Ich wurde im Smalltalk-Thread gebeten, doch einige Comicempfehlungen für Einsteiger abzugeben. Es freut mich immer sehr, wenn Neulinge sich an dieses Medium heranwagen. Ich habe im anderen Thread schon erwähnt, dass ich eine besonders enge und nostalgische Bindung zu Comics habe, weil ich mit einer recht umfangreichen Comicsammlung aufgewachsen bin und im Endeffekt damit lesen gelernt habe. Trotzdem finde ich Comics als Medium an sich auch objektiv gesehen sehr interessant: Man hat im Grunde eine Verbindung von Literatur und bildnerischen Medien, diese Kombination ermöglicht viele Variationen und Experimente ästhetischer und narrativer Art, auf die ich in der folgenden Textwand eingehen werde.
Comics sind näher am Film als an der Literatur, da einem vorgegeben wird, was man zu sehen hat, aber nicht so starr wie ein Film, da der Leser sich sein eigenes Tempo aussuchen und bei interessanten Szenen verharren kann.
Am Anfang nur kurz zur Differenzierung: Im Smalltalk-Thread hat Deepy sich von westlichen Comics an sich distanziert, da ihm die Rollenverteilung von Gut und Böse zu simpel ist, sikev hat das gleiche über Superheldencomics behauptet. Das ist natürlich Quatsch, gerade in letzteren wurde moralisch sehr viel Fundament aufgelöst, und wer beispielsweise den „Dark Knight“ von Frank Miller liest, wird sich bei der Beurteilung, welcher Charakter nun gut und welcher böse ist, sehr, sehr schwer tun. Abgesehen davon haben amerikanische und europäische Comics überhaupt nichts gemeinsam und können kaum in einem Topf geworfen werden. In den Nachkriegsjahren haben sich auch auf dem Comic-Markt zwei harte Fronten herausgebildet: Während in Europa „Funnies“ á la Lucky Luke, Donald Duck & Co. florierten, war der US-Markt schon sehr bald auf Action fokussiert (obwohl die Funnies hier natürlich geboren wurden, siehe Carl Barks). So etwas wie Micky-Maus-Hefte oder Asterix gibt es in den USA nicht, gleichzeitig wird man im frankobelgischen Raum keine selbstproduzierten Superheldenserien finden (obwohl Superman & Co. sich in Frankreich sehr gut verkaufen).
Ich persönlich bin mit frankobelgischen Comics aus den 70ern groß geworden und habe diesbezüglich sehr schöne Kindheitserinnerungen. Besonders empfehlen kann ich Andre Franquin, der mir mit Gaston und Spirou & Fantasio viele enorm lustige Stunden bereitet hat. Diese Serie, die zu den ganz großen europäischen Comicwerken gehört, wurde später durch verschiedene Autoren übernommen, von denen ich teilweise nur abraten kann (insbesondere Fournier halte ich für einen reinen Erbschleicher). Erst Tome & Janry haben der Serie neuen Wind verliehen, auch, weil sie sich erstmals so richtig an einem erwachsenen Publikum orientiert haben und ihr Spirou von makabren Witzen nur so wimmelt.
Zum Einsteigen empfohlen: „[B]Abenteuer in New York[/B]“, „[B]Mafia, Mädchen und Moneten[/B]“, „[B]QRN ruft Bretzelburg[/B]“ sowie „[B]Marilyn ist nicht zu stoppen[/B]“.
Eine ganz besondere Empfehlung betrifft „[B]Spirou – Porträt eines Helden als junger Tor[/B]“ von Emile Bravo. Es handelt sich um einen Sonderband, eine Art Reboot während der politischen Spannungen der 30er Jahre. Besonders die Zeichnungen sind hier supersüß (und kontrastieren damit die sehr dramatische und traurige Handlung) und sehr flüssig aufgebaut. Während des Lesens hat man aufgrund des Storyboard-artigen Zeichenstils permanent das Gefühl, eigentlich einen Film zu schauen, was nicht viele Comics schaffen.
Wer eher auf Abenteuercomics steht, ist mit Yoko Tsuno gut beraten. Die Serie dreht sich um eine japanische Computerspezialistin, die auf der ganzen Welt (und auch darüber hinaus) Rätsel verschiedenster Art löst. Hier kann ich die deutschen Sammelbände empfehlen, die zwar relativ teuer sind, aber enorm interessante Hintergrundinformationen enthalten. Die Comics haben einen interessanten Sight-Seeing-Charakter, Autor und Zeichner Roger Leloup hat für die Recherche zu seinen Alben verschiedenste Orte bereist und die Szenerie in seinen Heften sprichwörtlich bis auf jeden Dachgiebel (kein Scherz) akribisch eingefangen.
Für Einsteiger würde ich den Sammelband „[B]Yoko Tsuno - Die deutschen Abenteuer[/B]“ empfehlen, die an verschiedenen Orten in Deutschland spielen und in ein eher realistisches Setting eingebettet sind. Die Science-Fiction-Geschichten waren mir teilweise zu abgespacet. Wer auf sowas steht, kann aber vermutlich mit „Sillage“ etwas anfangen, leider habe ich aber nicht mehr genug von der Handlung im Kopf, um auf diese Serie genauer einzugehen - Ich weiß bloß noch, dass sie mir sehr gut gefallen hat.
Ein sehr merkwürdiger frankobelgischer Comic sind die „Haarsträubenden Abenteuer von Herrn Hase“. Besonders haarsträubend sind sie tatsächlich eher nicht, es geht vorrangig um die Alltagsabenteuer einiger Mittzwanziger mit Tierköpfen, die besonders durch ihre Banalität sehr surreal wirken. Wer auf enorm viel schwarzen Humor, unaufgeregte Handlungsstränge und das vollkommene Fehlen von Action fehlt, kommt hier voll auf seine Kosten. (Seit Herr Hase im letzten Band gestorben ist, geht die Serie übrigens als „Die erstaunlichen Abenteuer ohne Herrn Hase weiter).
mMn bester Band: “[B]Wie das Leben so spielt[/B]”
Bei den amerikanischen Comics würde ich erst einmal empfehlen, sich mit den drei Autoren zu beschäftigen, die das Genre der Superheldencomics für mich und viele andere in ihren Grundfesten erschüttert haben – als erstes natürlich Der Spirit von Will Eisner. Der Spirit ist im Grunde ein von den Toten auferstandener Detektiv im Stil von Radio-Trashhelden wie dem Shadow, aber interessanter als die Handlung sind hier die Zeichnungen (nicht umsonst ist der Eisner-Award inzwischen die höchste Auszeichnung in der Comickunst). Eisner hat die starren Grenzen der Panels aufgesprengt, mal bildet eine Seite den Querschnitt eines Hauses ab – mit jedem Panel als Zimmer, mal sind sie wie ein Kinderbuch angeordnet, mal gehen sie flüssig ineinander über usw.
Heute sind zumindest in den USA Comics mit klar definierten Panels kaum noch denkbar, zu verdanken haben wir das Eisner.
Eine gute Empfehlung für Einsteiger ist der Sammelband “[B]Spirit - Die besten Geschichten[/B]”.
Alan Moore war dann der Autor, der Comics erzählerisch auf ein so hohes Niveau gehievt hat, dass auch Literaturkritiker sich erstmals damit befassten. In „[B]Watchmen[/B]“ dekonstruiert er das Image des Superhelden und des amerikanischen Traums an sich, die Zeichnungen von Dave Gibbons folgen ganz bewusst einer starren prä-Eisner-Struktur und beinhalten Unmengen an Symbolen und Leitmotiven, deren Suche enorm viel Zeit in Anspruch nehmen kann. Dass „Watchmen“ Comics an sich so viele neue erzählerische Ebenen geöffnet hat, ist übrigens auch der Grund, warum viele Comicfans auf die Verfilmung von Zack Snyder allergisch reagieren. Watchmen zu verfilmen bedeutet, den Stoff auf seine Handlung zu reduzieren und dieses Werk nicht als das zu sehen, was es verdammt noch mal ist, sein will und sein muss – Ein Comic. Das hat dann irgendwann total absurde Formen angenommen, als ein Motion Comic produziert wurde, d.h. die einzelnen, starren Panels wurden als eine Art Zeichentrickfilm für Arme hintereinandergezeigt, während ein Erzähler die Sprechblasen vorlas… ughh.
Die dritte große stilprägende Arbeit war natürlich „[B]Batman – The Return of the Dark Knight[/B]“, aber darauf will ich jetzt gar nicht gesondert eingehen. Viele lieben es, viele finden es scheiße, auf jeden Fall war es prägend für diese „gritty“ Atmosphäre, die sich auch heute noch durch Batman-Comics zieht, und v.a. erlaubte es erstmals die Interpretation, dass Batman eigentlich kein Held, sondern ein halbwahnsinniger Psycho mit kaputten Idealen und Machiavelli-Einstellung ist (das hat Grant Morrison in seiner gestörten Batman-R.I.P.-Saga dann bis zum Exzess ausgeschlachtet).
Interessanter finde ich ein anderes Werk von Frank Miller, und zwar seine Interpretation von Daredevil. Daredevil war nie der coolste Superheld, sondern eher eine Art Spidey-Klon in blind und ohne Netz, immer mit einem blöden Spruch auf den Lippen und kaum interessanten Handlungssträngen. Das änderte sich, als Miller nicht nur die Zeichnungen, sondern auch den Plot übernahm und sich das ganze zu einer emotionalen Achterbahnfahrt entwickelte, in der irgendwann nicht mehr Daredevil, sondern Matt Murdock (die Person hinter der Maske) im Vordergrund stand. Ich empfehle besonders „[B]Daredevil vs. Bullseye[/B]“ (eine Zusammenstellung auch mit prä-Miller-Comics, die aber dennoch sehr gelunden ist) sowie „[B]Daredevil - Offenbarung[/B]“, dem Abschluss von Millers Saga, in dem Murdock durch den Gangsterboss Kingpin emotional und psychisch gebrochen wird. Direkt im Anschluss am besten „[B]Daredevil - In den Armen des Teufels[/B]“ von Kevin Smith (ja, dem Filmregisseur) lesen, der verschiedene religiöse, moralische und spirituelle Subtexte enthält und in dem ein wichtiger Charakter in Murdocks Leben sterben muss (dauerhaft, was in Comics ja nicht allzu oft vorkommt).
Hier noch einige gute Elseworldsstories (nur kurz angerissen):
[B]The Doom that Came to Gotham[/B] von Mike Mignola (Hellboy) – Eine der besten Batmangeschichten aller Zeiten. Spielt im viktorianischen Zeitalter und beinhaltet sehr viele Lovecraft-Elemente. Die Story ist sehr komplex, verschachtelt und intelligent aufgebaut, ich musste oft zurückblättern, um den Durchblick zu behalten. Ein Comic, für den man sich wirklich Zeit nehmen muss und nichts zum mal nebenbei durchblättern – am besten mit einer Tasse Tee und Kuscheldecke in einem Rutsch lesen. Die Zeichnungen sind an den Expressionismus angelehnt und verleihen der Story eine sehr düstere, trockene Atmosphäre, die kreative Reinterpretationen von Charakteren wie Green Arrow oder Two-Face hat mich sehr überzeugt.
[B]Marvel 1602[/B] – Wie hätten die klassischen Marvelcharaktere vor 400 Jahren ausgesehen? Sehr interessante Idee, gut umgesetzt von Starautor Neil Gaiman. Hat mich wegen der vielen Intrigen und dutzenden Handlungsstränge mit verschiedenen Charakteren stark an GoT erinnert.
[B]Superman: Red Son[/B] – Was wäre passiert, wenn Clark Kent nicht in den USA, sondern der Sowjetunion gelandet wäre? Witziges Szenario, aber nichts tiefsinniges, beinhaltet jedoch einen der besten Fights zwischen Supie und Batman.
„[B]Supreme Power[/B]“ von JMS (Original von Mark Gruenwald)
Die vermutlich gelungenste Superheldendekonstruktion überhaupt. Interessant hierbei ist, dass die Comics unter dem Marvel-MAX-Label veröffentlicht wurden, aber die Charaktere im Grunde Parodien auf DC-Helden wie Superman (Hyperion), Batman (Nighthawk) oder the Flash (the Blur) sind. Die Geschichte beginnt mit dem klassischen Supie-Aufbau: Ein UFO mit einem nackten Baby drin semmelt über einem Maisfeld ab, nur wird dieses hier direkt von der US-Regierung eingezogen und mit Propaganda indoktriniert, sobald klar ist, dass Hyperion über Superkräfte verfügt. Hyperion wächst sozial isoliert bei „Pflegeeltern“ auf und wird zu einer Superwaffe ausgebildet, während andere Superhelden vor ganz anderen Problemen stehen: Um den Blur schlagen sich verschiedenste Werbefirmen, die sein Kostüm mit Product Placement zukleistern wollen, während der afroamerikanische Nighthawk, nachdem seine Eltern von Rassisten erschossen wurden, selbst ausschließlich Schwarzen hilft und tatenlos zusieht, wenn Weiße verprügelt oder ausgeraubt werden. Sehr gesellschaftskritische Reihe und vielleicht die intelligenteste und realistischste Superheldenreihe überhaupt. Die Fortsetzung „Squadron Supreme“ war nicht mehr so heiß, da der Autor ausgetauscht wurde. Ich empfehle die Bände „Supreme Power #1 - 3“ und die Einzelausgaben „Nighthawk“, „Hyperion“, „Dr. Spectrum“ sowie „God’s and Soldiers“.
Non-Superhelden-Comics aus den Staaten:
“[B]Air[/B]” von G. Willow Wilson (übrigens eine der wenigen muslimischen Comicautorinnen).
Eine Stewardess verliebt sich unsterblich in einen ziemlich verdächtigen Passagier, von dem sie sich nicht ganz sicher ist, ob er ein Terrorist ist oder nicht, und wird immer tiefer in einen Sumpf aus konkurrierenden Geheimorganisationen gezogen – bis die Geschichte irgendwann total abgeht und zwischen Mindfucks und spirtuellem Bla versumpft (und das ist noch nicht mal negativ gemeint). Sehr aktuell, da auch problemstellungen wie Integration und Salafismus behandelt werden.
“[B]Maus[/B]” von Art Spiegelman
Maus erzählt die Geschichte von Spiegelmans Vater, einem Ausschwitz-Überlebenden, der durch seine Erfahrungen geizig, eigenbrötlerisch und allgemein schwierig und unangenehm wurde. Charaktere werden je nach ihrer Nationalität mit unterschiedlichen Tierköpfen gezeichnet, wohl um das Grauen der Geschichte etwas zu chiffrieren, die Zeichnungen sind holzschnittartig, hart schraffiert, detailfrei und ausschließlch schwarzweiß (was wohl auch eine moralische Aussage darstellen soll).
Der [B]Sandman[/B]-Zyklus von Neil Gaiman
Der Herr der Träume, Morpheus aka Dream, wird versehentlich von Okkulisten beschworen und gefangen – die wissen allerdings nicht recht, was sie mit ihm tun sollen, eigentlich wollten sie seine Schwester, Death. Dream wird sicherheitshalber in einer Glaskuppel eingesperrt, woraufhin Menschen auf der ganzen Welt Schlafstörungen erleiden. Irgendwann schafft Dream es, auszubrechen, und macht sich auf die Suche nach seinen Artefakten, die ihm gestohlen und verkauft wurden.
Die Geschichten sind episodenhaft aufgebaut, stehen manchmal für sich alleine, aber immer in einem großen Kontext. Sandman ist ein tiefsinniges Epos von enormen Ausmaß und mit unzähligen Subtexten und Querverweisen, das auch von Literaturkritikern und Schriftstellerkollegen voller Bewunderung aufgenommen wurde – vollkommen zu recht. Am besten in einem durchlesen, wenn man mal sehr lange nichts zu tun hat. Ich habe den Fehler gemacht, mir die Einzelbände in monatlichen Abständen zu holen und bin dabei irgendwann komplett rausgekommen.
Wer erstmal reinschnuppern will: Den Einzelband „[B]Death[/B]“ kaufen, der komplett abgeschlossene Geschichten aus dem selben Universum erzählt.
Das sollte an Empfehlungen nun erstmal reichen. Ich habe darauf geachtet, verschiedene Genres zu berücksichtigen und hoffe, ich konnte einen guten Überblick für Einsteiger verschaffen, die sich noch nicht sonderlich mit der Materie auseinandergesetzt haben. Ergänzungen gerne willkommen (kann doch nicht sein, dass ich hier der einzige Comicfan bin!)