Ich habe lange überlegt, was ich da noch hinzufügen könnte. Einen wissenschaftlichen Exkurs sollen andere übernehmen, die es können. Rassismus hat viele Abstufungen und Facetten (wie hier an anderer Stelle auch schon festgestellt und erörtert wurde). Ein paar Nuancen möchte ich hier ansprechen, Persönliches. Alltagsbeobachtungen seit frühester Kindheit eigentlich. Das hat sich über die Generationen auch verändert, der Ton ist vielerorts schärfer geworden, die Bezüge sind heute andere. Dinge, die aber jedem in einem gewissen Alter noch bekannt vorkommen könnten, möchte ich kurz skizzieren. Man beobachtet immer wieder nicht nur Widersprüche, sondern auch eine gewisse Volatilität: Eine anfängliche Ablehnung oder Skepsis kann sehr schnell auch in Sympathie umschlagen, sobald positive, persönliche Erfahrungen auftreten. Umgekehrt geschieht dies natürlich auch. Ein latenter oder konkreter Rassismus kann auch sehr selektiv auftreten – oder ausgeblendet werden. Hier ein paar Skizzen, die ich mal so runterschreibe, wie sie mir in den Sinn kommen:
Zunächst eine Form des Rassismus, die auf persönlichen negativen Erfahrungen basiert. Meine Großmutter väterlicherseits, die ich nie kennengelernt habe, wurde von russischen Soldaten vergewaltigt. Laut Erzählungen meines Vaters hatte sie Zeit ihres kurzen Lebens nach dem Krieg einen Hass auf alles, was mit Russen und Russland zutun hatte. Verständlich irgendwie, aber in der Verallgemeinerung natürlich streng genommen rassistisch. Ende der 50er-Jahre hat sie sich auf Grund ihrer Erlebnisse das Leben genommen. Ihr Sohn, mein Vater, hat diesen Hass nie aufgenommen oder gar fortgeführt, im Gegenteil. Mein Vater hatte, was er übrigens mit vielen Deutschen gemeinsam hatte, eine tiefe Verbundenheit und auch Sehnsucht mit und nach Russland. Erinnert sich noch jemand an die mehrteiligen Russland-Dokumentationen von Klaus Bednarz, Gerd Ruge und Fritz Pleitgen? Die hatten Millionen-Quoten – und haben dieser Verbundenheit und Sehnsucht Ausdruck verliehen. Irgendwie kam mir das immer wie ein Widerspruch vor. Spielen der Zweite Weltkrieg und der Kalte Krieg noch eine Rolle in der heutigen Beziehung zu Russland? Man könnte meinen, dass die Deutschen auf Grund dieser Erfahrungen ein hasserfülltes Verhältnis zu Russland hätten (und umgekehrt die Russen zu den Deutschen noch wesentlich mehr) – es ist glücklicherweise nicht der Fall – gewundert hat es mich dennoch immer. Denn wir müssen nicht weit reisen um zu beobachten, dass andernorts ein Hass über Generationen hinweg, teils über Jahrhunderte, fortgeführt und am Leben erhalten bleibt.
Eine andere Beobachtung: Die Skepsis gegenüber und/oder die Ablehnung von Allem, was fremd erscheint. Rückblick in die 80er: Die türkischen Familien, die die Zechensiedlungen des Ruhrgebiets zu großen Teilen bewohnt haben. Die deutschen Nachbarn, die sich an fremden Gerüchen, chaotischen Vorgärten und einer Lebensweise gestört haben, die aus Anatolien importiert zu sein schienen. Die berühmten Sätze „Ich habe ja nichts gegen Ausländer, aber…“ oder „er ist ein Türke, ist ABER total nett“ hörte man hier häufiger. Der Widerspruch: Sobald es eine persönliche positive Begegnung oder Erfahrung gab, war es so, als hätte es den rassistischen Spruch am Stammtisch des Vorabends nicht gegeben. Zum Beispiel: Der türkische Nachbar, der dir bei der Reparatur des Autos geholfen hat. Ich persönlich werde nie die türkische Oma vergessen, die kaum Deutsch sprach, immer Kittelschürze und Kopftuch trug, mich zur Begrüßung immer zwischen ihren üppigen Busen drückte und mir ein Würstchen im Blätterteigmantel zu essen gab, dessen Geschmack ich nie vergessen werde. Trotzdem…: Es gab immer diese Distanz, das Auseinandergehen, die Abgrenzung – auf beiden Seiten. Ich erinnere mich an einen Spruch meiner Großmutter, den sie wiederum aus ihrer Kindheit zitierte: „Hose grün, Bluse blau, Polenfrau“. Ein im Ruhrgebiet der Vorkriegszeit durchaus geläufiger Spruch, in der man das Klischee der polnischen Einwanderin, die einen schlechten Geschmack hat, zum Ausdruck brachte.
Ich habe mich immer gewundert, wie Millionen Deutsche, die drei Jahrzehnte zuvor noch ihre Nachbarn denunziert und die Reden über Rassenschande bejubelt haben, später einen Mann wie Hans Rosenthal geliebt, verehrt und gefeiert haben, als hätte es den Holocaust nie gegeben. Ein Mann, dessen Bruder in KZ ermordet wurde, war persönlich so voller Liebe und Vergebung – und das Publikum scheinbar so dankbar, dass er die Tragödie seines Lebens nie thematisiert hat. Eine widersprüchliche Erinnerung meiner Kindheit sind Aussagen in meiner Familie wie „unter Hitler war nicht alles schlecht“ auf der einen Seite, auf der anderen das abendliche Zusammensein vor dem Fernseher und das Rufen von „und das war Spitze!“. Oder das „hast Du gehört? Die soll mit einem Neger rumgemacht haben. Die sollen mal schön unter sich bleiben“ auf der einen, das Mitsingen von und Schunkeln zu „Ein bisschen Spaß muss sein“ auf der anderen Seite. „Roberto Blanco war immer ein wunderbarer Neger, der den meisten Deutschen wunderbar gefallen hat“ – wie der bayrische Innenminister vor wenigen Jahren noch zu sagen pflegte. Aber wehe, wenn die Tochter mit nem „Schwatten“ ankommen würde…
Zum Abschluss muss ich zugeben, dass ich auch nicht immer ohne rassistische Anwandlungen war – Klischees bzgl. ethnischer und/oder nationaler Zugehörigkeiten haben auch mich hin und wieder in Entscheidungen beeinflusst. Klassiker: Gebrauchtwagenkauf oder -verkauf. Wer verdreht nicht die Augen, wenn er zunächst „was letzte Preis“ hört? Und ich habe auch bereits skeptisch hingeschaut, wenn ich einen türkisch klingenden Händlernamen gelesen habe und mich dann möglicherweise für den Deutschen entschieden – der sich dann natürlich als krummer Hund herausgestellt und mich beschissen hat. Es liegt in der Natur der Sache, dass der Handel mit fahrendem Altmetall Schlitzohren anzieht – und das völlig unabhängig von Nationalität oder Ethnie – aber der erste Impuls? Nicht immer ohne Vorurteile. Ein anderes Beispiel: Als es für mich darum ging, die ein oder andere Personalentscheidung zu treffen und jemanden einzustellen. Ist es Rassismus, wenn mir mein Gefühl sagt, dass ich mit dem asiatischen Bewerber möglicherweise den disziplinierteren, fleissigeren Arbeitnehmer einstelle? Tja…