Vor etwa zwei Jahren noch wurde allerorten erhitzt und leidenschaftlich über Rumänen und Bulgaren diskutiert, die nach Wegfall der letzten Freizügigkeits-Beschränkungen die deutschen Sozialsysteme überfluten würden. Vor allem die CSU hatte das Thema für sich entdeckt gehabt. Zahlreiche Talkrunden fanden dazu statt. Die mediale Aufmerksamkeit zeigte Wirkung:
[I]“Die von der CSU über die Arbeitnehmerfreizügigkeit für Bulgaren und Rumänen entfachte Zuwanderungsdebatte zeigt Wirkung - sie beschäftigt auch die Bürger. Erstmals bezeichnet eine Umfragemehrheit das Thema mit 22 Prozent als größtes aktuelles Problem, wie das aktuelle ZDF-‘Politbarometer’ zeigt.” [/I]
(Bei derselben Umfrage kam übrigens raus, dass Datenschutz und Massenüberwachung nur für wenige Befragte ein wichtiges Thema waren.)
Heutzutage interessiert sich bekanntlich keine Sau mehr für Rumänen und Bulgaren, die nach Deutschland kommen. Und in der Tat scheinen die meisten, die hier leben, übrigens auch zu arbeiten. Es gibt zwar einen erhöhten Anteil von Hartz-IV-Empfängern, aber der hat wohl auch mit schlecht bezahlter Arbeit und dem dadurch entstehenden Zwang zum Aufstocken zu tun und dürfte volkswirtschaftlich betrachtet nicht sehr ins Gewicht fallen. Wie gesagt: Kein Schwein interessiert sich mehr dafür. Diese Frage ist völlig von der Bildfläche verschwunden, fast so, als habe es all die aufgeregten Debatten über sie niemals gegeben.
Dann kam der nächste große Aufreger: Es ging gegen die gierigen Pleite-Griechen. Und zwar mit einer endlosen Serie von Lügen, Irreführungen und Verdrehungen, die den Medienjournalisten Stefan Niggemeier zu der Klage veranlassten: “Ich fürchte, dass selbst Sisyphos den Auftrag ablehnen würde, all die Fehler, Irrtümer, Boshaftigkeiten, Unterstellungen, Voreingenommenheiten, Verdrehungen und Ressentiments in der Berichterstattung deutscher Medien über die neue griechische Regierung richtigzustellen, aus Sorge, die Aufgabe könnte ihn zu einem unglücklichen Menschen machen.” (Ein einziges Beispiel unter unzähligen möge hier zur Illustration genügen, auch wenn es da eher um eine Äußerlichkeit geht.)
Inzwischen redet kein Mensch mehr von Griechenland, obwohl die Probleme dort so groß wie eh und je sind. Kürzlich hatte jemand (zurecht) gesagt, dass selbst dann, wenn Varoufakis (über dessen fehlende Krawatte mehr geschrieben wurde als über seine konkreten wirtschaftspolitischen Vorstellungen) erneut griechischer Finanzminister würde, dies wahrscheinlich kaum noch jemanden interessieren würde und in den Medien höchstens als Randnotiz erscheinen würde.
Und jetzt geht es eben um die Flüchtlinge aus anderen Ländern, die uns angeblich überschwemmen. Jedes Jahr eine Million oder so. Die Frage ist nur, ob hier nicht wieder mal ein Problem gewaltig aufgebauscht wird. Zuerst zu den Zahlen. So schreibt die taz:
[I]“Die Zahl der Flüchtlinge, die in Deutschland leben, ist 2015 weit weniger gestiegen als angenommen wird. Während Bundesinnenminister Thomas de Maizière immer wieder von gut einer Million neu angekommener Menschen spricht, sind aktuelle Zahlen der Bundesregierung nüchterner. Demnach lebten Ende 2015 insgesamt rund 1,25 Millionen Menschen als Flüchtlinge in Deutschland. Ende 2014 lebten bereits 627.000 Geflüchtete in Deutschland, so dass ihre Zahl im Jahr 2015 nur um knapp 600.000 gestiegen ist…Grund für die große Differenz beim Anstieg der Flüchtlingszahl ist einerseits, dass die Zahl der an der Grenze registrierten Menschen nur schlecht belastbar ist. So meldete die Süddeutsche Zeitung Ende Februar, dass 130.000 Flüchtlinge nach der Registrierung ‘verschwunden’ seien. Laut BAMF sind viele in andere Länder weitergereist, in ihre Herkunftsländer zurückgekehrt oder wurden schlicht doppelt erfasst. Hinzu kommt, dass jährlich auch Flüchtlinge abgeschoben der eingebürgert werden.”[/I]
Die Zahlen beruhen übrigens auf einerAntwort der Bundesregierung auf eine parlamentarische Anfrage. (Dies nur, falls jemand einwendet, dass die “taz” links sei.)
Klar, die Zahl ist immer noch hoch. Während des Jugoslawien-Krieges allerdings waren auch viele Flüchtlinge gekommen, besonders aus Bosnien-Herzegowina - inzwischen sind aber fast alle wieder in ihre Heimatländer zurückgekehrt. Von Hunderttausenden sind gerade noch zwanzigtausend Härtefälle geblieben. Dasselbe wird auch mit einem großen Teil der Flüchtlinge aus Irak, Syrien und co. passieren, wenn dort jeweils wieder tragbare Verhältnisse eingekehrt sind (auch wenn Angela Merkel das in der Vergangenheit einmal etwas anders gesagt haben mag). Dies auch schon deswegen, weil diese Länder auch Menschen brauchen werden, damit sie beim Wiederaufbau helfen. (Damals war das mit den Jugoslawien-Flüchtlingen aber auch ein Riesenthema gewesen, mit Brandanschlägen und allem drum und daran. Gelernt hat man daraus offenbar wenig.)
Es wird nun so getan, als sei die Flüchtlingsfrage DIE zentrale Frage für Deutschland.
Klar: Einerseits ist das natürlich ein Thema von Gewicht. Die bedeutendste aktuelle politische Frage ist es aber - sachlich gesehen - ganz sicher nicht. Und noch vor einem halben Jahr hat man sich viel weniger für die Flüchtlinge interessiert, und sie waren auch noch kaum in den Medien aufgetaucht - sei es positiv oder negativ konnotiert. Und das, obwohl es damals auch schon ziemlich viele gab. Stattdessen waren seinerzeit wie gesagt noch die Griechen das große emotionalisierende Thema gewesen, und ca. ein Jahr davor die sozialschmarotzende Rumänen, auch wenn man sich an die heute nur noch blass erinnern.
Fazit: Es wird doch jeden Tag eine neue Sau durchs Dorf getrieben. Dabei kommt ein Prozess in Gang, bei dem Medien, Politiker und Öffentlichkeit sich gegenseitig hochschaukeln. Das ist nach meinem Dafürhalten nicht “zentral gesteuert”, sondern stellt einfach das fatale Ergebnis einer sich selbst verstärkenden Entwicklung dar, bei der die diversen Akteure unkritisch agieren. Und viele Leute scheinen das noch nicht mal zu durchschauen und gehen diesem Prozess voll auf den Leim - und das finde ich nun wirklich erschreckend.