässt semantisch wichtige Elemente weg, um des Satz wesentlich zu verkürzen; er ersetzt aber nicht semantisch aussagekräftige durch semantisch nichtssagende Vokabeln, ohne dass dies zu einer (nenenswerten) Verkürzung des Satzes und damit einer ökonomischen Ersparnis führen würde.

„Bei rot“ ist als Ausdruck zwar kurz und semantisch unterbestimmt, aber ohne eine sinnlose Bleichung bzw. Reduktion von Semantik.
Anderes Beispiel: „Geh bei roter Ampel“. Das ist silbenmäßig genau so kurz wie „Machst Du rote Ampel“. Es ist aber semantisch wesentlich gehaltvoller. Ich könnte auch weiter verkürzen und sagen: „Geh bei rot“. Das ist semantisch stark reduziert und nur aus dem Kontext verständlich. Ich würde aber nicht sagen: „Machst Du rot“. Denn beide Ausdrücke sind zwar dreisilbig, beide sind kontextabhängig, beide semantisch unvollständig; aber der zweite verliert noch zusätzlich wesentlichen semantischen Sinngehalt, und zwar völlig unnötig.

Solche Verkürzungen oder semantischen Bleichungen wie im Kiezdeutschen wird man nie von einem Muttersprachler hören, auch dann nicht, wenn er „klassische“ Jugendsprache spricht oder sich salopp und kurz ausdrückt. Entsprechend würde kein Muttersprachler „Mach ich Buch“ sagen, wenn er - je nach Fall - zum Ausdruck bringen will, dass er ein Buch liest, kauft, schreibt usw. Er würde vielleicht sagen. „Ich les’ das Buch“; das ist genau so kurz, aaber semantisch viel bestimmter. Oder man würde auch nicht „mache ich Forum“ sagen, wenn jemand ausdrücken will, dass er im Forum liest, schreibt, ein Forum berteibt, moderiert oder sonst etwas damit „macht“. So etwas ist einfach - semantisch betrachtet - kein gutes Deutsch.

So etwas wie in diesen oder gerne auch den Original-Beispielen nach Wiese wird man übrigens auch in keiner anderen Sprache finden („Make you red traffic light“).

Eine Ausnahme wäre vielleicht gegeben, wenn so ein Ausdruck eine festgelegte Bedeutung hätte und daher zusammen mit dem Hintergrundwissens des Sprechers semantisch doch gehaltvoll wäre; genau dies ist bei unseren Kiezdeeutsch-Beispielen aber nicht der Fall, was übrigens von Wiese zurecht ausdrücklich betont wird. (Sie führt dann mehrere Vergleichs-Beispiel wie „Pfötchen geben“ an, die jedoch allesamt semantisch ungebleichte Verben beinhalten, und stellt sie in dieselbe Ecke wie die Kiez-Beispiele; dafür habe ich sie bereits eingehend kritisiert. Siehe dazu folgenden Beitrag von mir ganz unten:
viewtopic.php?f=15&t=10587&start=30 )

Zusammenfassend: Dass Sprache oftmals semantisch unterbestimmt ist und daher kontextabhängig ist also klar; daraus folgt aber durchaus nicht, dass es in dieser Hinsicht keine bedeutenden Unterschiede gäbe. Die gibt es schon:
Sprachliche Ausdrücke von vergleichbarer oder identischer Länge können semantisch gesehen vergeichsweise ausdrucksvoll oder gehaltlos sein. Und da es semantisch verdünnte Ausdrücke im Kiezdeutschen offenbar oft gibt (Präpositionen, Bleichungen usw.), gilt auch, dasss Kiezdeutsch ggü. dem Standard-Deutschen semantisch „verarmt“/reduziert ist. (Das mag übrigens durchaus Sinn machen, und zwar für andere Sprecher, die ebenfalls die Sprache nicht so gut beherrschen. Deshalb ist das „verarmt“ kein allgemein negatives Urteil, sondern eine Tatsachenfeststellung.)

[quote]„Kiezdeutsch“ ist also ein Sammelbegriff für ziemlich vieles, aber keine einheitliche Sprache mit festen Regeln.

Das könntest du über „das Bayerische“ auch sagen, mit all seinen tausen Regionalsprachen und Dialekten. Es gelten halt nicht überall dieselben festen Regeln. ;)[/quote]

Vielleicht hast Du recht, aber meine Wette wäre, dass dies beim Kiezdeutschen noch wesentlich ausgeprägter ist; denn hier treffen ja verschiedene Mutter-Sprachen aufeinander, die den jeweiligen Kiez-Slang formen.

Nur weil die Sprecher nicht über die Regeln nachdenken, heißt das nicht, dass sich die Sprecher nicht an besagten Regeln orientieren. Wir können Sprachen sprechen (namentlich unsere Muttersprache), ohne irgendetwas über Grammatik zu wissen. Wir können die Regeln alle nur intuitiv anwenden; das „warum“ der Regeln entzieht sich uns genauso wie den Migranten mit ihrem Kiezdeutsch. Wenn ich dich zum Beispiel Frage, ob es heißen muss „ich bin dir treu“ oder ob es heißen muss „ich bin treu dir“, dann hast du kein Problem, bis ich dich nach der dem Grund für diese Abfolge frage (die Antwort lautet „Kasusfilter“) Insofern magst du zwar Recht haben, dass die Strukturen des Kiezdeutsch unreflektiert entstanden sind. Das ändert aber nichts an der Regelhaftigkeit, solange man diese (empirisch) nachweisen kann. Die wissen zwar nichts über die Informationsstruktur, handeln aber danach, so wie wir uns täglich am Kasusfilter orientieren ohne je davon gehört zu haben.

Da hast Du natürlich völlig recht, und vielleicht habe ich mich da auch etwas missverständlich ausgedrückt. Man könnte aber von manchen Darstellungen den Eindruck gewinnen, dass das Kiezdeutsch deswegen so entstanden ist, weil die Sprecher logischer denken als die Deutschsprachigen. Wiese hat explizit die Informationsstruktur Kiezdeutscher Satzsstellungen als „logischer“ bezeichnet als die standarddeutsche.

In manchen Bereichen sind sie logischer oder systematischer. Ein Beispiel das aus dem Kiezdeutsch bekannt ist, ist das es eine andere Art der Wortstellung hat wie „vorhin ich war noch zuhause, jetzt ich bin hier“. Wenn man sich das aus der Sicht der Informationsstruktur ansieht, also wie verpacke ich Informationen, dann ist das sinnvoller. Ich möchte erstmal sagen, wann etwas passiert also „jetzt“, dann um wen es geht „mich“ und dann was passiert „hier sein“. Diese Satzstellung verwendete man im Deutschen bereits vor ein paar hundert Jahren. Es gibt Texte in denen steht: „Danach die edle Königin fuhr nach Ungarn.“ Kiez-Deutsch bringt uns diese Möglichkeit wieder zurück. Das hatten wir verloren in der Sprachgeschichte und haben es jetzt wieder.

http://www.european-circle.de/applausal … alekt.html

Worauf ich hinauswill: Die Informationsstruktur ist ziemlich arbiträr, und man kann es so oder so halten. Es ist nicht so, dass die „Kiezdeutschen“ sich eine bessere Informationsstruktur überlegt oder auch rein intuitiv-unbewußt geschaffen haben , sondern dass sie eben einfach die arbiträre Struktur ihrer eigenen Sprache übernommen haben.

[quote]Nur sollte man das Sprachgefühl einer Sprecher-Community dabei auch nicht einfach übergehen.
Wer tut das denn? Es zwingt einen ja niemand, genauso zu sprechen. Es geht mir nur darum, den Sprechern des Kiezdeutsch nicht die Tauglichkeit ihrer Sprache abzusprechen.[/quote]

Seine funktionelle Tauglichkeit will ich dem Kiezdeutschen genau so wenig absprechen wie einem anderen Pidgin oder einer Jugendsprache. Aber zu der Frage, wer das Sprachgefühl übrgeht: Frau Wiese, finde ich:

Wir finden in Kiezdeutsch grundsätzlich nicht bloß sprachliche Vereinfachung, sondern auch eine produktive und innovative Erweiterung des Standarddeutschen: Kiezdeutsch nutzt die Möglichkeiten, die das Deutsche im Bereich von Grammatik und Wortschatz bietet, und baut sie aus. Besonders genutzt werden hierbei Entwicklungen des Deutschen, die sich in der gesprochenen Sprache und in informellen Situationen zeigen.[…]
Hier liegt das innovative Potenzial von Kiezdeutsch. Oft entstehen neue grammatische Muster durch den Einfluss der „Informationsstruktur“, d.h. der Art und Weise, wie die Information, die ein Satz liefert, sprachlich verpackt wird: Durch seine größere grammatische Offenheit bietet Kiezdeutsch im Vergleich zum Standarddeutschen oft neue Möglichkeiten, Information besonders deutlich und/oder effizient zu strukturieren.

http://www.kiezdeutsch.de/sprachlicheneuerungen.html

Wiese kann ihre Begeisterung nicht verhehlen. Sie schwärmt: „Da gibt es dann auf einmal überhaupt keine Artikel mehr, keine Pronomen, und jedes Verb steht nur noch im Infinitiv.“ Auf den Einwand eines Journalisten des Bayerischen Rundfunks, daß das „trotzdem eine Vergröberung, eine Verkürzung, eine Vereinfachung unserer Sprache“ sei, antwortet sie: „Nein, das ist eine Weiterentwicklung.“

http://deutschesprachwelt.de/archiv/papier/DSW36.pdf

Wenn man das zusammenbetrachtet mit der Aussage, dass Kiezdeutsch oftmals sogar logischer als das Standard-Deutsch sei, und wenn hier ständig von „Weiterentwicklungen“, „Innovationen“, überlegener Informationsstruktur und „Bereicherung“ die Rede ist, dann hat man irgendwann das Gefühl, dass das Kiezdeutsche nach Wieses Wunsch das Standardeutsche eigentlich doch beglücken sollte, selbst wenn sie das nicht explizit so sagt. Allerdings sagt sie:

Kiez-Deutsch bringt uns diese Möglichkeit [Satzstellung]wieder zurück. Das hatten wir verloren in der Sprachgeschichte und haben es jetzt wieder.

http://www.european-circle.de/applausal … alekt.html

Das erweckt durchaus den Eindruck, dass die Innovationen des Kiezdeutsch je nachdem „uns“ allen zugute kommen sollen.

Maschendraht:

„uns“ und „wir“ werden also keiseswegs einfach verwechselt. Die aus unserer Sicht falsche Verwendung beruht darauf, dass im Kiezdeutschen eine andere Regel(!) herrscht, wie Vergleiche gebildet werden. Ich habe mal die anderen Beispiele in ihrem Text überflogen und tatsächlich kommt der ominöse Tausch von „wir“ zu „uns“ nur bei Vergleichen vor. Von Willkür kann also keine Rede sein.

Enio:

Das ist Spekulation, denn natürlich kann es sehrwohl sein, dass es auch woanders vorkommt.

Maschendraht:

Könnte ja. Das muss man dann aber auch zeigen. Es gibt eine (zugegeben sehr geringe) Menge an Beispielen, aus denen man besagte Regel ableiten kann. Natürlich muss man das auch empirisch untermauern. Wenn du jetzt allerdings nur sagst es „könnte“ auch Gegenbeispiele geben, dann bist du derjenige, der spekuliert. Es nützt nichts zu sagen, dass es abweichende Beispiele geben kann, wenn man keines findet.

Nein, denn ich sage nicht, dass Deine These von der Regelmäßigkeit falsch sein muss, sondern nur, dass sie möglicherweise falsch ist; dass sie letztlich unbewiesen und damit spekulativ ist. Denn aus Wieses Text lässt sich nur ableiten, dass es bestimmte Formen gibt, aber keineswegs, dass diese die einzigen sind. Wiese selbst spricht einfach nur einige Beispiele und Möglichkeiten an, ohne irgendeinen Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben. Und angesichts der anderen vielen Unregelmäßigkeit ist es wenigstens „durchaus möglich“, dass auch bei dem „wir/uns“-Fall Unregelmäßigkeit herrscht, wenn es damit natürlich auch nicht bewiesen ist. Mehr als die (nicht unplausible ) Möglichkeit behaupte ich aber auch nicht. Deswegen ist/wäre die Beweislast bei Dir, falls Du Deine ursprüngliche These als Tatsache behauptest, und nicht nur als eine Möglichkeit (was ich zugestehe).

[quote]Aber auch, wenn es (in diesem Fall mal) nicht willkürlich ist, dann folgt es eben völlig anderen Regeln als im Deutschen.

Hier machst es dir zu leicht, wenn du das Vorhandensein einer Regel einfach mal eben so als Ausnahme darstellst. Natürlich muss jede Regel einzeln nachgewiesen werden, aber wenn du sagst, dass alles beliebig ist, und dann kommt jemand und zeigt doch eine Regel, ist es doch sehr einseitig, wenn du dann durch die Blume sagst „ja, das zählt nicht, is` ne Ausnahme.“[/quote]

Es mag durchaus eine Reihe von Regeln geben, und das will ich nicht bestreiten. Nach allem, was jedoch nach der Lektüre von Wieses Text mein Eindruck ist, sowie auch nach meiner Erfahrung, gibt es dennoch zu wenige Regeln in wichtigen Bereichen. Wesentliche Grundstrukturen der Sprache sind offenbar relativ regellos, siehe oben. Und das ist bedeutend, auch wenn es andere gut geregelte Bereiche geben mag, was ich nicht ausschließen will.

[quote]Und zur semantischen Klarheit und Differenzierungskraft: Man kann auch mündlich im Standard-Deutschen eine sehr anspruchsvolle philosophische, wissenschaftliche oder literarische Diskussion führen, bei der sehr abstrakte Themen sehr punktgenau und mit feinen Unterscheidungen abgehandelt werden. Dies gilt analog auch für Dialekte. Und fürs Kiezdeutsche?

Käme auf einen Versuch an. Man müsste Leute, die das gut beherrschen und über einen gewissen Bildungshorizont verfügen, an einem Versuch teilnehmen lassen. Die, die das dann auswerten, müssten natürlich mit den Regeln des Kiezdeutschen vertraut sein (Linguisten beispielsweise), um überhaupt eine Beurteilung abgeben zu können.[/quote]

Sorry, ist das aber jetzt nicht etwas unrealistisch? :wink: „Ischwör dir, machst Du rote Ampel und isch mach Disch Messer, lan“ ist keine wissenschaftstaugliche Sprache. Wenn man das Kiezdeutsche so benutzen wollte, dass man damit problemlos eine intellektuelle Diskussion führen könnte, dann müsste man es so stark erweitern und verändern, dass es kein Kiezdeutsch mehr ist. Viele Vokabeln, die kein Kiezdeutscher beim Kiezdeutsch-Sprechen benutzt, müssten hinzugefügt werden; viele mehrdeutige unpräzise und umgangssprachliche Ausdrücke, wie sie für das kiezdeutsch charakteritisch sind, müssten gestrichen und ersetzt werden.
Dasselbe gilt übrigens auch für „grobe“ Umgangssprache oder besonders auch für Jugendsprache generell. Solche Sprachen sind für einen eingeschränkten Funktionsbereich da, und wenn man sie für ganz andere Zwecke benutzen will, dann muss man sie so weit verändern und soviele hochsprachliche Elemente hinzufügen, dass sie keine typische Umgangs- oder Jugendsprache mehr sind, sondern bestenfalls eine erstaunliche Mischung.

Selbst wenn dies aber nicht gelingen sollte, muss das nicht bedeuten, dass das Kiezdeutsche „minderwertig“ ist,

Natürlich nicht! Es folgt lediglich, dass es sich hier um eine Umgangssprache, aber nicht um eine Hochsprache oder einen hochsprachlichen Dialekt handelt. Damit ist auch noch nichts Schlechtes gesagt, es sei denn man wollte jede Umgangs- oder Jugendsprache negativ bewerten.

…da der alltägliche soziale Umgang dennoch mit dieser sprache sehr gut zu bewältigen sein dürfte (hier kommt es darauf an, aus welchem Grund dich diese Frage interessiert: gehört es für dich für eine „ordentliche“ Sprache zwingend dazu, dass man philosophische Diskussionen führen kann? Oder ist dies lediglich ein Indiz dafür, wie differenziert man sich damit ausdrücken kann.

Genau!Es kommt darauf an, was eine Sprache leisten wil und soll!Die Umgangssprache der Arbeiter auf dem Bau oder der Jugendlichen im Kiez (oder auf dem urdeutschen Dorf) dient der alltäglichen und im Fall des Kiez auch der sprachübergreifenden Verständigung.
Dafür ist sie da, und nicht um anspruchsvolle Wissenschaft, Kultur oder Philosophie zu produzieren. Wenn man solche Sprachen im Hinblick auf ihre eignen Zwecke beurteilt, sind sie tauglich und nützlich. Es macht aber nun wenig Sinn, die mit der Hochsprache oder hochsprachlichen Dialekten zu vergleichen, denn so ein Vergleich ist unangemessen. Wie kann man besser exakte Wissenschaft betreiben? In einem ausgeprägten Jugendjargon oder im typischen „Wissenschaftshochdeutsch“? Eine unsinnige Frage, ein unsiniger Vergleich.

Aber genau den stellt Wiese im Fall des Kiezdeutschen an. Sie vergleicht Kiezdeutsch expklizit mit dem Standarddeutschen und bezeichnet es als logisch oftmals überlegen - und sie stellt Kiezdeutsch als einen hochsprachlichen Dialekt neben anderen dar.
Und wenn man Kiezdeutsch nun mit der Hochsprache vergleicht, dann bietet sich natürlich ein Vergleich auch hinsichtlich der wesentlichen Funktionen der Hochsprache an: Also auch gepflegter Konversation, diffiziler Diskussionen, Wissenschaft, Kultur, Philosophie. Und da kann Kiezdeutsch nun natrlich nicht mithalten. Nur finde ich einen solchen Vergleich von vornherein unangemessen.

Ich würde Kiezdeutsch auch nicht unbedingt mit muttersprachlichen Jargons/Slangs vergleichen wollen, denn Kiezdeutsch ist offenbar wesentlich ein Pidgin. Es ist ganz anders entstanden als andere Umgangssprechen, und es hat auch eine wesentlich andere Verständigungsfunktion, nämlich das Sprechen von Menschen mit verschiedenen Muttersprachen zu ermöglichen. Und insofern ist es sicher sinnvoll und nützlich. Nur wenn man es denn unbedingt mit anderen Jargons vergleicht, wird man beispielsweise eine starke Simplifizierung, eine semantische Unterbestimmtheit und eine funktionale Einschränkung konstatieren müssen.
Solche Vergleiche sind aber gar nicht sinnvoll, sondern man sollte eine Sprache nach dem zu beurtilen, wofür sie da ist und was sie leisten will.

Den Fehler sehe ich also bei Frau Wiese, die Kiezdeutsch nicht einfach als eine bestimmte (durchaus interessante) Pidgin-Jugendsprache darstellt, sondern wie eine Hochsprache behandelt. Vielleicht sind wir also inhaltlich gar nicht so weit von einander weg: Wenn man Kiezdeutsch nach dem ihm adäquaten Maßstäben beurteilt, dann mag das Urteil durchaus positiv sein; mit dem Hochdeutschen vergleichen fällt es nach neheliegenden Kriterien hingegen nicht positiv aus, aber der Vergleich selbst ist fragwürdig bzw. unangemessen.

Wenn die Genauigkeit nicht für eine philosophische Diskussion ausreicht, bedeutet das noch längst nicht, dass sie für den Alltag zu ungenau/unregelmäßig ist.
Aber ob das Kiezdeutsche überhaupt ungenauer ist, ist fraglich)

Das kommt hier wie gesagt ganz darauf an, wie man Kiezdeutsch definiert: Als jene von Frau Wiese intendierte Alltagssprache mit ihrer Struktur und ihrem Wortschaftz, die man in Kiezvierteln findet? Oder eine davon abgeleitete, aber wesentlich veränderte, präzisierte und reichere Sprache, wie man ihr nirgendwo im Kiezbegenen wird? Hier gilt dasselbe wie für eine rein deutsche Jugendsprache: Sie ist nicht für Wissenschaft gemacht, und wenn man sie so verwenden will, dass sie für die Wissenschaft genau so geeignet wie Hochdeutsch ist, dann wäre sie kaum mehr wiederzuerkennen. Vieles, was charakteristisch ist, müsste verschwinden, und vieles, was unytpisch ist, hinzutreten.

Kiezdeutsch als das, was man üblicherweise darunter versteht, ist also sicher nicht sonderlich für intellektuelles Schaffen oder diffizile absrakte Diskussionen geeinet. Aber das ist ja auch nicht schlimm. Kiezdeutsch und Jugendsprache wollen ja auch keine Hochsprache sein, und auch nicht das Kommunikationsinstrument von Wissenschaftlern und Philosophen, Denkern und Dichtern, sondern im Alltag der Verständigung dienen (und Abgrenzung im Fall der Jugendsprache)!

Man kann nicht von einzelnen Sätzen ausgehen, sondern muss einen längeren Ausschnitt betrachten, um dann den informationellen Gehalt zu

[quote]Mein Beispielsatz war ein typischer satz. So sieht gesprochenes Deutsch regelmäßig aus.
[/quote]

Das bestreite ich nicht. Aber: Um zu vergleichen, ob zwei Sprachen semantisch gleich aussdrucksstark sind, muss man zwei typische Texte vergleichbarer Länge betrachten. Denn es kann durchaus sein, dass einige Sätze jeweils informativ gleichwertig sind, andere nicht. Um die Sprache als Ganze nach ihrem Informationsgehalt zu beurteilen, bedarf es daher einer größeren Vergleichsbasis. Und da das Kiezdeutsche oftmals semantisch reduziert ist, ergibt sich die Antwort in diesem Fall auch klar.

[quote]Nataürlich kann man Kiezdeutsch auch in gehobenes Schriftdeutsch übersetzen. Aber dann ist es kein Kiezdeutsch mehr. Hochdeutsch und Dialekte besitzen anders als das Kiezdeutsche eben auch
eine hochsprachliche Schriftform, die etwa Kultur und Wissenschaft unterstützt.

Bei vielen Dialekten und auch bei einigen informellen Gesprächen ist auch schon „Übersetzungsarbeit“ notwendig.[/quote]

Ja, aber umganssprachliches Hochdeutsch ist dem geschriebenen Hochdeutsch näher als das beim Kiezdeutsch der Fall ist, und geschriebener Dialekt dem Umnags-Dialekt näher. Und es gibt jeweils im Hochdeutschen und im Dialekt eine gehobenere Schriftform, im Kiezdeutschen nicht (jd in Jugendsprachen allgemein nicht).

Alleine dass du die Umgangssprache als verwässert betrachtest, muss ich so deuten, dass du sie für defizitär hältst. Dabei muss man sich immer fragen, in welchem Kontext sie defizitär ist. Bei einem Vortrag an der Uni vielleicht, aber bei der Gruppenarbeit im Seminar vielleicht schon nicht mehr. Alltagssprache muss so sein, wie sie ist: würdest du in informellen Gesprächen nur druckreife Sätze sprechen, würde die Konversation nicht mehr funktionieren. (beispielsweise gäbe es Probleme bei der Zuweisung des Rederechts) Die aus syntaktischer Sicht fehlerhafte gesprochene Sprache hat System und Sinn. Die „verwässerte“ Umgangssprache ist das, was wir in Alltagsgesprächen brauchen, um das Gespräch auch organisieren zu können; es funktioniert also für den gedachten Zweck. Und das Schriftdeutsch funktioniert nach anderen Regeln, aber auch für seinen speziellen Zweck. Genau wie das Kiezdeutsch. Jede Sprachform hat ihren natürlichen Lebensraum, indem sie vorkommt und an dessen Anforderungen sie sich anpasst. Dass es keine „konzeptionell schriftliche“ Form des Kiezdeutschen gibt (also eine Sprachform, die „wie Schriftsprache“ aufgebaut ist) braucht die Anwender, die die Sprache für die soziale Interaktion benutzen, nicht weiter zu stören.

Das kann ich eigentlich alles unterschreiben. Nur als kleine Anmerkung: Ich hatte gesagt, dass mündliche Sprache vom druckreifen Vortrag bis zur „verwässerten“ Umgangspsprache gehen kann. Sonst würde ich nur eines hinzufügen: Ja zu alledem was Du sagst, nur sollte man nicht Birnrn mit Äpfeln vergleichen, nicht Pidgin-Umgangssprache (oder überhaupt Umganssprache) mit dem Standard-Deutsch, das auch, aber nicht nur eine Umgangssprache ist.

[quote]Lieber Maschendraht, wo lebst Du denn eigentlich :wink: ?

Ich weiß nicht ob die Antwort, die du erwartest „hinterm Mond“ lautet oder ob sich die Frage tatsächlich auf meinen Wohnort bezieht :slight_smile: Jedenfalls habe ich diese Sprache schon gehört, auch wenn sie hier im Süden glaube ich nicht so häufig ist.
[/quote]

:smiley: Dann sollte Dir aber auch bewusst sein, dass diese Sprache relativ einfach und vereinfacht ist, auch hinsichtlich Präpositionen, auch ohne dass man Bücher zum Thema gelesen hat. :wink:

„Ich bin ThomasMann“ anstatt „ich bin an der Thomas-Mann-Haltestelle“.

Schade nur, dass gerade das auch in der normalen Umgangssprache von manchen Deutschen so gesagt wird…(ich meine jedenfalls das irgendwo gelesen zu haben, aber ohne Garantie)

Das empfinde ich so oder so nicht als gutes Deutsch. Ob es nun im Kiezdeutschen oder sonst wo vorkommt.

[quote]Auch wenn ich Kiezeutsch nicht als Dialekt wie Sächsisch oder Schwäbisch, sondern als eine Mischung aus Jugendsprache, Slang und Pidgin betrachte, will ich es nicht schlichtweg abwerten; aber wieso man es als „Innovation“ feiern sollte, ist mir andererseits auch rätselhaft.

Es ist halt ein schöner Betrachtungsgegenstand für Linguisten. Es geht nicht darum, dass das Einfluss auf den Standard nehmen soll. Es geht einfach darum zu sagen „ach guck mal; spannend, was unsere Sprache so alles hervorbringen kann“.[/quote]

Siehe dazu oben: Viele Äußerungen von Frau Wiese legen zumindest sehr nahe, dass die „Innovationen“ des „logisch oftmals überlegenen“ Kiezdeutschen die deutsche Sprache bereichern sollen. Dass Linguisten das Kiezdeutsche erforschen stört mich allerdings nicht!

Zu den Begriffen Slang, Pidgin und Dialekt hatte ich mich ja schon kurz geäußert. Wie gesagt, diese Frage der Definition ist für mich nicht wichtig. Mir geht es darum zu prüfen, ob das das System die Regelhaftigkeit und „Wertigkeit“ besitzt, dass es für seinen natürlichen Entstehungs- und Verwendungsbereich praktikabel ist. Und das sehe ich beim Kiezdeutsch gegeben.

Ich denke, da haben wir einen Konsens.
Dabei würde ich meine Kritik übrigens im Nachhinein etwas modifizieren und ihr eine andere Reichtung geben. Ich hatte immer gesagt, dass Kiezdeutsch innerhalb seines Funktionsbereichs nüzlich, sinnvoll und legitim sein kann. ich hatte aber auch gesagt, dass es m.E. - gemessen am Standard-Deutsch - ein „schlechtes Deutsch“ sei.

ich würde es nun eher so formulieren: Kiezdeutsch hat eine völlig andere Entstehung und vor allem Funktion als das Hochdeutsch und andere hochdeutsche Dialekte: Es dient der Verständigung von Menschen mit oftmals nur beschränkten Deutsch-Kenntnissen und verschiedenen Muttersprachen sowie dem Ausdruck einer Jugendkultur. Und so ist das auch absolut okay. Es macht hingegen wenig Sinn, hier einen „wertenden“ Vergleich zum Hochdeutschen und anderen hochdeutschen Dialekten zu ziehen, denn diese haben wiederum eine ganz andere Entstehung, vor allem aber ganz andere Funktionen.

Frau Wiese zieht allerdings solche Vergleiche, allein dadurch, dass sie das Kiezdeutsche als die angebliche häufige logische Überlegenheit gegenüber dem Hochdeutschen betont und es wie einen ganz normalen hochsprachlichen Dialekt behandelt („Was für mich am spannendsten war, ist, dass es ein ganz typischer deutscher Dialekt ist.“ , link siehe unten.) Hier setzt nun auch meine (reformuierte, aber doch ähnliche) Kiritk an.

Ungeachtet dessen halte ich es für wichtig, dass Jugendliche zumindest neben dem kiezdeutschen auch gutes Hichdeutsch lernen, und zwar im eigenen Interesse.

@ Librarian:

Nun, Kiezdeutsch ist eine Innovation.
Innovation bedeutet soziologisch zunächst einmal nur eine Neuerung.
Die zusätzliche Bedeutung des Fortschritts hat sie nur in der wirtschaftlichen Wortbedeutung.

Das entspricht m.E. nicht dem allgemeinen Sprachgefühl; „Innovation“ ist positiv konnotiert, wie auch „Weiterentwicklung“ und noch mehr „Bereicherung“ - alles Ausdrücke von Frau Wiese. Wiese suggeriert ja durchaus den positiven Charakter des Kiezdeutschen, wie ich bereits in Antwort an Maschendrahtzaun dargelegt habe. Oder man beachte auch folgende Ausdrücke, die doch alle ein sehr positives Bild suggerieren und durchaus „wertend“ und nicht etwa einfach „neutral“ und „wissenschaftrlich-distanziert“ sind. Ich setze einfach mal fett, was eindeutig nach allgemeinem Empfinden positiv konnotiert ist:

Die als „Kanak-Sprak“ abgetane Sprechweise greife typische Eigenheiten der deutschen Sprache auf. Wiese spricht von einer Bereicherung.

Kiezdeutsch ist kein falsches Deutsch. Kiezdeutsch ist Deutsch! Und zwar, wie sie schreibt, eine „faszinierende neue Entwicklung in unserer Sprache“: die Entstehung eines neuen deutschen Dialekts, der sich dynamisch entwickelt.

Kreativ sei der neue Dialekt und keineswegs chaotisch und regellos.

Warum bitte nicht einfach: „Regelhaft sei der neue Dialet und keineswegs chaotisch und regellos.“ Warum „kreativ“?

Für Heike Wiese ist das Kiezdeutsch eine spannende Bereicherung des Deutschen

Und dies ist noch interssant:

Denn Kiezdeutsch, so stellen Linguisten überrascht fest, ist nicht nur in deutschen multikulturellen Vierteln verbreitet. Überall in Europa, wo Menschen verschiedener Ethnien und Herkunftssprachen zusammenwohnen, bildet sich eine Kiezsprache mit ähnlichen Eigenschaften heraus.

„In anderen Ländern gibt’s kein Kiezdeutsch, aber man könnte es dann kiezdänisch, kiezholländisch, kiezschwedisch nennen, englisch sowieso. Überall in Europa, wo sich in urbanen Gebieten viele Jugendliche treffen, viele unterschiedliche Sprachen zusammen kommen, entwickeln sich sehr dynamische neue Jugendsprachen.“

http://www.dradio.de/dlf/sendungen/stud … s/1678273/

Ja, und das bezeichnet man als Pidgin oder Kreol-Sprache, je nachdem; in diesem Fall aber wohl klarerweise als Pidgin. Wieso sagt Frau Wiese das nicht einfach,sondern stellt es als vollkommen normalen Dialekt unter anderen dar? Ich habe da einen bösen Verdacht. Über das Pidgin heißt es ja:

Pidgins entwickeln sich aus Jargons und dienen meistens nur sehr wenigen Zwecken, wie etwa der rudimentären Kommunikation für Handel, Arbeiten oder zwangsweise soziale Kontakte (etwa in Arbeitslagern). Sie haben somit einen eingeschränkten Funktionsbereich. Ihre Grammatik ist stark vereinfacht, der Sprachcode restringiert.

http://de.wikipedia.org/wiki/Pidgin-Sprachen

Und genau das trifft ja offenbar sehr gut auf das Kiezdeutsche zu. Aber ich vermute, dass das für Wiese zu „negativ“ klingt. Vernünftigerweise würde man sagen, dass dies nicht „negativ“ sein muss, weil die Sprache ja genau diesen Zweck hat und die ihr zugedachten Funktionen erfüllt. Und da würde ich durchaus zustimmen. Aber das ist Frau Wiese offenbar nicht genug: Kiezdeutsch muss zu einer Sprache hochstilisiert werden, die den dem Standarddeutschen oftmals logisch über ist und den hochdeutschen Dialekten entspricht.

Wiese will Kiezdeutsch offenbar als Sprache behandeln, die nicht nicht nur einigen Zwecken, sondern vielen dient; die nicht eine „rudimentäre“, sondern eine umfassende Kommunikation erlaubt; die keinen „eingeschränkten“, sondern einen umfassenden Funktionsbereich besitzt; deren Grammatik nicht „stark vereinfacht“, sondern komplex ist; deren Sprachcode nicht „restringiert“ ist, sondern umfassend. Sie sagt das nicht explizit, aber 1000 mal implizit.

Und das ist meine Kritik, denn so wird man weder dem Hoch-, noch dem Kiezdeutschen gerecht.

@Enio: (den Quote spare ich mir jetzt… :shock: ) Ist das wirklich Dein Ernst?! Schreib ein Buch!

Also ich habs mal nach Open Office reingepasted und du hast da gerade etwas über 10 Seiten geschrieben (Edit: Okay mit Quotes aber trotzdem…). Und das binnen - 2 stunden? Sag mal kann ich dich als ghostwriter für hausarbeiten engagiern? Ich hab hier noch eine die noch angefangen und beendet werden muss…

/OT