Ich danke dir für deinen Kommentar, Holger. Auch ich war fassungslos vom Beitrag des ZDF Magazins über das aus meiner Sicht sehr gelungene Projekt @ichbinsophiescholl, das ich in diesem Semester mit Masterstudierenden einmal geschichtskulturell analysiert habe. Von daher kann ich durchaus einige Punkte mit der „universitären Brille“ ergänzen.
Kernanliegen des Projektes ist es, wie du korrekt dargelegt hast, einen alltags- und gesellschaftsgeschichtlichen Blick auf die historische Figur Sophie Scholl, die Widerstandsgruppe Weiße Rose und die Jahre 1942/43 in Süddeutschland zu werfen, den es bis dato noch nicht gegeben hat; erst recht nicht auf dem gewählten Wege des digitalen Lernens auf der Plattform Instagram. Was vom ZDF Magazin (bewusst?) verschwiegen wird: Es existiert neben dem eigentlichen Projektkanal auf Instagram eine begleitende Projektseite des SWR (Ich bin Sophie Scholl: Instagram-Projekt von SWR und BR), auf der ausführliche Informationen rund um die Projektentstehung und -umsetzung sowie weiterführende Links zum geschichtlichen Hintergrund (u.a. Audiobeiträge, Dokumentationen, Artikel eines Neffen von Sophie Scholl) präsentiert werden.
Die wesentliche Frage, um die die Kritik des ZDF Magazin immer wieder kreist, ist die, inwieweit und wieviel Fiktionalisierung von Geschichte „erlaubt“ sei. Die schlichte Antwort darauf ist: Es kommt darauf an, welche konkrete Funktion mit der jeweiligen Darstellungsform bezweckt wird. In der Geschichtskultur wird unterschieden zwischen verschiedenen Funktionen (wie z.B. Bildung, Aufklärung, Identitätsstiftung, Legitimation, Unterhaltung) und Dimensionen (bspw. nach der geschichtskulturellen Theorie Jörn Rüsens: ästhetisch, politisch, kognitiv), die eine öffentlichkeitswirksame Darstellung von Geschichte haben kann. Bei @ichbinsophiescholl wird man den Machern eine primär unterhaltend-bildende Funktion unterstellen können. Die gewählte dimensionale Ausrichtung des Phänomens ist vorwiegend ästhetisch und kognitiv, nachrangig politisch zu sehen.
Der kognitive Aspekt, also die Frage danach, wie „faktentreu“ (Fachbegriff: „triftig“) eine Darstellung ist, ist bei @ichbinsophiescholl offenkundig anders als bei einer musealen Ausstellung, einer geschichtswissenschaftlichen Abhandlung oder einer Schulbuchdarstellung, um nur ein paar weitere denkbare geschichtskulturelle Darstellungsformen aufzulisten. Wichtig dabei ist die Betonung auf „anders“, nicht „besser“ oder „schlechter“. Die empirische Triftigkeit bei @ichbinsophiescholl stützt sich auf Recherchen der Autorin und Historikerin Dr. Maren Gottschalk, die zugleich als Beraterin für das Projekt fungierte und im Beitrag des ZDF Magazin auch kurz zu Wort kommt. Wichtig in diesem Zusammenhang: Gottschalk hat 2020 eine Biographie zu Sophie Scholl veröffentlicht. Man kann also davon ausgehen, dass sie für ihr Buch eine fundierte Recherche von Quellen und Darstellungen zur Figur Sophie Scholl angestellt hat. Gleichzeitig ist zu bedenken, dass mit dem Buch natürlich auch ein kommerzielles Interesse der Autorin verfolgt wird. Das ZDF Magazin lässt nun aber nicht sie selbst, sondern Prof. Christian Bunnenberg zu Wort kommen, der die Darstellung Sophie Scholls im Luftschutzbunker kritisiert. Dazu sei gesagt, dass Bunnenberg seit wenigen Monaten Professor an der Universität Bochum für Didaktik der Geschichte und Public History ist. Als solcher ist er ausgewiesener Experte u.a. für die digitale Vermittlung von Geschichte - aber eben nicht für fachwissenschaftliche Zeitgeschichte zum Widerstand im Nationalsozialismus. Seine Kritik muss daher auf Interpretationen anderer Historiker aus dem fachwissenschaftlichen Bereich Bezug nehmen. Welche das genau sind, offenbart der ZDF Magazin-Beitrag jedoch nicht. Für mich ist sehr unverständlich, warum Bunnenberg nicht bspw. zur Einschätzung des didaktischen Potenzials von @ichbinsophiescholl befragt worden ist. Denn dafür wäre er ja Experte.
Um meinen Beitrag nicht noch mehr ausufern zu lassen, schneide ich andere vom ZDF Magazin aufgeworfene Kritikpunkte kurz an:
- Ausblendung der „Tätergeneration“
→ in @ichbinsophiescholl wird an einigen Stellen explizit auf die Zivilgesellschaft Bezug genommen. So werden bspw. die Vermieterin von Hans und Sophie Scholl in München, ein Nachbar der Scholls sowie der Hausmeister der Münchner Universität als denunzierende NSDAP-Sympathisanten dargestellt. Weiterhin gibt es eine eindrückliche Szene, in der die Freundin von Hans Scholl gegenüber Sophie Scholl eine Halskette präsentiert, die von ihrem Vater auf einer Auktion ersteigert wurde und offenkundig einem ermordeten deportierten Juden gehörte. Dies wird von Sophie scharf verurteilt, woraufhin auch die Freundin Gewissensbisse offenbart. Das Projekt exkulpiert also gerade nicht die deutsche Gesellschaft 1942-1943 generell als ahnungslose „bystander“ (gemäß der Einteilung Hilbergs [„perpetrator - victim - bystander“]), sondern stellt sie in Teilen als Mitwisser dar und kritisiert dies deutlich.
- Darstellung der Ostfront
→ Sophie Scholl bangt permanent um die Gesundheit ihres Freundes Fritz, der an der Ostfront im Einsatz ist. Sie tauscht mit ihm diverse Briefe aus, die u.a. die Sinnlosigkeit des Krieges sowie den tristen Alltag des Soldatendaseins thematisieren. Von „Partys an der Ostfront“, wie der ZDF Magazin-Beitrag suggeriert, kann keine Rede sein.
- Inszenierung eines Opferkultes
→ dem Projekt selbst (sowie geschichtskulturellen Phänomenen generell) kann nicht angelastet werden, wie es auf Ebene des individuellen Geschichtsbewusstseins rezipiert wird. Geschichte wird seit jeher auch politisch instrumentalisiert.
- „Gehts bei Geschichte nicht um Fakten?“
→ Was sind „Fakten“? Kaum ein historischer Sachverhalt lässt sich in Gänze lückenlos als „Faktum“ darstellen. Auf Basis einer stets unsicheren, multiperspektivischen, unvollständigen Quellenlage muss Vergangenheit immer rekonstruiert werden; sie ist ja nicht (mehr) direkt beobachtbar. Die dabei entstehende Interpretation in Form einer Geschichte muss immer gewisse Leerstellen füllen und ist immer Ausdruck einer subjektiven, gegenwärtigen Perspektive - und damit selbst dynamischem Wandel unterworfen.
- „aufgearbeitet haben wir dies nicht“
→ es muss nur der Historikerstreit Mitte der 1980er-Jahre, die Diskussionen rund um die beiden Wehrmachtsausstellungen um die Jahrtausendwende oder die Kontroverse um das Denkmal für die ermordeten Juden Europas („Holocaust-Mahnmal“) in Berlin erwähnt werden, um diese Aussage zu widerlegen. Die gesamte institutionalisierte Geschichtskultur (Jubiläen, Gedenktage, Monumente) zum Nationalsozialismus ist Resultat einer intensiven, permanenten Auseinandersetzung mit diesem Thema. Sehr schief ist im Übrigen die im ZDF-Beitrag vorgenommene Zusammenstellung von damaligen und heutigen Stellungnahmen zur Vergangenheitsbewältigung: Die Personen in den gezeigten Fernsehausschnitten aus den 1960er-Jahren waren allesamt direkte Zeitzeugen der NS-Herrschaft, haben somit offenkundig gänzlich andere Intentionen, „die Vergangenheit auf sich beruhen zu lassen“, als Einzelstimmen aus der heutigen Gegenwart.
- Quellen und ihre dramaturgische Wiedergabe
→ hat Böhmermann seinerzeit eigentlich selbst die Quellen offengelegt, als er den Eierwurf auf Helmut Kohl in Musicalform nacherzählt, dargestellt und fiktionalisiert hat? Auch dies stellte eine Form von Geschichtskultur dar, die spezifisch ästhetisch, politisch und kognitiv dimensioniert gewesen ist. Die als „tolles Beispiel“ gepriesenen eva.stories beruhen übrigens auf Tagebuchaufzeichnungen der ungarischen Jüdin Eva Heyman. Das Manuskript ist bis heute verschollen. Vielmehr gibt es Indizien dafür, dass die Aufzeichnungen vor der Publikation redigiert worden sind, möglicherweise um negative familiäre Erlebnisse Evas zu tilgen. Dies ist auch z.B. beim Tagebuch der Anne Frank getan worden. Diese Publikationen sind somit auch ein Stück weit fiktionalisiert und nicht authentisch.