Die einfache Erklärung: Weil sich empirische historische Fachwissenschaft als gesellschaftswissenschaftliche Disziplin nicht mit einer Naturwissenschaft vergleichen lässt.
Die komplexere Erklärung: Grundlegendes Ziel aller Wissenschaften ist es, wahre Aussagen zu generieren, die helfen sollen, „die Welt“ zu erklären und Probleme zu lösen (= Klärung von „Warum-Fragen“). Weil nun „die Welt“ ein sehr komplexes Konstrukt ist, müssen für jeden Bereich Spezialisten (= Wissenschaftler) ausgebildet werden, deren zentrale Aufgabe ist, jenseits des Alltagswissens Kompetenzen und Wissen zu erwerben, um die komplexen Phänomene erklären zu können. An dieser Stelle unterscheiden sich nun die Wissenschaftsdisziplinen. Spezifikum der Geschichtswissenschaft ist, dass deren Erkenntnisobjekt in der Gegenwart nicht mehr direkt beobachtbar ist (weil es ja eben vergangen ist), sondern retrospektiv auf Basis einer permanent unsicheren Quellenlage erschlossen werden muss. Dadurch ist es in der Historik nicht möglich - anders als in den Naturwissenschaften -, deduktive Erklärungsmuster (Alle A sind B. Dies ist ein A. → Dieses A ist ein B.) anzuwenden. Vielmehr bedient man sich dort sog. intentionaler Erklärungsmuster nach dem Schema des aristotelischen praktischen Syllogismus.
Um es an dieser Stelle abzukürzen: Es gibt in der Historik keine feststehenden, objektiven Wahrheiten. Historiker versuchen aber, dieser durch - im Idealfall natürlich fundiertes und empirisch triftiges (= überprüfbares, nachvollziehbares und zustimmungsfähiges) - gewissenhaftes Studieren von Quellen und (nachrangig) Darstellungen möglichst nahe zu kommen. An dieser Stelle ist der Hinweis des Interviewgastes sehr wichtig, dass Experten sich gerade im fachwissenschaftlich-historischen Bereich lieber nur zu Dingen äußern sollten, von denen sie qua ihrer Profession wirklich etwas verstehen, weil sie in ihrem Forschungsgebiet liegen. Aus diesem können sie eben (idealerweise) historische Sachverhalte so empirisch triftig erklären wie niemand sonst.
Der Kniff ist nun aber, (und hier komme „ich“ als Vertreter der Geschichtsdidaktik ins Spiel) dass wir es im Fall einer Geschichtsdokumentation mit einer Darstellungsform von Vergangenheit in der gegenwärtigen Öffentlichkeit (= Geschichtskultur) zu tun haben, der es unter Umständen überhaupt nicht darum geht, in allen Belangen eine hohe empirische Triftigkeit aufzuweisen. Vielmehr spielen hier noch ganz andere Dimensionalitäten (nicht nur „die Wahrheit“ [kognitive Dimension nach Rüsen], sondern auch die Ästhetik und das Politische [ebenfalls nach Rüsen]) und Funktionen (nicht nur „Bildung“, sondern bspw. Unterhaltung, Kommerz) eine wichtige Rolle. Ich habe diesen Punkt schon einmal bei der Böhmermann-Kritik zu @ichbinsophiescholl zu verdeutlichen versucht (s. Foren-Thread „Betreutes Gucken #20: Böhmi vs. Sophie Scholl“).
Neben diesen erkenntnistheoretischen Grundsätzen, die für jegliches historisches Geschehen gelten, kommt bei dieser speziellen Geschichtsdoku noch erschwerend hinzu, dass diese mit „dem Mittelalter“ eine Epoche thematisiert, bei der die Quellenlage, auf deren Basis die historischen Erkenntnisse gewonnen werden, so unsicher und unvollständig ist wie bei kaum einer anderen. Dadurch ist es nur logisch, dass die Spanne an möglichen Interpretationen entsprechend groß ist. Und hier muss man in der Tat an den öffentlich-rechtlichen Rundfunk und an die Macher der Dokumentation erstens die grundsätzliche Frage stellen, welche genaue Funktion die Doku erfüllen sollte (ich unterstelle an dieser Stelle einfach mal eine primär bildend-unterhaltende und sekundär ökonomische), und zweitens, ob für die Erfüllung der intendierten Funktion gewissenhaft gearbeitet wurde (im Falle einer bildenden müssen auch fundierte Expertinnen und Experten aus dem entsprechenden Themengebiet konsultiert worden sein).