Informationssperre bei Amokläufen/Terroranschlägen

Dem muss ich zum Teil widersprechen. Die unterschiedlichen Verlage bedienen unterschiedliche Klientel. Seriöse Tageszeitungen berichten über einen ausländischen Amoklauf mal im Panorama-Teil auf Seite 30 oder wenn es ein ausführlicher Kommentar ist auch mal im Gesellschaftsteil. Schundblätter dagegen haben Amoklauf-Titelseiten für die ganze Woche. Der Gruppenzwang der Zeitungen besteht nur innerhalb derselben Verlagskreise. So misst sich SPIEGEL online vermutlich an der Süddeutschen und der ZEIT online, die BILD sich eher an
RTL-Magazinen und die FAZ wieder an anderen Zeitungen. Vermutlich gibt es sogar Regeln innerhalb der Redaktionen, nicht auf jeden Zug mit aufzuspringen, um das Gesicht zu wahren. Und wenn nun tatsächlich jemand das Thema vollkommen verbannen würde, dann wäre das auch noch lange kein Untergang. Ist ja nicht so, als würde man direkt den Wirtschaftsteil oder ähnliches aussparen.

Jedoch bin ich keiner, der glaubt das die Menschheit ohne Bevormundung sich an diese (im Grunde) klugen Grundsätze halten würde…

Ich würde sogar noch weiter gehen und sagen: Ich weiß, dass die Menschheit Bevormundung braucht! Eine gesetzlose Gesellschaft, in der die Leute trotzdem im Einvernehmen miteinander leben, ist utopisch. Menschen brauchen Regeln, unter anderem gerade auch zur Moralfindung.

Wie oft hören wir denn von Anschlägen in Afghanistan, wenn keine deutschen Soldaten beteiligt sind?

Ich fände ja mal einen Sender interessant, auf dem den ganzen Tag aktuelle ausländische Nachrichten und Magazine laufen, die einfach nur untertitelt werden. Ansonsten aber genau so, wie sie dort gesendet werden. Was würde uns das für ein ungetrübtes Bild vermitteln, wie die anderen Gesellschaften sich und uns betrachten!

Ich möchte mal eben bei Fund dieses Threads meinen Senf hinzugeben.

@Lee:

Würde man nur einmal alle paar Jahre von einem Anschlag hören, wäre das eine Sensation.

Das ist richtig. Die Konsequenz ist aber die Erhöhung des Seltenheitswerts. Allein auf die Motivation zum Amoklauf durch Aufmerksamkeitsgarantie könnte man aber hier in der Folge paradoxerweise von umso mehr verursachten Amokläufen ausgehen. Denn die wären dann ja was umso besondereres. Welcher Effekt nun größer ist, lässt sich sicher nicht sagen. Ein Nutzen einer Nachrichtensperre ist in dieser Hinsicht also nicht klar.

Wir sind schon erfahren im Umgang mit Gewalt nur dadurch, dass wir sie immer wieder zu sehen bekommen. Auch ein Kind in einem Krisengebiet wird ziemlich abgestumpft sein, wenn es schon so viel Leid miterlebt hat.

Ich würde differenzieren zwischen erlebter Gewalt, die mich oder mein direktes familiäres oder soziales Umfeld betrifft und Gewalt, die auf dem Globus weit(er) entfernt stattfindet. Menschen können in der globalisierten Nachrichtenwelt nicht alles aufnehmen. Das ist so. Automatisch wird also bei jeder Nachricht selektiert, ob sie für mich mehr oder weniger Belang hat. In der Regel ist der Faktor der geographischen Entfernung dabei wesentlich.

Wichtig ist, was uns (emotional) berührt. Entweder, weil wir uns mit den Opfern (von Naturkatastrophen, Krisen, Mord oder Krieg …) identifizieren können, weil sie uns tatsächlich nah sind (unsere Familie, unsere Stadt, unsere Berufsgruppe, unser Land …) oder weil wir uns ihnen nah fühlen. Wenn jemand (Medien, die ihre Nachrichten wichtiger erscheinen lassen wollen, aber auch wohltätige Organisationen, die auf Spendenaufmerksamkeit angewiesen sind) seinen „Nachrichtenwert“ für den Empfänger erhöhen will, nutzt er in der Regel den Hebel der Emotionalisierung.

Auch das ist kritisch zu betrachten, aber nicht prinzipiell verwerflich.

Ich persönlich halte von einer über das gegenwärtige Maß von Informationsperre hinausgehende Einschränken der Nachrichten für sinnlos. Konkret auf Amokläufe und Terroranschläge bezogen sollte man daher sicherlich auf ein nicht dem Erkenntnisgewinn dienendes Dramatisieren verzichten (Detaillierte Familienhintergründe der Opfer und Täter).

Generell einen Deckmantel über Terroranschläge und Amokläufe auszubreiten, halte ich aber für verkehrt. Auf unserer Welt richtige Entscheidungen zu treffen funktioniert nur auf Grundlage einer transparenten und einigermaßen realistischen Einschätzung ihrer Chancen und Probleme. Verschweige ich Probleme, verhindere ich gegebenenfalls, dass Lösungswege dafür gefunden werden.

Folge ich Deinem Ansatz, dass mit dem Fall eines Amoklaufs eines Psychopathen wie mit einem Flugzeugabsturz umgegangen werden soll, wird das nur bedingt funktionieren. Denn eine Frage nach dem Warum existiert in beiden Fällen und wird in der Regel zumindest von den Betroffenen laut gestellt werden. Während für viele Katastrophen Ursachen in Architektur oder Ingenieurswesen u.ä. zu finden sind, sind Ursachen für Amokläufe und Terroranschläge, wenn überhaupt, schwieriger zu fassen. Nicht zuletzt deshalb bergen solche Ereignisse soviel Schrecken und Faszination.

Und letztlich gilt, dass ein Amoklauf das Ende einer Kette von Fehlern und Problemen darstellt. Sich diesen Fehlern und Problemen in der Öffentlichkeit nicht zu stellen, damit man mit den folgenden vermeintlich weniger taktierenden weil schlechter informierten Amokläufern besser umgehen kann, wäre meiner Meinung nach nur ein Scheinerfolg.

@ExtraKlaus:

Ganz ohne Bevormundung klappt es nun wohl doch nicht.

Bevormundung der Menschheit in dem Sinne, dass man ihr die oftmals gründlich durchdachten moralischen Leitlinien, gegebenenfalls in Gesetzestexte gegossen, direkt an die Hand gibt, halte ich für richtig. Nicht jedes Rad muss man zweimal erfinden. Bevormundung dergestalt, dass ich die Informationsgrundlage, auf der Gesetze und moralische Leitlinien angewendet werden sollten, selektiere, halte ich für verkehrt. Ich stimme Dir also zu, dass „Bevormundung“, auch wenn der Begriff etwas negativ konnotiert ist, nicht grundsätzlich zu verdammen ist.

Hey, Poppstar! Danke für deine erfrischenden Gedanken zum Thema. Ich denke, die haben meine Meinung noch mal nachhaltig verändert.

Allein auf die Motivation zum Amoklauf durch Aufmerksamkeitsgarantie könnte man aber hier in der Folge paradoxerweise von umso mehr verursachten Amokläufen ausgehen. Denn die wären dann ja was umso besondereres. Welcher Effekt nun größer ist, lässt sich sicher nicht sagen.

Das ist interessant. Dieser Widerspruch war mir bisher noch gar nicht aufgefallen. Aber da kann durchaus was dran sein, dass bei ständigen Anschlägen ohne wirkliche gesellschaftliche Änderung sogar bei den Anschlägern selbst sich eine lähmende Ohnmacht ausbreiten kann, weil sie so oder so nichts bewirken können. Da man weder diesen Prozess noch die Abstumpfung quantifizieren kann, lässt sich tatsächlich keine Konsequenz daraus ableiten. Wobei es nun auch nicht gerade unser Ziel sein kann, uns noch mehr Anschläge zu wünschen, damit weniger Leute zu Anschlägern werden. Das Ziel sollte daher vielleicht umso mehr sein, Anschläge, wenn sie mal passieren, klein zu halten und dabei unter anderem auch deine Vorschläge zu berücksichtigen (persönliche Leidensgeschichten außer Acht lassen). Wenn man das Thema schon nicht totschweigen kann/darf/soll, dann muss man es zumindest knapp und vernünftig behandeln. Was bringt es denn, wenn Opfer eine Stunde nach der Tat schildern, wie sie blutüberströmte Leute haben fortrennen sehen? Das ist genauso sinnvoll wie in einem Kriegsgebiet nachzufragen, wie denn die Bombenangriffe so waren. „Da lagen zerfetzte Leichen unter Häusertrümmern und vor lauter Schreien konnte man die herannahenden Bomben kaum hören.“ You don’t say? Komisch, dass es bei Autounfällen doch auch funktioniert. Da ist nur mal von „schwebt weiterhin in Lebensgefahr“ oder „verstarb noch an der Unfallstelle“ die Rede, aber es gibt nie Interviews mit der Familie, wie sie die Situation jetzt empfanden.

Ich würde differenzieren zwischen erlebter Gewalt, die mich oder mein direktes familiäres oder soziales Umfeld betrifft und Gewalt, die auf dem Globus weit(er) entfernt stattfindet.

Ja, das muss selbstverständlich differenziert werden. Vielleicht habe ich das nicht so deutlich voneinander getrennt dargestellt.

Generell einen Deckmantel über Terroranschläge und Amokläufe auszubreiten, halte ich aber für verkehrt. Auf unserer Welt richtige Entscheidungen zu treffen funktioniert nur auf Grundlage einer transparenten und einigermaßen realistischen Einschätzung ihrer Chancen und Probleme. Verschweige ich Probleme, verhindere ich gegebenenfalls, dass Lösungswege dafür gefunden werden.

Ich hatte das bisher so gesehen, dass eine Lösung in absehbarer Zeit nicht möglich ist, wir uns aber in einer Abwärtsspirale befinden. Salopp gesagt: Je abgefuckter die Gesellschaft ist, desto mehr Leute scheißen auf sie. Und damit auch: Je mehr Amokläufe ins Volksbewusstsein übergehen, desto mehr Amokläufer gibts. Aber vielleicht hast ja auch du Recht und es ist langfristig gesehen produktiver, wenn Soziologen, Politiker, Lehrer und Eltern aus den Fehlern der Amokläufer lernen. Was letztlich auch irgendwo das ist, warum Amokläufer diesen ganzen Scheiß überhaupt machen: Für mehr Zuwendung.

Und letztlich gilt, dass ein Amoklauf das Ende einer Kette von Fehlern und Problemen darstellt. Sich diesen Fehlern und Problemen in der Öffentlichkeit nicht zu stellen, damit man mit den folgenden vermeintlich weniger taktierenden weil schlechter informierten Amokläufern besser umgehen kann, wäre meiner Meinung nach nur ein Scheinerfolg.

Das stimmt, aber das ist halt die pragmatische Sichtweise: Wenn die Situation aussichtslos ist, kann man sie immerhin eindämmen. Ich finde es aber völlig ok, wenn das jemand anders sieht.