Das deutsche ESC-Problem ist viel weitgreifender, als dass es nur den ESC-Teilnahmetitel allein betrifft:
Im Vergleich zu den 70er und 80er Jahren ist die gesamte deutsche Radiolandschaft komplett austauschbar geworden im Hinblick auf Sendepläne und Titelauswahl (Die übliche Comedy-Show, die übliche Morgen-Gute-Laune-Truppe, das „Beste der 80er/90er und von heute“). Egal, wo man in Deutschland mit dem Auto unterwegs ist - man kann sich sicher sein, die selben Titel auf 99% der Sender zu hören.
Daraus lässt sich schließen, dass die Titelauswahl bis auf seltene Ausnahmen von einer höheren Instanz „vorgegeben“ bzw. „bestellt“ wird. Es ist kein Geheimnis, dass auch früher Plattenlabels Einfluss auf Ausstrahlung hatten - allerdings gibt es im Gegensatz zu den 80er- und 90er-Jahren, in denen ich mich an diverse regelmäßige Sendungen erinnere, in denen auch Musikrichtungen abseits des sogenannten Mainstreams zur besten Sendezeit eine Bühne geboten wurde oder „Wunschsendungen“ mit auch ausgefallenen Hörerwünschen. Ich habe bis zum Studium zwischen Hannover und Bremen gewohnt und bin aufgewachsen mit…
- „Grenzwellen“ auf Radio FFN (Indie/DarkWave/EBM/…) mit Ecki Stieg,
- „Rocktelefon“ auf Bremen 4 (Hörerwünsche am Sonntagnachmittag, wo definitiv auch nicht-radiotypische Tracks gespielt wurden)
- NDR 2 - Club-Wunschkonzert
- NDR 2 - Maxis Maximal - Italo Disco / Eurodisco und Synth Pop-Tracks in Maxi-Versionen, die sonst nur in Diskotheken liefen
- FFN-Frühstyxradio (mit Kalkofe, Wischmeyer, Welke und definitiv viel Indie- und britischem Pop)
- Bremen 4 Rock und Metal liefen bei „Nightmare“ (später Wildside) und selbst im Fernsehen bei Tele 5 und RTL Plus gab es Sendungen, die „Hard & Heavy“ bzw. „Mosh“ hießen. Metal hat sehr loyale Fans und eine große Gefolgschaft in Deutschland - trotzdem findet diese Musik im Radio de Facto nicht mehr statt. Von 1-2 Spartensendern abgesehen, die auch nur die üblichen Songs spielen.
In diesen Sendungen habe ich viele Künstler/Bands/Songs das erste Mal gehört, die ich im „normalen“ Radio und dem heutigen Radio nie begegnet wäre.
Selbst ESC-Siegertitel wie der von Lordi oder das schräge Toy von Netta habe ich NIE im NDR, WDR & Co. gehört. Trotz des Erfolges finden sie also nicht statt. Das stilistisch ähnliche „Dance Monkey“ (nicht wie Lordi, sondern wie Netta) wurde jedoch rauf und runter genudelt. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.
Ein weiteres Problem ist, dass das Radio für viele Menschen als „akustische Tapete“, z.B. im Büro dient, „damit halt was läuft und es nicht so still ist“. WAS da läuft, ist oft sekundär. Meine Beobachtung (und ja - das könnte anekdotische Evidenz sein) ist, dass Menschen, die viel Radiomusik hören, selten genau sagen können, welche Art von Musik sie hören und meist mit „Das, was so im Radio läuft“ antworten.
Spezielle Bands, Künstler etc außerhalb der Radiowelt und den immergleichen Nasen, die im TV zu sehen sind, tauchen dann selten auf - denn auch die sind inzwischen austauschbar und machen sehr ähnliche Dinge. Bestes Beispiel sind die „Männer, die Gefühle zeigen“, wie Wincent Weiß, Max Giesinger, Clueso, Tim Bendzko usw.
Ein in den 80er Jahren vielbeschäftiger Musikproduzent sagte mir mal:
„Das Musikgeschäft ist das schmutzigste, das es gibt.“
Da wird was dran sein und alles wird am Ende seine Gründe haben…