Alexander Grau ist Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wirtschaftsjournalist. Für das politische Magazin „Cicero“ schreibt er die Kolumne „Grauzone“.
SPIEGEL: Herr Grau, was haben Sie gedacht, als Sie den Ausbruch von Greta Thunberg bei der Uno in New York gesehen haben, ihr emotional vorgetragener Vorwurf des „How dare you!“, wie könnt ihr nur?
Grau: Der Auftritt Greta Thunbergs selbst war aggressiv und hatte etwas Fanatisches. Das war abstoßend und plump. „Fridays for Future“ hingegen muss Thunbergs Botschaft eventtauglich machen. Hier geht es um Massenkommunikation: Das Ergebnis ist politischer Kitsch: einfache Lösungen, unterkomplexe Problembetrachtung, starke kollektive Emotionalisierung, Verklärung der Natur und eine Realitätsverweigerung, die sich als Realismus ausgibt.
SPIEGEL: Aber Greta Thunberg und „Fridays for Future“ fordern uns doch auf, endlich die Realität des Klimawandels anzuerkennen und Konsequenzen daraus zu ziehen.
Grau: Zur ganzen Geschichte gehört aber auch, dass wir es mit einer Reihe von Zielkonflikten zu tun haben. Klimaschutz ist eben nur eines unter vielen politischen Zielen. Ohne Armutsreduktion etwa werden wir die Überbevölkerung nicht in den Griff kriegen. Dafür brauchen wir aber Wirtschaftswachstum und sehr viel billige Energie. Ein Komplettausstieg der Menschheit aus fossilen Energieträgern könnte zu noch viel größeren Katastrophen führen.
SPIEGEL: Beschreiben Sie bitte, was genau Sie unter politischem Kitsch verstehen.
Grau: Bei Kitsch denken wir zunächst an ästhetischen Kitsch, an Hummel-Figuren, Gartenzwerge und dergleichen. Kitsch will starke Gefühle erzeugen, er ist einfältig, eindimensional und vor allem massenkompatibel. Bei politischem Kitsch verhält es sich ganz ähnlich. Seine Sprache oder Symbole sind überzeichnet, emotionalisierend, pathetisch, süßlich, mitunter hysterisch und zielen auf einfache Massenkommunikation.
SPIEGEL: Können Sie noch andere Beispiele für politischen Kitsch nennen?
Grau: Nehmen wir mal eine Phrase wie „Menschlichkeit kennt keine Grenzen“. Hier haben wir alles zusammen, was Kitsch ausmacht: Menschlichkeit ist zunächst etwas rundum Positives. Allerdings wissen wir alle, dass Menschlichkeit natürlich räumliche und normative Grenzen kennt. Und die sind auch gut zu begründen. Allerdings schlägt die Phrase einen so süßlichen Ton an, dass sich die meisten Menschen kaum trauen zu widersprechen, obwohl der Unsinn, der hier kommuniziert wird, offensichtlich ist. Das ist die rhetorische Funktion von Politkitsch: emotionalisieren, Denken einstellen, Widerspruch unmöglich machen.
SPIEGEL: Sie schreiben: „Deutschland versinkt im politischen Kitsch.“ Warum sollen gerade die Deutschen anfällig dafür sein?
Grau: Kulturhistorisch sind dafür zwei Ereignisse verantwortlich: die Reformation und die Romantik. Die Reformation – ich vereinfache jetzt – stärkte die persönliche, individuelle und subjektive Glaubenserfahrung. Das führte insbesondere im Pietismus zu einer überzuckerten Frömmigkeitssprache. In der Romantik wurden diese Motive dann wieder aufgegriffen: Empfindsamkeit, Innerlichkeit, Ergriffenheit. Romantische Bewegungen gab es natürlich auch in anderen Ländern, aber in keinem waren sie so nachhaltig wie in Deutschland.
SPIEGEL: Sie schreiben: „So spinnt sich der von intellektuellem Kitsch beseelte Deutsche weiter sein trübes Weltbild zusammen, eine abstoßende Melange aus Hypersensibilität, Achtsamkeit, Nabelschau, aggressiver Friedfertigkeit, naturheilkundlichem Firlefanz, Esoterik, Betulichkeit und einer Vorliebe für fade Rührseligkeit.“ Ist es wirklich so schlimm?
Grau: Mitunter ja: Es gibt aus besagten Gründen in der deutschen Mentalitätsgeschichte einen erstaunlichen Hang zu einem romantischen Irrationalismus, zu einer aufdringlichen Betulichkeit und verbissenen Gefühligkeit, der insbesondere im Ausland mit einem gewissen Befremden wahrgenommen wird.
SPIEGEL: Die Ursprünge des politischen Kitsches sehen Sie in der Französischen Revolution. Warum ausgerechnet dort?
Grau: Politischer Kitsch ist ein Phänomen des bürgerlichen Zeitalters. Er entsteht aus der ideologischen Not heraus, der ewigen Ordnung des Feudalismus neue ewige Werte entgegenzusetzen. Das war aber unmöglich. Also versuchte man sich darin, Utopien zu kommunizieren. Dabei heraus kam etwa das Fest des höchsten Wesens: die erste kitschige politische Großveranstaltung.
SPIEGEL: Sie sehen im politischen Kitsch eine Gefahr für die offene Gesellschaft, für die Demokratie. Warum?
Grau: Kitsch stellt das Denken ab. Deshalb setzen totalitäre Regime ihn so gern ein: die Sowjetunion, das „Dritte Reich“, die DDR, Nordkorea. In Demokratien aber sollte nachgedacht werden. Kitsch emotionalisiert und vereinfacht. Das hat Folgen für die politische Debatte. Der Mitbürger mit anderen Argumenten mutiert zum emotional defizitären Querulanten. Solche Frontstellungen nützen einer Diktatur, schaden aber der Demokratie.
SPIEGEL: Ist dieser Alarmismus nicht selbst ein bisschen kitschig?
Grau: Nein, kitschig nicht, allenfalls stark gezeichnet. Aber ich fürchte, dass die Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte mir Recht gibt. Wir verlieren zunehmend die Fähigkeit zur nüchternen, emotionsfreien und sachlichen Debatte. Jedes auch noch so abwegige Thema wird moralisiert und damit emotionalisiert. Aber vielleicht ist das unter den Bedingungen einer modernen Mediengesellschaft auch gar nicht anders möglich.
SPIEGEL: Welchen Beitrag leisten die Medien Ihrer Meinung nach zur Verkitschung der Politik?
Grau: Einen erheblichen. Grundsätzlich ist es so, dass in modernen, individualistischen Gesellschaften Emotionen des Einzelnen eine große Rolle spielen. Medien verstärken diesen Trend noch. Denn Massenmedien bauen auf Sensationen, auf Katastrophen und Skandale, kurz: auf Emotionen. Die digitale Infrastruktur hat diese Emotionalisierungsmaschinerie noch einmal zusätzlich angeheizt. Ohne Twitter würde es viele Aufreger gar nicht geben.
SPIEGEL: Leidet Deutschland unter Bundeskanzlerin Merkel wirklich unter zu viel politischem Kitsch? Sie ist doch eine Politikerin, die kaum Emotionen zeigt und die Debatten eher verweigert als aufzuladen. Ihre Amtszeit gilt als Comeback des Biedermeier, nicht der Romantik.
Grau: Auf jeden Fall. Die Bundesrepublik und ihre Kanzler haben sich aus historischen Gründen immer betont nüchtern und sachlich gegeben. Die Bonner Republik war denkbar unkitschig, bis in die Architektur hinein. Und Angela Merkel steht in dieser Tradition. In der Bundesrepublik kam der politische Kitsch daher meist vonseiten außerparlamentarischer Aktivisten: Lichterketten, Mahnwachen, Schweigemärsche.
SPIEGEL: Der schlimmste Kitschproduzent ist Ihrer Ansicht nach der „kritische Intellektuelle“, vor allem der „kritische Künstler“. Warum ist das so? Und können Sie Beispiele nennen?
Grau: Ein Problem des Künstlers in der Moderne ist, dass er eine Botschaft haben möchte, auch wenn er im Grunde keine hat. Also äußert er sich politisch, was ziemlich sicher in Plattitüden mündet. Nehmen Sie nur Herbert Grönemeyer, einer der zuverlässigsten Kitschlieferanten: „Kriege werden aufgegessen“ – da ist man einfach nur fassungslos. Danach kommt nur noch Clemens Bittlinger.
SPIEGEL: In der deutschen „Schmonzette“, schreiben Sie, gebe es Elemente eines Antihumanismus: Der Mensch stört auf Erden. Warum ist das so?
Grau: Angesichts der Eingriffe des Menschen in das Ökosystem denken viele, dass die Welt ohne Menschen friedlicher, ökologischer und harmonischer wäre. Aber das ist Unsinn. Der Mensch, auch der Mensch der Moderne, ist Teil der Natur, kein von außen hinzugekommener Fremdkörper. Hier äußert sich kaum verhüllt eine zynische Misanthropie.
SPIEGEL: Andererseits ist es doch eine wissenschaftliche Erkenntnis, dass wir einen bedrohlichen Klimawandel erleben. Und Wissenschaft ist das Gegenteil von Kitsch, schreiben Sie selbst.
Grau: Selbstverständlich. Das Problem sind nicht die wissenschaftlichen Erkenntnisse, sondern wie man diese kommuniziert. Wenn etwa das umstrittene Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung auf seiner Homepage einen Menüpunkt „Mission“ angibt, muss man sagen: Missionen gehören in die Religion, nicht in die Wissenschaft. Ein wissenschaftliches Institut hat keine Mission zu haben.
SPIEGEL: Was meinen Sie mit Infantilisierung der Politik?
Grau: Die Sprache der Politik ist in den vergangenen Jahrzehnten rührseliger geworden. Es wird zunehmend mit persönlichen Empfindungen argumentiert, mit Betroffenheit und Gefühlen. Gerade die Gesellschaftspolitik neigt dazu, nicht zu fragen, was objektiv ist, sondern wie Betroffene sich subjektiv fühlen. Das ist unter Erwachsenen albern und peinlich. Politik hat sich nicht um Gefühlchen zu kümmern. Gerade in einem Sozialstaat ist das wichtig: Der muss halbwegs objektive Ansprüche erfüllen, nicht aber jeden gefühlten Missstand beheben.
SPIEGEL: Ein bisschen Kitsch ist doch manchmal ganz erbaulich. Hand aufs Herz: Hängt bei Ihnen eine Kuckucksuhr an der Wand, oder steht eine Skulptur von Jeff Koons in einer Ecke?
Grau: Weder noch. Aber Sie haben natürlich recht. Ästhetischer Kitsch ist auch wichtig, er streichelt unser Gemüt. Wir brauchen ihn hin und wieder wie Süßigkeiten. Wer hört nicht manchmal gern sentimentale Schlager? Oder meinetwegen Grönemeyer. Kitsch kann eine beinahe therapeutische Funktion haben.