Hier soll es darum gehen, wie sinnvoll die kapitalistische Wirtschaftsordnung überhaupt ist, und ob es eventuell überlegene Alternativen gibt.
Ich fange einmal mit dem Hinweis an, dass es die These gibt, dass die Marktwirtschaft in den 50er und 60er Jahren wesentlich besser funktioniert habe, und zwar gerade deshalb, weil sie nicht neoliberal geprägt gewesen sei.
Hierzu verweise ich auf einen kurzen Vortrag des früheren Chefvolkswirtes der UNCTAD (UNO-Organisation für Welthandel und Entwicklung), Heiner Flassbeck, auf den eine längere Diskussion folgt. Flassbeck vertritt genau diese Auffassung:
https://www.youtube.com/watch?v=fOEKannkLXM
Zum anderen sei auf einen Text von Stephan Schulmeister verweisen, in dem ganz ähnlich argumentiert wird:
Gegenstand dieses Essays ist das Haupträtsel der wirtschaftlichen Entwicklung der Nachkriegszeit: Die nach einer Vielzahl von Kriterien so unterschiedliche Performance zwischen den 1950er und 1960er Jahren einerseits und zwischen den letzten Jahrzehnten andererseits. In Europa sind die Unterschiede zwischen der Prosperitätsphase und der nachfolgenden Krisenphase wesentlich stärker ausgeprägt als in den USA. Überdies verschlechtert sich die ökonomische Performance in Europa seit den 1970er Jahren von Jahrzehnt zu Jahrzehnt. Dieser Prozess hat sich Anfang der 1990er Jahre verstärkt und mit Ausbruch der Finanzkrise 2008 nochmals beschleunigt. Er ist weiter im Gang und zieht Europa in die schwerste ökonomische, soziale und politische Krise der Nachkriegszeit. Die herrschende neoklassische Theorie kann diesen Prozess nicht erklären, sie hätte vielmehr eine umgekehrte Entwicklung erwarten lassen, also eine hartnäckige Krise in den 1950er und 1960er Jahren gefolgt von zunehmender Prosperität. Denn in den 1950er und 1960er Jahren konnten sich bedeutende Märkte nicht frei entfalten, die Arbeits- und Finanzmärkte waren strikt reguliert, der Devisenmarkt überhaupt geschlossen.
In den vergangenen Jahrzehnten wurden diese Märkte hingegen dereguliert, am stärksten wurden die Finanzmärkte entfesselt. Dazu kommt, dass die Triebkraft des Wirtschaftswachstums nach neoklassischer Theorie, der technologische Fortschritt, in den 1950er und 1960er Jahren nahezu bedeutungslos war im Vergleich zu den nachfolgenden Jahrzehnten, die von bahnbrechenden Basisinnovationen geprägt wurden wie der Mikroelektronik, Biotechnologie oder der Nanotechnologie. Die ökonomische und soziale Performance war in allen europäischen Gesellschaften nach allen relevanten Kriterien in den 1950er und 1960er Jahren besser als in den vergangenen Jahrzehnten (siehe Abschnitt 2). Dies gilt für das Wirtschaftswachstum seine Stabilität, die Beschäftigungslage und die Entwicklung der Staatsfinanzen, aber auch für die Verringerung von Ungleichheit in der Verteilung von Einkommen bis zur sozialen Sicherheit, dem Grundvertrauen in den gesellschaftlichen Zusammenhalt und einem durchaus gemächlichen Tempo des beruflichen und privaten Lebens.
Seit den 1970er Jahren hat sich die Lage in Europa nach all diesen Kriterien verschlechtert, besonders markant kommt sie an folgender Paradoxie zum Ausdruck: Das Lebenstempo ist bis zur Hektik gestiegen, aber der Ertrag der gesteigerten Aktivitäten wird immer kleiner – man denke etwa an das emsige Schreiben von Job-Bewerbungen durch junge Menschen.
A propos Junge: Bis Anfang der 1970er Jahre gab es weder Jugendarbeitslosigkeit noch prekäre Beschäftigung, jeder junge Mensch konnte einen voll sozialversicherten Arbeitsplatz bekommen und sich daher auch eine Wohnung leisten. Heute ist das BIP pro Kopf in Europa mehr als doppelt so hoch, aber Millionen Junger können nicht „flügge“ werden, es fehlen Arbeitsplätze und erschwinglicher Wohnraum. Dieser Vergleich macht deutlich: Da ist seit Jahrzehnten etwas fundamental falsch gelaufen.
Zwar habe es auch in der Wachstumsphase nach dem Krieg vermehrte Ungleichheit wie das typisch sei für wirtschaftlich rasch wachsende Länder. Längerfristig habe sich aber auch die Lage der abhängig Beschäftigten verbessert.
Schulmeister vertritt folgende These (findet sich alles auf den ersten Seiten):
- Man kann zwei fundamental unterschiedliche „Spielanordnungen“ einer kapitalistischen Marktwirtschaft unterscheiden, je nachdem, welche Aktivitäten das Profitstreben antreiben.
- Im Realkapitalismus fokussieren die Anreizbedingungen die kapitalistische „Kernenergie“ auf unternehmerische Aktivitäten in der Realwirtschaft: Bei festen Wechselkursen, stabilen und unter der Wachstumsrate liegenden Zinssätzen, stabilen Rohstoffpreisen und „schlummernden“ Aktienmärkten kann sich das Gewinnstreben nur in der Realwirtschaft entfalten, die stetig expandierende Investitionsnachfrage ermöglicht ein hohes Wirtschaftswachstum und damit anhaltende Vollbeschäftigung.
- Im Finanzkapitalismus dämpfen instabile Wechselkurse, Rohstoffpreise, über der Wachstumsrate liegende Zinssätze, und boomende Aktienmärkte unternehmerische Aktivitäten in der Realwirtschaft, gleichzeitig werden Finanzspekulationen immer attraktiver. Mit der Realkapitalbildung geht auch die Schaffung von Arbeitsplätzen zurück. Der Finanzierungssaldo des Unternehmenssektors dreht in einen Überschuss. gleichzeitig „erleidet“ der Staat ein nahezu permanentes Defizit. Bei über der Wachstumsrate liegenden Zinssätzen nimmt die Staatsschuldenquote immer mehr zu.
Ich stelle das einfach mal so zur Diskussion in den Raum.
Außerdem möchte ich noch die Diskussion aus einem anderen Thread fortsetzen. Siehe:
http://forum.massengeschmack.tv/showthread.php?18197-Wirtschaftliche-Auswirkungen-durch-Fl�chtlinge Siehe dort Megabjörnies Beitrag von Megabjörnie vom 13.02.2016.
@ Megabjörnie:
Wer die Entwicklung des Kapitalismus in den letzten vierzig Jahren aufmerksam verfolgt hat, wird erkennen, dass es eine langfristige Krisenentwicklung gibt. Hohe Arbeitslosigkeit ist kein deutsches, sondern ein globales Phänomen.
Die Frage wäre hier, ob sich dies nicht auch in der oben angedeuteten Weise erklären lässt.
Es ist leicht, der neoliberalen Politik von Kohl und Schröder die Schuld an der wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich zu geben. Klar hat der Neoliberalismus unsere Lebensverhältnisse nicht verbessert, aber letztlich reagierte die Politik damit nur auf die Krise der Arbeitsgesellschaft. Bei fünf Millionen Arbeitslosen entsteht ein gewisser Handlungsdruck. Es war die Wahl zwischen Pest und Cholera.
Die Frage ist ja nur: Was sind sinnvolle politische Schritte? Die jetzige „Lösung“ funktioniert ja nur deswegen (halbwegs), weil Deutschland aufgrund der Währungsunion permanente hohe Leistungsbilanzüberschüsse erzielen kann. Das aber geht direkt zu Lasten anderer und ist auf Dauer auch zum eigenen Schaden:
http://forum.massengeschmack.tv/showthread.php?18249-Lohnwettbewerb-mit-dem-Rest-der-Welt-alles-Bl�dsinn
Der Kapitalismus ist von Wachstum abhängig, weil die Produktivitätszuwächse einen nie endenden Druck erzeugen, immer mehr zu verkaufen, die Konsumpalette stetig zu erweitern, während die Konkurrenz dafür sorgt, dass ein Unternehmen nie aufhören darf, nach Möglichkeiten zu suchen, Arbeitskraft einzusparen, wo es nur geht.
Ein Übriges leistet natürlich auch die Kreditwirtschaft mit dem Zins.
Während Letzteres immer wieder gern als Argument genannt wird, warum Kapitalismus Wachstum braucht, trifft man Ersteres relativ selten an, obwohl es eigentlich viel wichtiger ist.
Zum einen kann Wachstum auch in eine ökologische Richtung gehen - das kommt immer auf die gesetzten Anreizsysteme an. Zum anderen könnte eine Marktwirtschaft prinzipiell auch „stationär“ funktionieren. Das Argument mit den Zinsen gilt so allgemein nicht, denn wenn sie so niedrig liegen, dass sie nur die Inflation ausgleichen, dann erzeugen sie auch keinen Wachstumsdruck. Dazu müsste man notfalls das Bankenwesen ändern (verstaatlichen); aber es besteht von dieser Seite her kein „prinzipieller“ Wachstumszwang, wie auch Norbert Häring ausführt:
http://norberthaering.de/haering/ueber_das_geld/3_Zinsen_kann_nur_zahlen,_wer_Kredite_produktiv_verwendet.pdf
Auch der andere Teil überzeugt mich nicht unbedingt. Wenn die Unternehmen keine technischen Neuerungen hervorbrächten, würden sie zwar keine Marktanteile gewinnen, aber allein deswegen auch keine verlieren. Auch dies könnte man - wenn man denn wollte - vermutlich staatlich entsprechend regeln. (Persönlich würde ich allerdings ein ökologisch sinnvolles Wachstum ohnehin der Stagnation vorziehen.)
Mit der mikroelektronischen Revolution in den Neunzigern wurde die Krise der Arbeit rasend beschleunigt. Wir können hier von einer Schere zwischen Prozess- und Produktinnovation sprechen: In der Produktion kann dank modernster Hard- und Software ein Arbeiter ganze Produktionsprozesse überwachen, wo man früher hundert Leute gebraucht hätte. Aber die 99 anderen Jobs sind nicht alle ersetzt worden, weil die Gesellschaft gar nicht so viele neue bescheuerte Konsumprodukte konsumieren kann oder will, wie sie es müsste, um Wirtschafts- und Produktivitätswachstum im Gleichgewicht zu halten.
Aber das ist doch schon lange so. Genau deswegen ist doch der Dienstleistungssektor so groß: Die Industrie braucht eben weniger Leute, um den Markt zu sättigen. Aber das bedeutet auch: Die Preise für Industriegüter fallen real, das Einkommen der Menschen nimmt real zu. Und mit dem zusätzlichen Geld kann man sich dann andere Dinge leisten. Etwa eine Geigenstunde oder einen Urlaub. Es gäbe genug Leute, die sofort wüssten, was sie mit mehr Geld anfangen könnten. An potentieller Nachfrage nach Dienstleistungen (und in der Tat auch nach Gütern) fehlt es sicher nicht. Hier sehe ich nun kein Problem.
Zitat Enio:
Die Frage ist nur: Gibt es ein in der Praxis funktionsfähiges System, das besser als eine vernünftig geregelte Marktwirtschaft ist?
Mag ja sein. Ich bin kein „Marktfetischist“. Wenn ein anderes System besser funktioniert und die Menschen dort mehr haben und glücklicher leben, nehme ich das gerne zur Kenntnis. Die Frage ist eben nur, ob es eine gute praxistaugliche Alternative gibt, die in der realen Welt auch wirklich funktioniert.
Zitat Megabjörnie:
Wer so fragt, dem geht es augenscheinlich noch viel zu gut.
Ich verstehe nicht, was an meiner Äußerung kritikwürdig sein soll. Sie spiegelt doch eine skeptische Haltung im besten Sinne wider: Offenheit und Lernbereitschaft bei gleichzeitiger Vorsicht und dem Wunsch, Dinge unvoreingenommen zu prüfen.
Ferner kann man sich auch mit Begriffen wie Commonismus ( im Unterschied zum Kommunismus ), Keimformtheorie und Internationale Kommunenwirtschaft auseinandersetzen.
Wie gesagt: ich finde es durchaus interessant, mich auch mit neuen Lösungsansätzen zu beschäftigen. Bevor ich das allerdings gründlich getan habe, kann ich nicht sagen, ob diese anderen System besser sind.