Die Abgrenzung, die Anchantia oben vorgenommen hat zwischen “normalen” und “fundamentalistischen” Christen ist mir auch zu pauschal - weil sie genau das gleiche tut, wie das, was sie bei den fundamentalistischen Christen ankreidet: Ein Schwarz-Weiß-Denken.
Ich glaube - selbst wenn ich Anchantia in einigen Punkten geneigt bin, zuzustimmen - dass es nicht so einfach ist.
Jeder fundamentalistische Christ, wird sich selbst als “normal” bezeichnen. Und: Wo fängt Fundamentalismus und Gehirnwäsche an? Bei der Kindstaufe, wo man ein Kind gegen seinen Willen in eine Gemeinde einführt? Dann sind alle Katholiken Fundamentalisten. Bei den ungezwungenen, hippen Messen mit flotter Musik? Dann stehen die Methodisten und die Baptisten gleich unter Verdacht.
Jeder Mensch und auch jeder Christ ist anders und denkt im Idealfall eigenständig. Es gibt sicher evengelikale Christen, die ein völlig unauffälliges und normales Leben führen, ohne andere Leute missionieren zu wollen oder wegen anders gearteter Ansichten zu verdammen. Das wird aber auch in der Doku bzw. im Statement des NDR betont!
Problematisch wird eine Gesinnung dann, wenn man sich selbst und seine Entscheidungen und Ansichten über die anderer erhebt. Und das ist ein Punkt, der mir oft bei Christen (evangelikalen und auch katholischen oder evangelischen) untergekommen ist. Man tut so, als würde man den anderen nicht verurteilen. Man ist “gnädig”, gibt sich verständnisvoll und hilfsbereit, rümpft aber dann doch die Nase. Das gipfelt dann darin, dass man eigentlich glückliche, gesunde Menschen von irgendwelchen Dämonen heilen will, weil man ihnen einredet, dass ihre Neigung und Interessen krankhaft seien. Das tun sie in bestem Gewissen und in aller Selbstgefälligkeit!
Das ist mehr als Missionierung - die allein schon fragwürdig ist.
Ich würde also sagen, dass man Strukturen und Gesinnungen kritisieren kann, genauso wie Organisationen oder Institutionen, die unter irgendeiner Art von Religion oder einem Glauben laufen. Wir kommen aber nirgendwohin, wenn wir die Gesamtheit der Christen in gut und böse einteilen. Das Problem ist nicht der Glauben, oder die Sehnsucht nach geistlichem Beistand, oder einer Richtung, die man dem eigenen Leben geben will. Das Problem ist die Gehirnwäsche auf Basis dieser Bedürfnisse, die die Menschen beschränkt und einschüchtert, statt zu öffnen und zu stärken.
Ich habe Gemeindearbeit immer so verstanden, dass sie den Menschen Selbstbewusstsein vermitteln soll. Ich wollte diese Leute ermutigen, nachzudenken und ihr eigenes Gewissen zu entwickeln, mit dem sie leben können - ohne Rücksicht auf Gott oder eine Institution wie die Kirche. Ich wäre niemals auf die Idee gekommen, irgendwelche kruden Werte vorzugeben mit dem Argument “Das steht so in der Bibel!”. (Andererseits ging es in unserer Gruppe auch weniger um Privatangelegenheiten wie die Sexualität, sondern eher um karitative Arbeit.)
Ich habe das alles immer nur als Angebot empfunden, bei dem man auch mal was weglassen kann oder kritisieren muss.
(Intiminfo am Ende: Ich hatte meine ersten sexuellen Erfahrungen übrigens in einem ausgemusterten Beichtstuhl in einer Sakristei… Seit dem verbindet mich eine gewisse Hassliebe mit der katholischen Kirche - außerdem ist es ne coole Anekdote, wenn man über die Angst der Kirchen vor der Sexualität diskutiert.)
Edit: Strikte Trennung zwischen Kirche und Staat? Nein, daran glaube ich tatsächlich nicht. Krankenhäuser und Kindergärten mit kirchlicher Trägerschaft werden mit Steuergeldern subventioniert. Kirchliche Gewerkschaften untergraben das Arbeitsrecht. Religionsunterricht wird an allen staatlichen Schulen gegeben. Die Kirchensteuer. Vertreter der Kirchen sitzen in den staatlichen Rundfunkräten.