Grundsatzdiskussion zum Kapitalismus

In Afrika, Südamerika und Osteuropa gäbe es auch vieles, was man aufbauen könnte; doch es passiert nichts (oder wenig). Auch wenn Deine Zeit sicher knapp bemessen ist und ich Dich zu nichts „drängen“ möchte: Guck Dir, wenn Du Lust hast, vielleicht doch mal den Anfang des Video im ersten Beitrag an. Der eigentliche Vortrag geht nicht mehr als 15 min. Deine Meinung würde mich jedenfalls interessieren.

Habs mir nun angesehen.
Es klingt alles vollkommen logisch was er da erzählt und ich würde ihm zustimmen, im Prinzip ist auch wenig Widerspruch zu meiner Position. Nur das ich den Kapitalismus prinzipiell ablehne, aber daran glaube das er kontrolliert werden kann. Während er den Kapitalismus prinzipiell nicht ablehnt, ihn dabei aber kontrollieren will. Er kommt also von der „pro Kapitalismusseite“ zu einem ähnlichen Ergebnis. (Zumindest fühle ich mich bestätigt, kann aber sein das ich die Widersprüche gar nicht erkenne. Ich bin kein Ökonom.)

Das was mich an seinem Vortrag deprimiert ist im Prinzip die Aussage: „Wir könnten es gut haben, wenn die Arbeitgeber weiter auf lange und gesellschaftlich positive Art wirtschaften würden.“
Das Problem ist also das Unternehmer nicht unsterblich sind, würden sie solange leben das sie die positiven Aspekte einer Umverteilung selber erleben würden, dann würden sie sich ganz egoistisch so verhalten. Da sie aber dummerweise nach einigen Jahren den Weg alles biologischen gehen denken sie halt nicht an die nächsten 50, sondern nur an die nächsten 10 Jahre. Während der Zeit ist es für das Individuum besser egoistisch zu handeln.

Mein Fazit aus Flassbecks Vortrag: Wir brauchen eine Elbenquote in den Vorständen.

@ Icetwo:

Ich stimme Dir ja völlig zu, dass Kapital und Arbeitskraft notwendige Bedingungen für ein wirtschaftliches Wachstum sind. Die Frage ist nur, ob sie (selbst unter marktwirtschaftlichen Bedingungen) hinreichende Bedingungen sind. Und daran zweifle ich dann doch.

Es gab bis 1950 Lebensmittelkarten in der Bundesrepublik.

Ja, aber das Wirtschaftswunder ging dann ja noch etwa 20 Jahre weiter.

Nehemen wir ein einfaches Beispiel. Soweit ich das zu wissen meine, musste die Bundesbank innerhalb des Bretton-Woods-Systems die Leitzinsen niedrig halten, so dass die im Allgemeinen unter der Rate des Wirtschaftswachstums lagen. (Lange Zeit durften auch die normalen Geschäftsbanken ihre Zinsen ohnehin nur eingeschränkt frei bestimmen.) Seit dem Ende von Bretton-Woods hingegen konnte die Bundesbank die Leitzinsen selbst festlegen, und seitdem liegen die Zinsen meistens oberhalb der Wachstumsrate. Und seitdem haben die USA (die die Zinsen gewöhnlich unterhalb der Wachstumsrate halten) Deutschland abgehängt (dabei rechne ich mit ein, dass die Deutschen mehr Freizeit haben). Wenn meine Erinnerung in irgendeinem Punkt falsch ist, möge man mich darauf hinweisen.

Natürlich sind Kapital und Arbeitskraft notwendige Bedingungen für Prosperieren. Nur stellt sich die Frage, ob sie auch hinreichende Bedingungen sind. In einer Marktwirtschaft wird nur dann produziert und investiert, wenn es sich auch lohnt. In die neuen Bundesländer hat man auch einiges an Kapital gesteckt, und Arbeitskraft war auch da. Ein Wirtschaftswunder aber gab es nicht.

@ Skafdir:

Das was mich an seinem Vortrag deprimiert ist im Prinzip die Aussage: „Wir könnten es gut haben, wenn die Arbeitgeber weiter auf lange und gesellschaftlich positive Art wirtschaften würden.“

Da hast Du ihn, glaube ich, missverstanden. Damit die Arbeitslosigkeit abgebaut werden könnte, bräuchte es einen längeren Aufschwung. Profitieren würden die Unternehmen des „realen Welt“ natürlich durchaus von einem guten Wirtschaften - auch in relativ kurzer und mittlerer Frist. Fast nur auf den Finanzmärkten lassen sich riesige Gewinne erzielen, wenn es der Wirtschaft schlecht geht.

Seine Formel verkürzt dargestellt würde ja lauten:

Löhne rauf => Wachstum

Was ja auch erstmal intuitiv sehr logisch klingt.

Höherer Lohn = höherere Nachfrage = höhere Produktion = höherer Erlös = höhere Löhne = …

Im folgenden Beschreibe ich mal, unter der Bedingung das ich das so richtig verstanden habe, warum ich glaube er gibt mir recht:

Ich will eine Hose kaufen und es gibt zwei Anbieter (A und B)
Anbieter A zahlt seinem Arbeiter 100 Währungseinheiten.
Anbieter B zahlt seinem Arbeiter 50 Währungseinheiten.

Nach Flassbeck handelt A sinnvoller als B.
Nun kann mir aber A die Hose für 200 Währungseinheiten anbieten und B für 100.

Das wischt Flassbeck mit dem recht lapidaren Spruch beiseite: "Es kann nicht die ganze Welt konkurrenzfähig sein."
Stimmt schon, ja. Aber jeder der es nicht versucht wird eben wie von mir schon vorher beschrieben gefressen.
Anbieter A bleibt in meinem Beispiel auf seinen “gesamtgesellschaftlich sinnvoll” produzierten Hosen sitzen. Es sei den ich entscheide mich bewusst dafür bei Anbieter A zu kaufen.

Das ist Flassbeck auch klar, weshalb er nach “mehr Staat” ruft. Auch er beschreibt den von mir ins Spiel gebrachte Kettenhund. (Von der Wirkung, nicht von der Wortwahl, er sagt nichts von einem Kettenhund.)
Was hier nämlich passieren muss ist das der Staat kommt und Anbieter B sagt: Du darfst deinen Arbeitern nicht nur 50 Währungseinheiten bezahlen. Lohn und Arbeitskraft darf nicht als Ware gehandelt werden. (Etwas das seit wenigstens 1848 bekannt sein sollte.)

Er sieht es nur nicht so pessimistisch wie ich.
Was wären die Konsequenzen?
Zwei Wege:
A: Die Internationale. Ein Staatenbund der so viele Staaten wie möglich umfasst und dabei gleiche wirtschaftliche Rahmenbedingungen schafft.
B: Das genaue Gegenteil. Die Rückkehr in den Nationalismus mit einem absolut reguliertem Außenhandel. Freien Markt dürfte es dann nur für den Binnenmarkt geben, während alles andere direkt staatlich geleitet wird. Dieser Staat muss natürlich auch vermeiden das seine Bewohner ausziehen.

Beide Wege sehen einen starken Staat vor, wobei Weg A eine möglichst hohe persönliche Freiheit erhalten kann und Weg B zwangsweise in Diktaturen enden muss.


Fazit:
Meine Interpretation der Dinge ist natürlich vorbelastet durch eigene politische Überzeugungen, daher absolut angreifbar und darf auch gerne angegriffen werden. Soweit es meine Zeit zulässt bin ich gerne bereit alles zu verteidigen. (Bringt nur Geduld mit. :D)
Zusammenfassend erscheint mir, auf Grundlage der Ausführungen von Flassbeck, eine soziale Marktwirtschaft auf internationaler Ebene als der einzig logische Schritt.
Also ein weiterer Ausbau bestehender Staatenbünde, die dann für Verhandlungen mit Handelspartnern bestimmte politische Forderungen als Bedingung für Handel nennen können. In jedem Fall darf “der Markt” nicht in Ruhe gelassen werden, sondern muss, wie schon vorher beschrieben dauerhaft kontrolliert werden.
Es bleibt also bei der Pflicht einer Regierung antikapitalistisch zu sein.

Edit:

@Icetwo:
"Wachstum aus Katastrophen"
Da sollte ich tatsächlich etwas zurückrudern. Ich bin wie gesagt kein Ökonom, ich versuche es mal so darzustellen das mir der Punkt klar wird um den es geht.
Hier meine Erklärung:
Es stimmt zwar das man nach Katastrophen prinzipiell “Aufschwünge” hat.
Nur kann es ja durchaus passieren das ich vor der Katastrophe bei “100” war. In der Katastrophe auf “10” gesunken bin und nach der Katastrophe dann auf “70” gewachsen.
Von 10 auf 70 ist natürlich ein super tolles Wachstum, aber real war es immer noch ein Abfall.

Das nun z.B. in der deutschen Nachkriegszeit ein Ergebnis von “130” erreicht wurde ist dann eher dem Zufall zuzuschreiben und hätte so auch genauso gut ohne zweiten Weltkrieg stattfinden können.

Wenn ich das so richtig verstanden habe dann würde ich sagen: Ja, sehe ich ein. Katastrophen können also ein Wachstumsfaktor sein, können das Wachstum aber genauso gut aufhalten. Was nun Eintritt lässt sich vorher nicht unbedingt sagen.

[QUOTE=Enio;440568]@ Icetwo:

Ich stimme Dir ja völlig zu, dass Kapital und Arbeitskraft notwendige Bedingungen für ein wirtschaftliches Wachstum sind. Die Frage ist nur, ob sie (selbst unter marktwirtschaftlichen Bedingungen) hinreichende Bedingungen sind. Und daran zweifle ich dann doch.
[/QUOTE]

Nun, du musst natürlich Kapital und Arbeit noch verknüpfen. Wenn da Bagger stehen und auf der anderen Seite sind Bauarbeiter, dann bringen die ja nichts bis sie sich zu den Baggern bewegen. Wie schafft man das? mit Geld. Geld darf man in diesem Fall nicht als Lohn sehen sondern als das Transportmittel für Werte. Nämlich den Wert von Irgendwelchen waren die man haben will (essen Kleidung, VW Käfer) und dem Wert der eigenen Arbeit die man dafür (um das Geld zu bekommen) Aufwenden musste. Und diese Verknüpfung hat mit der alten Reichsmark nicht so gut Funktioniert wie mit der D Mark. Denn Die D Mark war damals an den US Dollar geknüpft. Das Heißt das man für D Mark die Waren der Gesamten westlichen Welt bekommen konnte, und das macht die Währung natürlich schon Attraktiv. Die Reichsmark dagegen war mit den Waren und Dienstleistungen eines Kriegszerstörten Landes verknüpft. Wer will schon das Zerstörte Köln wenn er die Glitzerwelt von NEW YORK haben kann. Ja Am Anfang sahen die D Mark scheine sogar aus wie Dollar Noten und wurden sogar in den USA gedruckt

Ja, aber das Wirtschaftswunder ging dann ja noch etwa 20 Jahre weiter.

Ja weil die Leute natürlich nicht einfach ihre Autos durch neue ersetzten, sondern immer größere gekauft haben. Mein Opa muss sich so in den 70ern einen Mercedes gekauft haben. Oder das sich alle Leute spätestens zur WM 74 einen Farbfernseher gegönnt haben.

[QUOTE=Skafdir;440573]
Das nun z.B. in der deutschen Nachkriegszeit ein Ergebnis von „130“ erreicht wurde ist dann eher dem Zufall zuzuschreiben und hätte so auch genauso gut ohne zweiten Weltkrieg stattfinden können. [/QUOTE]
Das glaube ich so nicht. Zum einen Brachte die Zerstörung auch Vorteile mit sich. Man konnte fast von 0 Anfangen und Städte auf dem Reißbrett entwerfen ohne das sie so Künstlich wirken wie die Städte in Amerika. Natürlich ist dem auch sehr viel zum opfer gefallen was eigentlich hätte gerettet werden müssen, aber man konnte hier eine Moderne Volkswirtschaft entwickeln, die es so in der Weimarer Republik nicht gegeben hätte.

@ Ictwo:

Das ist sicher schon richtig. Nur würde ich doch noch etwas mehr beim „Anreizsystem“ bleiben. Nehmen wir beispielsweise an, man kann durch den Derivatehandel mit etwas Professionalität und etwas Glück weit mehr Geld verdienen als in der Realwirtschaft (jedenfalls, bis irgendwann ein Einbruch kommt). Das ist auch nicht gerade eine große Ermutigung, in die Realwirtschaft zu investieren.

@ Skafdir:

Löhne rauf => Wachstum

Ja, so kann man das einfach ausgedrückt zusammenfassen. Es geht im Wesentlichen darum, dass der (potentiell realisierbaren) Zunahme des Angebots eine entsprechende Nachfrage gegenübersteht; dass also die Löhne mit der Produktivität mithalten können. Die Löhne darüber hinaus zu steigern, wäre jedoch nicht sinnvoll.

Was wären die Konsequenzen?
Zwei Wege:
A: Die Internationale. Ein Staatenbund der so viele Staaten wie möglich umfasst und dabei gleiche wirtschaftliche Rahmenbedingungen schafft.
B: Das genaue Gegenteil. Die Rückkehr in den Nationalismus mit einem absolut reguliertem Außenhandel. Freien Markt dürfte es dann nur für den Binnenmarkt geben, während alles andere direkt staatlich geleitet wird. Dieser Staat muss natürlich auch vermeiden das seine Bewohner ausziehen.

So weit müsste man nicht zwingend gehen - obwohl mehr Kooperation und Koordination natürlich sehr wünschenswert wären. Wenn ein Land eine eigene Währung hat, dann bietet diese einen gewissen Schutz.
Betrachten wir zwei Länder A und B (und nehmen wir einfachheitshalber an, die ganze Welt bestünde nur aus ihnen). Beide seien im Allgemeinen wirtschaftlich vergleichbar; beide seien entwickelte Industrieländer. Aber Land A erhöht die Löhne nicht, obwohl es das könnte, während Land B genau dies tut.

Dadurch gewinnt Land A gegenüber Land B kurzfristig an Wettbewerbsfähigkeit, denn es kann seine Waren aufgrund der niedrigen Löhne entsprechend preiswerter verkaufen. Dies führt dazu, dass die Waren von Land A weltweit (also sowohl in Land A wie auch in Land B) beliebt sind, diejenigen von Land B aber aufgrund ihrer hohen Kosten weniger begehrt werden (weder die Leute in Land A noch die in Land B wollen sie kaufen).
Land A exportiert daher mehr an Ware nach B als es von Land B im Gegenzug importiert. Land A verzeichnet also Exportüberschüsse. Land B hingegen importiert spiegelbildlich nun mehr von Land A, als es dorthin exportiert, weist also Exportdefizite auf. (Daher addieren sich Exportüberschüsse und -defizite weltweit gesehen immer zu Null auf.)
(Um diese Lücke auszugleichen, muss sich die Volkswirtschaft von Land B bei der von Land A verschulden oder eventuell bestehende Schulden von A tilgen).
Das heißt aber auch: Die Währung von Land A wird von den Leuten aus Land B vermehrt nachgefragt, denn man braucht sie, um die Waren von Land A bezahlen zu können. Die Währung von Land B hingegen wird von den Leuten aus Land A weniger nachgefragt, denn da die Waren aus Land B nicht mehr wettbewerbsfähig (zu teuer) sind, will sie auch keiner mehr kaufen.

Dies führt nun aber nach dem Gesetz von Angebot und Nachfrage dazu, dass die Währung des Landes A relativ zu B aufwertet, während die von Land B abwertet. Das Umtauschverhältnis der Währungen von A und B ändert sich also so, dass man für eine Währungseinheit von A nun mehr Währungseinheiten von Land B kaufen kann als zuvor. Die Währungseinheiten von Land A gewinnen also, international betrachtet, an Wert, während diejenigen von Land B an Wert verlieren.
Das heißt aber: Die Waren aus Land A werden (international betrachtet) wieder teurer, die von B hingegen wieder billiger. Damit verliert A wieder an Wettbewerbsfähigkeit, während B an Wettbewerbsfähigkeit gewinnt.

Dieser Mechanismus funktioniert nicht immer perfekt - Wechselkurse werden auch durch Spekulationen oder andere Faktoren mit beeinflusst. Aber zumindest andauernde und starke Ungleichgewichte beim Export-Importverhältnis werden gewöhnlich korrigiert, und es kann sogar zu überschießenden Reaktionen kommen. „Lohndumping“ lohnt sich also nicht. (Zumal es auch negative binnenwirtschaftliche Folgen hat.)

Dass dieser Ausgleichsmechanismus besteht, ist übrigens absolut sinnvoll. Ein Land kann langfristig nur so viel importieren wie es auch exportiert. Andernfalls entstünden im Lauf der Zeit Ungleichgewichte, die allen Beteiligten schaden würden: Das Land, das ständig zu viel importiert hat, wird aufgrund von Überschuldung zahlungsunfähig, und das Überschussland kann im schlimmsten Fall seine Forderungen abschreiben (dann hätte es einen Teil der gelieferten Güter verschenkt) und verliert zudem noch seine Exportmärkte. (Andere Nachteile gibt es auch noch; da Land B aus dem obigen Beispiel sich bei Land A verschulden muss, bedeutet dies, dass Kapital von Land A nach Land B fließt, das in Land A dann nicht mehr zur Verfügung steht - auch nicht für Investitionen.)

Das heißt aber natürlich nicht, dass es sinnlos wäre, sich anzustrengen. Ein Land, das produktiver wird (im Gegensatz zu einem, das nicht produktiver wird, sondern einfach nur Lohndumping betreibt), wird durchaus belohnt: Es hat dann eben mehr Güter zur Verfügung, die es selbst konsumieren oder am Weltmarkt umtauschen kann als ein vergleichsweise unproduktives Land (und es kann auch mehr investieren).
Der Wechselkursmechanismus bestraft also keineswegs den Tüchtigen, sondern sorgt einfach nur dafür, dass ein Land, das etwas nimmt, (langfristig) auch eine entsprechende Gegenleistung erbringen muss, anstatt sich immer mehr zu verschulden; und er sorgt dafür, dass ein Land, das etwas verkauft, auch eine angemessene Gegenleistung annehmen muss, und nicht seine Forderungen gegenüber anderen Ländern beliebig vergrößern kann. Er verhindert also eine untragbare Verschuldungssituation, die für alle (!!) schlecht wäre.

Es ist also immer möglich, produktiver zu werden - nur eben nicht, beliebig wettbewerbsfähig zu werden.
Das ist aber genau das, was etwa die Bundesregierung nicht begreift, wenn es heißt, Europa müsse „wettbewerbsfähiger“ werden. Europa kann natürlich bemüht sein, besonders gute Produkte herzustellen oder insgesamt produktiver zu werden - aber so lange andere Länder eigene Währungen haben, nutzt es nichts, durch Lohnverzicht seine Waren auf dem Rücken der Arbeitnehmer besonders preiswert am Weltmarkt verkaufen zu wollen.
Siehe auch hier:
http://forum.massengeschmack.tv/showthread.php?18249-Lohnwettbewerb-mit-dem-Rest-der-Welt-alles-Bl�dsinn

Eine Zentralbank kann den Wechselkurs auch künstlich niedrig halten, indem sie einheimisches Geld gegen fremdes Geld verkauft und damit das Angebot an einheimischem Geld erhöht (wenn das allerdings so sehr geschieht, dass Handelsungleichgewichte nicht nur kompensiert, sondern Exportüberschüsse generiert werden, wird dies als unfair angesehen und könnte im schlimmsten Fall zu einem Währungskrieg führen).

Jedenfalls wirken Wechselkurse gewissermaßen ähnlich wie Zollschranken und können normalerweise effektiv verhindern, dass ein entwickeltes Land bei vergleichbar guten Erzeugnissen einfach nur deshalb „abgehängt“ wird, weil es im Gegensatz zu einer anderen Volkswirtschaften ordentliche Löhne zahlt. Weil aber freie Wechselkurse stark in beliebige Richtungen schwanken können und Spekulationen zu großen Verzerrungen führen können, versuchen viele Länder, ihre Kurse zu stabilisieren und an andere Länder zu binden. Deshalb wird ja auch vorgeschlagen, dass man zu einem System von festen, aber anpassbaren Wechselkursen zurückkehrt. Im Bretton-Woods-System gab es das, und in der Europäuschen Währungssystem, das dem Euro vorausging, auch. Hier wäre Kooperation besonders sinnvoll.

Und damit zum Euro: Genau dieses Austarieren der Wettbewerbsfähigkeit via Wechselkursanpassungen ist nun für die Länder der Euro-Zone nicht mehr möglich. Das wäre an sich kein Problem, wenn alle Länder ihre Löhne gemäß ihrer gestiegenen Produktivität verändert hätten. Dann sollten Lohnstückkosten und Preise sich länderübergreifend gemeinsam entwickeln. Dabei ist es auch völlig egal, wie produktiv eine Volkswirtschaft ist oder wie viel Urlaub die Leute haben - jeder muss sich nur an seine eigenen Verhältnisse anpassen. Manche südeuropäischen Länder haben die Löhne zu sehr erhöht, Deutschland aber eindeutig zu wenig. Das führt dann aber dazu, dass die Wettbewerbsfähigkeit in der Eurozone immer mehr auseinander läuft. Die südeuropäischen Ländern können ihre Löhne aber ohne noch mehr Deflation und Rezession nicht senken. In Deutschland hingegen will man sie nicht erhöhen (obwohl das ohne Rezession ginge), sondern laut Bundesregierung noch „wettbewerbsfähiger“ werden. Das wird dann eben zum Zerfall der Währungsunion führen - und dann wertet Deutschland in extrem kurzer Zeit auf und verliert die ganze dazugewonnene Wettbewerbsfähigkeit wieder. Und weil seine Wirtschaft ganz auf Export(überschüsse) eingestellt ist, steht es dann ziemlich dumm da. Die Zeit, die jetzt noch da wäre, um sich schrittweise anzupassen und sich wieder mehr auf den Binnenmarkt auszurichten, fehlt dann.

Deshalb hatte ich in einem anderen Thread auch geschrieben:

Und Handel funktioniert eh nur dann vernünftig, wenn beide Seiten Produkte haben, die die jeweils andere Seite möchte, oder anders gesagt: Handel funktioniert nur dann, wenn beide Seiten jeweils in bestimmten Bereichen wettbewerbsfähig sind…Wer in jeder Hinsicht wettbewerbsfähiger sein will als alle anderen, sollte dann eben auch nicht Handel treiben wollen, sondern nach Autarkie streben.

http://forum.massengeschmack.tv/showthread.php?18197-Wirtschaftliche-Auswirkungen-durch-Fl�chtlinge

Man kann seine Handelspartner eben nicht über gesteigerte Wettbewerbsfähigkeit an die Wand konkurrieren und dann erwarten, dass sie einem weiterhin große Mengen an Waren abkaufen und hohe Beträge an Schulden zurückzahlen - mit was sollten sie das denn auch, wenn sie insolvent sind?

Genau das wird aber nicht begriffen. Wenn die EU-Kommission Deutschland für seine hohen Exportüberschüsse tadelt, dann wird das hierzulande gerne als Neid auf den Erfolg dargestellt, und als das Verlangen, dass Deutschland sich künstlich schwächer machen solle. Das ist natürlich ein völliger Blödsinn - Deutschland kann so viel exportieren, wie es will, und es kann auch so stark sein, wie es will. Es sollte nur bereit sein, dann auch entsprechend zu importieren, anstatt seine Waren zu Niedrigpreisen auf Pump zu verkaufen. Aber hierzulande verwechselt man Exportüberschüsse offenbar mit „Gewinnen“.

Früher hatte man die relevanten Zusammenhänge noch begriffen und unter Karl Schiller eine ausgeglichene Leistungsbilanz sogar als eines von vier wirtschaftspolitischen Zielen in ein Gesetz geschrieben (das Gesetz gilt eigentlich auch heute noch, auch wenn sich kein Mensch mehr darum kümmert). Leider muss man sagen, dass das gesamtwirtschaftliche Verständnis in Deutschland heute weit geringer zu sein scheint als in früheren Zeiten.

Beispielsweise wird von den anderen Ländern gefordert, dass sie auch so werden sollen wie Deutschland. Deutschland hat ja seine Arbeitslosigkeit durch seine Lohnzurückhaltung erfolgreich reduziert - das können die anderen doch auch tun, oder nicht? Nun, Exportüberschüsse führen zu einem Export von Arbeitslosigkeit (nicht zu ihrem Verschwinden). Das ist - kurzfristig betrachtet jedenfalls - eine angenehme Eigenschaft der Exportüberschüsse (für das Land mit den Überschüssen). Man spricht hier auch von einer „Beggar-thy-Neighbor-Politik“. Nur kann das eben gerade nicht jedes Land so machen, weil jedem Exportüberschuss ein entsprechendes Exportdefizit eines anderen Landes (oder mehrerer Länder) gegenübersteht. Es kann eben nicht jeder Exportüberschüsse erzielen. Die Welt als ganze kann eben nun mal nicht mehr exportieren als sie importiert. Und Deutschland konnte seine Exportüberschüsse nur erzielen, weil andere Länder Defizite zugelassen haben. Siehe dazu auch auch dieses Interview mit dem Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman:
http://www.tagesspiegel.de/politik/interview-mit-oekonom-paul-krugman-die-sparpolitik-in-griechenland-ist-unglaublich-destruktiv/11406210.html

Und damit kämen wir wieder auf den Anfang zurück. Die Prinzipien einer Marktwirtschaft müssen verstanden werden, damit man das System gut „lenken“ kann („lenken“ heißt nicht, dass man jede Kleinigkeit regulieren muss; es geht mehr um zentrale Weichenstellungen). Dieses Verständnis ist aber womöglich einfach gar nicht da.

Keine Zeit für echte Antworten, aber das hier dürfte hier sehr interessant sein.

The OECD has called for its rich-country members to ease up on austerity and collectively agree to spend more on infrastructure projects to boost flagging growth.

“A stronger collective policy response is needed to strengthen demand,” the OECD said in its interim economic outlook, which reduced growth estimates for every member of the G7 group of leading industrial nations – the US, the UK, Germany, Japan, Italy, France and Canada.

Investitionen statt sparen, gefordert von der OECD.
Meine Frage: Warum sollen das nur die reicheren Länder machen? Ergibt das Sinn?

[QUOTE=Enio;440643]@ Ictwo:

Das ist sicher schon richtig. Nur würde ich doch noch etwas mehr beim “Anreizsystem” bleiben. Nehmen wir beispielsweise an, man kann durch den Derivatehandel mit etwas Professionalität und etwas Glück weit mehr Geld verdienen als in der Realwirtschaft (jedenfalls, bis irgendwann ein Einbruch kommt). Das ist auch nicht gerade eine große Ermutigung, in die Realwirtschaft zu investieren. [/QUOTE]

Man kann schon mit einem Derivat mehr Geld machen als in der Realwirtschaft. Aber das Geld muss ja irgendwo einen Gegenwert haben, und der wird in der Realwirtschaft erwirtschaftet, spätestens dann wenn du deine Derivate Millionen dazu nutzt dir eine Luxusvilla zu bauen. denn in einer Option ein Haus zu bauen kann man nicht wohnen. Man kann auch Optionen auf Nahrungsmittel nicht essen. Letztendlich ist der Optionshandel von der Realwirtschaft abhängig. Ist er es mal nicht haben wir eine Spekulationsblase und ich würde mich zurückziehen solange es noch geht. Das Problem dabei ist das man so was meistens erst merkt wenn es schon zu spät ist.

@ Skafdir:

Investitionen statt sparen, gefordert von der OECD.

Die OECD hat offenbar schließlich realisiert, dass die Austerität nicht weiterhilft, nachdem man es lange mit ihr versucht hatte. Ähnlich hatte sich bereits Draghi geäußert, vermutlich auch, weil es trotz aller Maßnahmen der EZB nicht vorwärts und die Eurozone in die Deflation abzugleiten droht. Die USA haben das schon früher begriffen.

Meine Frage: Warum sollen das nur die reicheren Länder machen? Ergibt das Sinn?

Die einfachste Erklärung (die auch im verlinkten Artikel nahegelegt wird): Die reichen Länder können es sich am ehesten leisten.

Für höhere Staatsausgaben spricht auch noch der sog. „Multiplikatoreffekt“: Ein ausgegebener Euro kann die Volkswirtschaft um mehr als einen Euro wachsen lassen. Icetwo hatte das in einem anderen Thread ja bereits erklärt:

Bei dem Bau und Umbau von Flüchtlingsheimen bekommen beispielsweise Bauarbeiter Geld das sie vorher nicht hatten, und die geben das wiederum für ein Massengeschmack Abo aus, und du kannst dir deswegen dann Neue Technik kaufen, wovon der Technologiekonzern auch etwas hat, weswegen er mehr Menschen einstellt, die dann wiederum Massengeschmack Abos abschließen.

Dieser Effekt geht natürlich nicht Ewig. Auf jeder stufe wird er ein wenig schwächer. Um Das festzustellen benutzt man in der Ökonomie den Staatsausgabenmultiplikator.

http://forum.massengeschmack.tv/showthread.php?18197-Wirtschaftliche-Auswirkungen-durch-Fl�chtlinge

Die Zinsen für langfristige Staatsanleihen für Deutschland liegen derzeit so um die Null Prozent (wenn ich das richtig weiß). Wenn das Wirtschaftswachstum (längerfristig) oberhalb der Verzinsung liegt, dann können die Schulden ohne die Erhebung zusätzlicher Steuern zurückgezahlt werden können.

Man könnte es natürlich auch wie in Japan machen, wo die Zentralbank dem Finanzminister direkt und ohne Umwege Geld leiht. Obwohl das wunderbar funktioniert und auch nicht zur Inflation führt (die Japaner bemühen sich seit vielen Jahren um Inflation, haben aber Deflation), hat man es aber im Euroraum verboten. Die Zentralbank könnte der Regierung das Geld auch direkt „schenken“ (bzw. ohne Rückzahlfrist und Zins verleihen); zumindest wenn die Produktions-Kapazitäten nicht ausgelastet sind (wovon man jetzt weit entfernt ist) sollte dies nicht zu einer besonderen Inflation führen. Das Geld fließt ja so oder so in den Wirtschaftskreislauf, und es führt außerdem zur Schaffung neuer realer Werte.

@ Icetwo:

Aber das Geld muss ja irgendwo einen Gegenwert haben, und der wird in der Realwirtschaft erwirtschaftet, spätestens dann wenn du deine Derivate Millionen dazu nutzt dir eine Luxusvilla zu bauen. denn in einer Option ein Haus zu bauen kann man nicht wohnen. Man kann auch Optionen auf Nahrungsmittel nicht essen.

Ja natürlich. Aber dieser Sektor scheint doch oft dazu zu neigen, sich aufzublähen. Und es fließt dann viel Geld rein, was in der realen Welt nicht ankommt. Wie Du ja auch selbst andeutest. Eine Kritik lautet beispielsweise so:

„Aufgrund der Umverteilung von unten nach oben, wie eben skizziert, nahm das angelegte Finanzvermögen in den vergangenen Jahrzehnten drastisch zu – und zwar global. möglicherweise Betrug es 1980 noch 12 Billionen US-Dollar oder 120 Prozent des globalen Bruttoinlandsprodukts (BIP), so war es bis 2007 fast kontinuierlich auf 192 Billionen US-Dollar oder 349 Prozent des BIP angestiegen (Abbildung 5).
Dieses enorme Wachstum globaler Vermögensanlagen brachte eine gleichfalls enorme Bedeutungszunahme des Finanzsektors mit sich. Das Geld musste angelegt werden – da aber aufgrund der unzureichenden Nachfrage Investitionen in der Realwirtschaft wenig profitabel waren, wuchs die Neigung zu immer spekulativeren Finanzanlagen. Eines der wesentlichsten Merkmale des Neoliberalismus war daher eine immer weiter reichende Deregulierung der Finanzmärkte. Diese hat seitens der Finanzmarktakteure die Erfindung immer komplexerer und gefährlicherer ‚Finanzinnovationen‘ ermöglicht.“

http://www.annotazioni.de/post/1011

Thomas Fricke, der frühere Chefökonom der Financial Times, hat ein Buch mit dem Titel „Wie viel Bank braucht der Mensch?“ verfasst. Für eine Buchvorschau siehe:
http://archiv.wirtschaftsdienst.eu/downloads/files/veranstaltungen/Fricke/Leseprobe%20Fricke%20Wie%20viel%20Bank%20braucht%20der%20Mensch.pdf

Ich habe es (noch?) nicht gelesen. Aber ich halte die zentralen Thesen (soweit ich sie ergoogelt habe) für plausibel: Dass man eigentlich ziemlich wenig Bank braucht, und dass Banken vor allem dazu da sind, reale Investitionen in der realen Welt nach einer Prüfung der Kreditwürdigkeit des Kunden zu ermöglichen (also genau das zu tun, was der frühere Chef der Deutschen Bank Josef Ackermann als „langweilig“ empfand).
Ein paar zusätzliche Dinge mögen ja nach sinnvoll sein, aber allzu viel wird man davon nicht brauchen. Das Wirtschaftswunder hat mit normalen und ziemlich umfangreich regulierten Banken und einem allgemein sehr stark reglementierten Finanzsektor wunderbar funktioniert - und zwar ohne die Bildung gewaltiger Blasen.

Siehe auch:
http://www.deutschlandradiokultur.de/verhindern-dass-wieder-aus-wenig-geld-so-viel-schulden.1008.de.html?dram:article_id=267732

Dann möchte ich mal folgende Frage aufwerfen:

Ist der Neoliberalismus - den ich hier vereinfachend im Wesentlichen mit der sog. „Neoklassik“ gleichsetze - wissenschaftlich fundiert oder ideologisch?

Es gibt eine Reihe von Kritiken, die ich mir nun hier nicht generell zu eigen mache, sondern einfach nur vorstelle. Manche der kritischen Stimmen beziehen sich auf die Neoklassik als solche, andere vielleicht eher auf Einführungswerke als auf „fortgeschrittenere“ Abhandlungen; aber Einführungswerke sind ja auch von Relevanz.

Der Mathematiker C.P. Ortlieb, der sich mit der mathematischen Modellierung von Prozessen beschäftigt hat, kommt zu einem sehr negativen Befund. Insbesondere kritisiert er den seiner Meinung nach völlig unsachgemäßen Einsatz mathematischer Modellierungen sowie fehlende logische Konsistenz:

Offensichtlich ist es der Gebrauch mathematischer Modelle, mit dem sich die Neoklassik einen Anstrich von Wissenschaftlichkeit zu geben versucht und wohl auch selbst suggeriert. Nun ist aber mathematische Modellbildung mit einer bestimmten, von den Naturwissenschaften adaptierten Methodik verbunden, die sich nicht einfach abtrennen lässt, ohne das gesamte Erkenntnisinstrument zu zerschlagen. Genau dies aber macht die Neoklassik, weshalb übrigens die weitergehende und umstrittene Frage, welche Relevanz mathematische Modellbildung in der Gesellschaftswissenschaft überhaupt hat, am Beispiel der Neoklassik gerade nicht sinnvoll erörtert werden kann, denn dazu müsste sie ja in methodisch sauberer Form erst einmal betrieben werden. Aus der Sicht dieser Methode besteht der Hauptfehler in dem Vorgehen, die mit jeder Modellierung notwendig verbundenen Modellannahmen nicht auszuweisen oder sie nach beiläufiger Erwähnung gleich wieder unter den Teppich zu kehren, wenn sie die eigenen Argumentationen stören. Mathematische Modelle haben den Anspruch, abstrakte, idealisierte Abbilder der von ihnen beschriebenen Aspekte der Wirklichkeit zu sein. Die neoklassischen Modelle werden diesem Anspruch durchgängig nicht gerecht: Es handelt sich bei ihnen nicht um Abstraktionen oder Idealisierungen, sondern um Spezialfälle, die fälschlich für das Ganze genommen werden. Von mehreren Möglichkeiten (etwa: fallende, konstante oder steigende Grenzkosten, fallende, konstante oder steigende Arbeitsangebotsfunktion) wird diejenige als gegeben postuliert, die gerade in die eigene Sichtweise und Argumentation passt, ohne Rücksicht auf ihre tatsächliche Bedeutung und oft sogar unter Missachtung der Ergebnisse anderer Abteilungen der neoklassischen „Theorie“. Dass sich auf diese Weise keine Erkenntnisse über den Untersuchungsgegenstand gewinnen lassen, die über die eigenen Vorurteile hinausgehen, ist evident.
Um logische Fehler zu erkennen, und um solche handelt es sich, bedarf es keiner besonderen Kennerschaft welcher Methode auch immer. Es ist daher nicht überraschend, dass die hier beschriebene Verwendung mathematischer Modelle kritisiert wurde, seit sie aufkam.15 Diese Kritik hat aber nicht zu einer Revision des Vorgehens geführt, sondern zur Entwicklung von Immunisierungsstrategien. […]
Dass es dabei um ein Verständnis des Gegenstands gar nicht geht, dürften auch die Lehrbuchautoren wissen. Einem Harvard-Professor, der mit einem Modell die angeblich zu hohen Tarif- und Mindestlöhne als schuldig an der Arbeitslosigkeit ausmacht, ist natürlich bekannt, dass er hundertzwanzig Seiten vorher im selben Buch die Annahmen eben dieses Modells bereits widerlegt hatte. Der Eindruck drängt sich auf, dass hier Absicht im Spiel ist.

Diese Vorhaltung, sich gegen Kritik zu immunisieren, erhebt neben anderen Vorwürfen auch der ZEIT-Blog „Herdentrieb“. Hier wird insbesondere wissenschaftstheoretisch argumentiert. So heißt es etwa:

…Mit all diesen Immunisierungsstrategien der neoklassischen Theorie (Kapeller beschreibt noch viele andere) gegen Falsifizierungsversuche kann man nun empirisch forschen wie man will. Die Theoretiker werden immer Mittel und Wege finden, ihre Theorie unangreifbar zu machen. Genau das ist der Platonismus in der Neoklassik. Wenn die Theoretiker ihre Theorien (etwa die Nutzenmaximierung bei totaler Beliebigkeit des konkreten Nutzeninhalts) der Falsifizierung entziehen, ist das Theoriegebäude nicht mehr wissenschaftlich, sondern metaphysisch. Das kann legitim sein: Die Existenz Gottes ist, wie jene des Marktgleichgewichts, nicht falsifizierbar und jedem steht es frei an Gott oder das Marktgleichgewicht zu glauben. Aber es ist eben Glaube und keine kritische Auseinandersetzung mit Aussagen und Erklärungen über die reale Welt.[…]

Das hat natürlich politisch wichtige Folgen: Wenn ich alle empirische Kritik an der These eines vollkommenen Marktgleichgewichts mit einer geschickten Formulierung der Axiome abwehren kann, kann ich an den Segen des Marktgleichgewichts glauben, ohne ihn empirisch jemals festnageln zu können. Ich kann dann bei jedem Scheitern von Tests sagen: Kein Wunder, dass die Tests fehlschlagen, denn in den getesteten Märkten gibt es ja gar nicht genug Konkurrenz. Wir müssen also die Konkurrenz erhöhen – etwa mit mehr Marktteilnehmern, mehr Anstrengung, intensiverem Wettbewerb und flexibleren Preisen –, dann wird sich das soziale Optimum schon einstellen. Und wenn es sich dann wieder nicht einstellt, ist man eben noch zu weit entfernt von der perfekten Konkurrenz etc.
Dieser Gedankengang ließe sich noch auf andere Felder der Neoklassik anwenden: Wenn etwa Finanzmärkte nicht effizient sind, weil es asymmetrische Informationen gibt, muss man einfach die Informationen verbessern, dann werden auch die Märkte effizient; wenn sie dann immer noch nicht effizient sind, gibt es wohl noch zu viele asymmetrische Informationen etc. Wenn die Arbeitslosigkeit hoch ist, müssen die Löhne zu hoch sein und wenn die Löhne sinken, die Arbeitslosigkeit aber immer noch hoch ist, müssen halt die Löhne noch mehr sinken etc.
Der neoklassische Ökonom kann also immer behaupten, dass er die ideale Welt des Marktes kennt, egal, wie die Realität aussieht. Mit den unwissenschaftlichen Immunisierungsstrategien, wie sie hier geschildert wurden, kann er – im Prinzip – alle Erfahrung der Realität als nicht zutreffend auf seine Theorie abschmettern und letztere zugleich als utopische Schablone für Fragen politischer Gestaltung zum Einsatz bringen.

Hans-Peter Büttner behauptet, dass die von der Neoklassik typischerweise präsentierten Ansätze zur Arbeitsmarkttheorie nachweislich untauglich seien, und dass dies von den Neoklassikern in der sog. Cambridge-Cambridge-Debatte auch eingestanden worden sei. Das habe sich in den Lehrbüchern jedoch nicht niedergeschlagen:

Was bleibt ist eine neoklassische Theorie in Trümmern, die von Herr und Heine in ihrem Lehrbuch „Volkswirtschaftslehre“ als „längst widerlegter Theoriestrang“[12] bezeichnet wird. Die Kritik der Sraffa-Schüler[13] war durchschlagend und mußte von den Vertretern der Neoklassik zähneknirschend und frustriert akzeptiert werden:

Nicht umsonst gestand Paul Anthony Samuelson für die Neoklassik die Niederlage ein[14] und schrieb: „If all this causes headaches for those nostalgic for the old time parables of neoclassical writing, we must remind ourselves that scholars are not born to live an easy existence. We must respect, and appraise, the facts of life.“

Versuche von Neoklassikern, das Desaster der Cambridge-Kontroverse herunterzuspielen gab es viele, doch sind die Ausbruchs-Versuche bisher ziemlich kläglich gescheitert[15]. Wissenssoziologisch interessant ist hierbei die Tatsache, daß Samuelson bis heute aus der Widerlegung der neoklassischen Kapitaltheorie keine Konsequenzen gezogen hat und die Debatte in seinem renommierte Lehrbuch zur Volkswirtschaftslehre hartnäckig totschweigt. Studenten der Volkswirtschaftslehre jedenfalls sollen mit so brisanten Informationen nicht unnötig „belastet“ werden auf ihrem Weg in den herrschenden Wissenschaftsbetrieb.

http://www.trend.infopartisan.net/trd1010/t081010.html

Eine irgendwie vergleichbare Kritik formuliert Norbert Häring vom Handelsblatt, der meint, dass vieles, was in Lehrbüchern steht, veraltet sei, und erklärt: „Manch ein Lehrbuchautor schreibt das Gegenteil dessen, was er als Forscher für richtig hält.“
http://www.wiwi.uni-wuerzburg.de/uploads/media/Seiten_10_11_Handelsblatt_2013-11-18.pdf

Auch Jürgen Kremers Kritik geht in eine ähnliche Richtung, beschäftigt sich jedoch vorwiegend mit der Darstellung der neoklassischen Unternehmenstheorie. Im Hinblick auf eine bestimmten Theorie, die sich, obwohl sie erwiesenermaßen falsch sei, zumindest noch in vielen Lehrbüchern finden lasse, erklärt er:

…Wenn sich Ihnen also diese Frage stellt, dann sind sie in guter Gesellschaft. Der Wirtschaftsnobelpreisträger George Stigler stellte sie ebenfalls vor über 50 Jahren. Und er hat sie auch so beantwortet, wie wir uns das oben überlegt haben. In einer Veröffentlichung im „Journal for Political Economy“ stellte er fest, dass die Steigung der Nachfragekurve unabhängig davon, ob es sich beim betrachteten Markt um ein Monopol oder um ein Polypol handelt, immer gleich ist, siehe Stigler [3]. Und nun denken Sie möglicherweise mit ungläubigem Staunen: „Ein Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften weist vor über 50 Jahren in einer Fachzeitschrift dieser Disziplin auf einen grundlegenden Fehler in einem zentralen volkswirtschaftlichen Modell hin, und dieser Fehler wird nicht korrigiert, sondern bis auf den heutigen Tag weiter gelehrt. Wie kann das sein?“

Eine andere Kritik besteht darin, dass die Neoklassik die Rolle des Geldes für eine moderne kapitalistische Marktwirtschaft herunterspiele und beispielsweise behaupte, dass Änderungen der Geldmenge längerfristig keinen Einfluss „auf reale Größen wie Konsum oder Arbeitslosigkeit haben, sondern lediglich die Geldpreise und -löhne beeinflussen“, wie die Wikipedia diese Behauptung im Artikel „Neutralität des Geldes“ zusammenfasst. Dies wurde immer wieder kritisiert, etwa von Mathias Binswanger:

Der eben dargestellte Zusammenhang zwischen Geldschöpfung und Wachstum wird in der Mainstreamökonomie vollkommen ignoriert. Dort wird die Fiktion aufrechterhalten, Banken würden Geld wieder ausleihen, welches die Sparer bei ihnen deponiert haben. Dies ist aber, wie weiter oben dargestellt seit dem 17. Jahrhundert nicht mehr der Fall, als die Goldschmiede in London damit begannen, Kredite in der Form von Papiergeld zu vergeben. Und je wichtiger das Finanzsystem und die Banken geworden sind, umso grotesker ist diese Sichtweise. Die ökonomische Theorie hat sich aber in die Idee verrannt, der gesamte wirtschaftliche Prozess müsse als Tauschprozess erklärbar sein, da er sich nur so als geordnete Welt eines allgemeinen Gleichgewichts darstellen lässt. Und in einer solchen Tauschökonomie gibt es zwar Sparen aber keine Geldschöpfung.

An diesem Modell des allgemeinen Gleichgewichts kann man aber nur festhalten, wenn Geld neutral ist, und keine Auswirkung auf die Wirtschaftstätigkeit hat. Da Geldschöpfung bzw. Geldpolitik aber ganz offensichtliche Auswirkungen auf die wirtschaftliche Tätigkeit hat, hat man sich in eine Art Schizophrenie geflüchtet, die auf den Schottischen Philosophischen Ökonomen David Hume zurückgeht. Man sagt, dass Geld zwar kurzfristig Auswirkungen auf die Wirtschaftstätigkeit hat und damit nicht neutral ist. Langfristig verschwinden dann aber diese Änderungen alle wieder. Übrig bleiben dann bei einer Zunahme der Geldmenge nur Preiserhöhungen (Inflation) und Geld ist damit langfristig neutral.

Diese Argumentation ist aber nicht haltbar. Werden mit Hilfe von neu geschaffenem Geld Investitionen finanziert, dann führt dies auch zu neuen Produktionsverfahren und Produkten, welche die reale Wirtschaftstätigkeit verändern und häufig auch zu einem Wachstum der Produktion und der Beschäftigung führen. Würden wir jetzt aber von der Annahme ausgehen, dass Geld langfristig neutral ist, dann müssten sämtliche auf diese Weise mit zusätzlicher Geldschöpfung finanzierten Innovationen wieder verschwinden und es würden nur Preiserhöhungen übrig bleiben. Das ist aber eine offensichtlich unsinnige Annahme. Die durch Geldschöpfung ermöglichten Innovationen hinterlassen bleibende Spuren in der Wirtschaft und langfristige Neutralität ist dann nicht möglich.

http://www.larsschall.com/2015/09/01/die-geldschoepfung-aus-dem-nichts-ist-nicht-neutral/

Eine ganz besonders umfangreiche Kritik der Neoklassik findet sich bei Krätke Er schreibt:

Auf die gleiche großzügige Weise, wie mit dem Informationsproblem ist die Neoklassik seit jeher mit allen bekannten und unleugbaren Fällen von Marktversagen umgegangen: Jedwedes Marktversagen wird neoklassisch damit erklärt, daß es eben zuwenig Märkte gebe oder die vorhandenen Märkte leider noch unvollkommen seien (vgl. z.B. die Darstellung bei Hahn 1984). […]
Die Studenten, die in neoklassischer Denkweise unterwiesen worden sind, zeigen in aller Regel alsbald Wirkung: Zu Anfang ihres Studiums, so haben diverse Untersuchungen und Befragungen unter Studenten der Wirtschaftswissenschaften an US-amerikanischen Universitäten gezeigt, interessieren sich die Studenten noch stark für reale ökonomische Probleme und deren mögliche Lösungen. Während der ersten zwei Jahre ihres Studiums, also dank ihres »Trainings« in neoklassischer Denkweise, wird ihnen dieses Interesse gründlich ausgetrieben. Am Ende glauben 68% und mehr, daß empirische Kenntnisse der realen ökonomischen Welt völlig irrelevant seien, um als Ökonom zu reüssieren (vgl. Kasper u.a. 1991; Colander/Klamer 1990). […]
Auf die Kritik der Neoklassik reagieren sie [die Vertreter der Neoklassik] im Zweifelsfall, d.h. dann, wenn die Standardentgegnung, alle denkbaren Einwände seien im Modell schon längst berücksichtigt, sich nicht halten läßt, mit der Frage nach einer Alternative: Was, bitteschön, sollen wir denn unsere Studenten lehren, wenn die konventionelle oder Standardökonomie so irrelevant, unlogisch, unempirisch, ideologisch geladen ist, wie Ihr sagt? Wie sieht Eure ökonomische Theorie denn aus? Kommt darauf eine mehr oder minder ausführliche Antwort, reagieren die meisten neoklassischen Ökonomen geradezu panisch: Das hieße ja, die neoklassische Theorie, überhaupt jeden analytischen Begriffsapparat aufgeben - »to abandon neoclassical theory is to abandon economics as a science« (North 1978, 974).

Wie gesagt möchte ich einfach einmal auf diese Kritiken hinweisen, ohne sie mir in dieser Allgemeinheit zu eigen zu machen.

Meine Fragen in die Runde lauten nun:

Ist die Kritik berechtigt?
Ist sie übertrieben?
Ist sie teilweise berechtigt?
Trifft sie auf die einführenden Lehrbücher zu, aber (teilweise) vielleicht weniger auf fortgeschrittene Lehrbücher?

Es gibt in den Wirtschaftswissenschaften eine reihe von Theorien die versuchen alles mögliche zu erklären. Diese Theorien haben allesamt schwächen aber auch Stärken. Vor allem gibt es einen Unterschied zwischen der Kurzen Frist und der Langen Frist. Die Neoklassik beispielsweise versagt häufig in der Kurzen Frist, während man Langfristig schon erkennen kann, dass da was dran ist. Es ist so, das die Theorie dann eigentlich angepasst werden müsste, da stehen aber dann die Anderen Theorien im weg. Im Prinzip Bräuchte man einen Albert Einstein der Ökonomie der eine Theorie entwickelt die alle alten Theorien in einer guten Art und weise Zusammenführt, Das wird aber aufgrund der Komplexität und der schwierigen Messdatensituation wahrscheinlich noch so 100-200 Jahre dauern.

@ alle:

Kleine Berichtigung. Zum Zitat von Hans-Peter Büttner aus meinem letzten Beitrag hatte ich einen anderen (aber ähnlichen) Text desselben Autors verlinkt, aber nicht den, aus dem das Zitat stammt. Der richtige Link lautet:
http://www.trend.infopartisan.net/trd1006/t041006.html

@ Icetwo:

Das ist sicher richtig - die Ökonomie ist halt unglaublich komplex.

Dennoch habe ich jedoch (subjektiv) den Eindruck, dass gerade im Zusammenhang mit der Neoklassik bestimmte Probleme auftauchen, die eigentlich vermeidbar wären. So habe ich das Gefühl, dass einige Grundannahmen getroffen werden, von denen oft unklar oder mitunter sogar höchst fraglich ist, ob sie (und sei es auch nur annähernd) auf die untersuchte Realität zutreffen.
Zudem habe ich den Eindruck, dass manche Annahmen der Neoklassik oft erstaunlich schlicht sind und gesamtwirtschaftliche Zusammenhänge ausblenden. Es werden dann vor dem Hintergrund solcher Annahmen bestimmte (teilweise anspruchsvolle mathematische) Modelle erstellt, die so aber oft gar nicht auf die Realität anwendbar sind. Zwar werden die Einschränkungen, die mit den sehr restriktiven Modell-Annahmen verbunden sind, manchmal zugegeben, dann aber in der Praxis doch wieder unter den Tisch fallen gelassen.

Beispiel: Man geht vom Homo oeconomicus aus, der mit großer Zweckrationalität, mit großem Egoismus und bestens informiert über den Markt seinen Nutzen maximiert. Zwar würde man vielleicht “im Prinzip” zugestehen, dass Menschen so nicht funktionieren (Verhaltensökonomik) - aber in der Praxis leitet man genau von diesem Menschenbild seine Modellannahmen ab. Das hat handfeste Konsequenzen.

Etwa diese: Hyman Minsky hatte schon seit vielen Jahren vorausgesagt, dass das ganze Wirtschaftssystem sich extrem destabilisieren könne, weil die Akteure in ihm eben oftmals gerade nicht “rational” handeln (jedenfalls nicht aus gesamtwirtschaftlicher Sicht). Auch empfahl er Gegenmaßnahmen. Er fand aber kaum Beachtung:

[I]“Für den Ausbruch der Krise ist kein exogener Schock nötig. «Instabilität entsteht durch die Mechanismen innerhalb des Systems, nicht ausserhalb», schrieb Minsky, «unsere Wirtschaft ist nicht instabil, weil sie durch den Ölpreis oder Kriege geschockt wird. Sie ist instabil, weil das in ihrer Natur liegt.» In beiden Extremen des Ungleichgewichts, im Spekulationsboom wie in der deflationären Schuldenliquidation, entsteht kein Korrektiv: Der Boom nährt sich selbst, genauso wie sich die Wirtschaft in der Depression immer weiter in die Tiefe schraubt.[…]
Es erstaunt kaum, dass Minsky mit diesen Ansichten in den Achtzigern keine Chance hatte. Eine Theorie des Ungleichgewichts war damals weltfremd. Neukeynesianer, Neoklassiker, Monetaristen sowie die Anhänger der österreichischen Schule waren sich in der Annahme einig, dass das Wirtschaftssystem – zumindest in der langen Frist – in ein Gleichgewicht strebt. Es war die Zeit der Theorie der rationalen Erwartungen, der effizienten Finanzmärkte, untermauert mit der Präzision mathematischer Modelle. Es war die Zeit der Deregulierungswellen im Bankensektor, gestartet unter Reagan und Thatcher, fortgesetzt in den USA unter Bill Clinton. […]
Für Hyman Minsky war in dieser Welt kein Platz mehr. Nur ein verlorenes Grüppchen Post-Keynesianer scharte sich noch um ihn. 1996 starb er an Krebs.
Vier Jahre später war Minsky in den «Essays on the Great Depression» des Princeton-Professors Ben Bernanke nur eine Fussnote wert. Ein exzessiver Schuldenaufbau – wie von Minsky gewarnt – sei in einer freien Marktwirtschaft gar nicht möglich, weil das irrationales Verhalten der Marktteilnehmer voraussetzen würde. «Und das», schrieb der spätere Chef der US-Notenbank, «ist kaum vorstellbar.»”[/I]

Andere Beispiele (nach Ortlieb):

Das Modell von Debreu und Arrow wird gerne herangezogen, um zu zeigen, dass Märkte einige schöne Eigenschaften haben wie die, sich in einem allgemeinen Gleichgewicht befinden. Nach Ortlieb (S. 11) ist dieses Modell aber mit einer Reihe von Annahmen verbunden, die weit davon entfernt sind, auf die Wirklichkeit zuzutreffen. Dennoch würde man so tun, als sei mit diesem Modell etwas Bedeutendes über die “real existierenden Märkte” ausgesagt:

[I]“Wer diese sehr engen Grenzen [des Modells von Debreu und Arrow] vor Augen hat, in denen das Modell des allgemeinen Gleichgewichts Gültigkeit beanspruchen kann, wird einem Kommentar des Existenzsatzes und der Pareto-Optimalität des Gleichgewichts wie dem folgenden von Neumann (2002, 277) wohl schwerlich zustimmen: ‘Durch diese Entdeckung wurde die Vermutung Adam Smiths, daß die Verfolgung des Selbstinteresses unter Wettbewerbsbedingungen - wie von einer unsichtbaren Hand geleitet - dem Allgemeinwohl dient, auf eine feste Grundlage gestellt.’ Das Problem der Klassiker der politischen Ökonomie, wie eigentlich eine kapitalistische Gesellschaft funktionieren kann, deren Mitglieder allesamt nur ihrem Eigennutz dienen, wird hier nicht gelöst, sondern entsorgt, indem es an ein Modell delegiert wird, das mit Kapitalismus so gut wie nichts zu tun hat.”[/I]

(Langfristige) Arbeitslosigkeit tritt nach der gängigen neoklassischen Sichtweise offenbar deswegen auf, weil die Löhne (oder der Mindestlohn) zu hoch seien. (Diese schlichte Annahme scheint tatsächlich in der Neoklassik weitgehend akzeptiert zu sein).

Hierzu bemerkt Ortlieb:

[I]“Mankiw (2001, 625) gibt diese Erklärung im makroökonomischen Teil seines Buches unter der Kapitel Überschrift ‘Die langfristige realökonomische Entwicklung’. Es kann also nicht nur um die kurzfristige Reaktion einzelner Betriebe auf Lohnsenkungen gehen. Festzustellen ist daher, dass hier ganz offensichtlich die Ceteris-Paribus-Klausel missachtet wurde, die ja eine der Modellvoraussetzungen war. Denn die Nachfrage der Unternehmen nach Arbeit hängt wesentlich von der Auftragslage ab, also von der Nachfrage nach Gütern, diese wiederum von den Masseneinkommen und damit vom Lohnsatz. Ob dieser besonders von Keynesianern betonte gegenläufige Effekt tatsächlich der stärkere ist, lässt sich hier nicht entscheiden. Das Problem ist aber, dass diese Frage gar nicht mehr gestellt werden kann, wenn die ‘Werkzeuge von Angebot und Nachfrage’ derart schematisch und ohne Rücksicht auf die Modellvoraussetzungen angewandt werden, das eigene Modell also
als Brett vor den Kopf genagelt ist.” [/I]

Diese Kritik scheint mir völlig berechtigt zu sein. Man kann nicht zentrale Aspekte der Wirklichkeit in einem Modell vernachlässigen, um es dann einfach ohne Weiteres auf genau diese Wirklichkeit zu übertragen. Vielmehr müsste man alle Faktoren, die offenkundig von erheblicher Relevanz sein könnten, mit in die Betrachtung bzw. Gesamtrechnung einbeziehen. Oder man müsste erklären, dass man nicht sagen kann, inwieweit das Modell auf die Wirklichkeit anwendbar ist. Was passiert, wenn man dies nicht beachtet, kann man an Südeuropa studieren, wo die Löhne in Ländern mit großem Binnenmarktanteil stark gekürzt wurden mit dem Ergebnis, dass die Arbeitslosigkeit noch einmal sehr zunahm.

Ein weiteres Beispiel (Zitat Ortlieb) :

[I]“Die hier referierte theoretische Herleitung der Arbeitsangebotsfunktion aus einer Nutzenoptimierung der Haushalte findet sich in vielen Lehrbüchern, die mikroökonomische Modelle behandeln, immer mit dem gleichen (Nicht-)Ergebnis. Mankiv (2001, 501, ff.) etwa stellt mit etwas anderen Modellvoraussetzungen (Präferenzrelationen statt Nutzenfunktionen) und etwas anderen (geometrischen) Methoden fest, dass je nach der Art der Präferenzen die Arbeitsangebotskurve einen steigenden oder fallenden Verlauf aufweisen kann. Das hindert ihn aber nicht daran, achtzig Seiten vorher die uneingeschränkte Anwendbarkeit des Angebot-Nachfrage-Modells auf den Arbeitsmarkt zu konstatieren und hundertzwanzig Seiten später die Absenkung der angeblich zu hohen Mindest- und Tariflöhne als Rezept gegen die dauerhafte Arbeitslosigkeit aus eben diesem Modell abzuleiten. Es ist schon erstaunlich, welche Ungereimtheiten zwischen zwei Buchdeckel passen.”[/I]

Ortlieb (dessen kritische Analyse noch weit umfassender ausfällt) kommt daher zu einem ernüchternden Schluss:

[I]“Auch ihren Urhebern können diese Fehler kaum verborgen geblieben sein. Ein Harvard-Professor, der mit einem Modell die angeblich zu hohen Tarif- und Mindestlöhne als schuldig an der Arbeitslosigkeit ausmacht, weiß natürlich oder sollte jedenfalls wissen, dass er hundertzwanzig Seiten vorher im selben Buch die Annahmen eben dieses Modells bereits widerlegt hatte. Der Eindruck drängt sich auf, dass ein solches Vorgehen nicht einfach fehlerhaft ist, sondern absichtsvoll: Es geht weniger darum, Erkenntnisse zu gewinnen, als vielmehr bestimmte vorgefasste Sichtweisen zu vermitteln, nämlich die einer Harmonielehre des Marktes, der ‘Gleichgewichtsidee’. Man muss keine besonders strengen Maßstäbe anlegen, um dieses Verfahren als unwissenschaftlich und ideologisch zu charakterisieren… Aus der Tatsache, dass mathematische Modelle falsch gebraucht werden, lässt sich nicht zwingend schließen, ihre Verwendung sei ganz zu vermeiden. Die derzeitige Situation macht es im Gegenteil geradezu unmöglich, die Relevanz mathematischer Modellbildung für die Volkswirtschaftslehre zu beurteilen, denn dazu musste sie in methodisch sauberer Form ja erst einmal betrieben werden. Eine Mindestanforderung dafür besteht in der Beachtung einer elementaren Grundregel: Mathematische Modelle können in keinem Fall mehr liefern als logische und mathematische Schlussfolgerungen aus den Annahmen, die in sie hineingesteckt wurden.
Es wäre deshalb schon viel gewonnen - und kritischen LeserInnen von wirtschaftswissenschaftlichen Lehrbüchern allemal zu empfehlen -, würde man jedem Modell einen ‘Beipackzettel’ anheften, auf dem festgehalten ist, auf welchen Annahmen es beruht und unter welchen Bedingungen es anwendbar ist, also z. B. ‘Unter Bedingungen industrieller Massenproduktion nicht geeignet.’ Da dann allerdings die Mehrzahl der einführenden Lehrbücher vom Markt genommen werden müsste, ist dieser Vorschlag nicht besonders realistisch. Einen praktikableren habe ich jedoch nicht.”[/I]

Irgendwie habe ich - soweit mein Überblick reicht - den Eindruck, dass die Neoklassiker sich eine schöne Welt des (einfachen Tausch)marktes konstruieren, in der bestimmte Modellierungen funktionieren und unter deren Voraussetzung sich schöne mathematische Beweise für schöne Theoreme formulieren lassen - dass sie dann aber diese ideale Welt (und hier erst wird es wirklich problematisch) ohne sorgfältige kritische Prüfung auf die Realität übertragen. Dass sie sich also gewissermaßen die schönen Modelle von der Wirklichkeit nicht kaputt machen lassen wollen.

Es soll hier noch auf ein Video von einem Dozenten zum sog. “Postkeynesianismus” hingewiesen werden. Dieses Denken ist vermutlich der wichtigste Konkurrent der Neoklassik, wie sie gerade in Deutschland offenbar sehr dominant ist. (Persönlich finde ich die Argumente des Postkeyensianismus theoretisch und empirisch deutlich überzeugender, soweit ich mir ein Urteil erlauben kann.)

In dem anderen Thread (siehe erster Beitrag) ging es auch um den Zins und den dadurch vermeintlich entstehenden Wachstumszwang. Ich hatte geschrieben, dass ein Zins bei der Inflationsrate keinen Wachstumszwang auslösen würde, auch wenn man dann das Bankensystem wohl gründlich reformieren müsste.
Inzwischen habe ich mich aber davon überzeugt, dass der Zins generell kein Wachstum erzwingt, sofern das durch ihn eingenommene Geld nur wieder in den Wirtschaftskreislauf zurückgeführt wird:

[I]“Das Geld, das das Kreditinstitut (KI) als Zinsen erhält, gibt das KI grundsätzlich auch wieder aus. Es bezahlt seine Angestellten und seine Lieferanten, es bezahlt Steuern an den Staat. Und schließlich zahlt es Überschüsse an seine Eigentümer, also z. B. an Aktionäre. Auf einem dieser Wege kann prinzipiell das Geld, das als Zinsen eingenommen wird, auch an den Kreditnehmer gelangt sein, bevor er seine Zinsen bezahlt. Ja, die 1000 € können sogar schon vor der Zinszahlung vom KI zu dem Kreditnehmer gelangt sein, denn auch ein KI nimmt Kredite auf, insbesondere bei Bankkunden, die dort Geld deponieren: auf Girokonten, Tagesgeldkonten, Sparkonten u. ä.[…]
Man muss sich einfach klar machen, dass der Zins nichts exotisches, sondern genauso der Preis für eine Leistung ist wie z. B. der Kaufpreis für ein Brötchen oder ein Auto oder wie der monatliche Mietzins für eine Wohnung. Die Leistung (auch im juristischen Sinn!) des Darlehensgebers ist es, dem Darlehensnehmer für eine gewisse Zeit eine bestimmte Menge Geld zu überlassen. In dieser Zeit kann - wie wir alle wissen - der Darlehensnehmer mit diesem Geld wirtschaften (ob zu seinem Vor- oder Nachteil ist nicht die Frage). Der Darlehensgeber verzichtet für diese Zeit auf diese Möglichkeit. Dafür erhält er eine Vergütung: die Zinsen. Nichts anderes ist es mit dem Mietzins für eine Wohnung.”[/I]
http://www.meudalismus.dr-wo.de/html/zins_und_wachstumszwang.htm

Ungeachtet dessen halte ich ein ökologisch verträgliches Wachstum durchaus für sinnvoll.