Wann immer ein Amoklauf geschieht, geht es nach anfänglichen Beileidsbekundungen bald um die Schuldfrage: Was ist dafür verantwortlich zu machen, dass Menschen zu Massenmördern werden? Das Antwortenspektrum reicht von Killerspielen und Mobbing über weltanschauliche Überzeugung, schlechte Erziehung und lockere Waffenrechte bis zu neurologischen Defekten und (im Scherze) dem Verspeisen von Brot. Eine Antwort, die mir offensichtlich scheint, wird allerdings fast nie genannt: Die Nachrichtenredaktionen. Ich bin der Ansicht, dass die Nachrichtenflut einen entscheidenden Effekt auf Häufigkeit und Opferzahl der Amokläufe hat. Im Nachfolgenden erläutere ich drei Thesen und frage euch im Anschluss, ob zunächst einmal jede These im Speziellen sinnvoll erscheint und zweitens, wie man die entsprechend gezogenen Schlüsse politisch umsetzen soll. Und los:
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Tipps und Tricks für den erfolgreichen Amoklauf.
Die meisten als Amoklauf bezeichneten Akte haben mit dem ursprünglichen “aus dem Affekt heraus” bedeutenden Amokbegriff nichts zu tun. Stattdessen zeichnet sich häufig ein ganz anderes Bild ab: Die Todesschützen planen ihre Tat über Wochen und Monate. Sie erstellen Todeslisten, Abschiedsbriefe, Manifeste oder Tagebücher, planen den Ablauf und bestellen ihre Waffen und Munition. Sie planen einen Anschlag. Dazu gehört auch, dass sie Nachrichtenartikel von früheren Amokläufen durchlesen. Damit sie nicht die selben Fehler machen oder auch einfach nur damit sie das volle Tötungspotential ausschöpfen. Die vergangenen Amokläufer sind die Idole, denen sie nachzueifern versuchen.
Und angesichts der Informationsdichte ist das heute auch überhaupt kein Problem. Minutiös wird der genaue Tötungsablauf geschildert, mitsamt beschrifteter Gebäudepläne. Man erfährt, woher der Täter die Waffen hat, wie er sich verhalten hat, ob es einen Sekundäranschlag gegeben hat und so weiter. Ich bin mir absolut sicher, dass es bei den heutigen Amokläufen seltener gleichzeitig zu Bombeneinsätzen käme, wenn nicht darüber berichtet würde. Die Informationen vergangener Amokläufe dienen als Ideengeber für alle späteren Amokläufer. Wäre nicht über die Bombenanschläge des Amoklaufs Bath 1927 berichtet worden, womöglich hätten die Täter in Columbine 1999 oder ebenso die Amokläufer von Utøya 2011 oder Aurora 2012 nicht die Idee entwickelt, selbst Bomben einzusetzen. Und wenn es nur einer gewesen wäre, der ohne die Literatur nicht selbst auf den Gedanken gekommen wäre, dann hätte das schon Menschenleben gerettet (Columbine ausgenommen, wo die Bomben nicht zündeten). Aber es geht nicht nur um Bomben, sondern allgemein um jede Info, die dazu geeignet ist, Amokläufe zu “optimieren”. Nachdem der Lehrer Rainer Heise dadurch bekannt geworden ist, Robert Steinhäuser durch einen psychologischen Trick eingesperrt zu haben, ist es zum Beispiel mehr als unwahrscheinlich, dass ein künftiger Täter auf Ähnliches reinfallen würde. Amokläufer lernen voneinander! Jeder Hinweis zum Ablauf eines Amoklaufs hilft ihnen, Fehler zu vermeiden und erschwert es allen anderen zu überleben. Es darf nicht sein, dass jeder Trottel heute weiß, dass es am effizientesten ist, zunächst den Hausmeister zu erschießen, dann die Schule zu verriegeln und schließlich den Feueralarm auszulösen, damit einem alle Opfer in die Arme - oder in präparierte Bomben - laufen und weder jemand heraus noch jemand anderes ins Gebäude herein kommt. Das ist gefährliches Wissen, welches mit Menschenleben bezahlt wird. Man sollte stattdessen die Information so gering wie möglich lassen, damit die Amokläufer Fehler machen. -
Amokläufe kommen in Mode.
Stellt euch mal eine Welt vor, in der es noch keine Amokläufe gegeben hat. Irgendjemand hat diesen überwältigenden Tötungswunsch, aber es gibt kein Wort dafür. Die Vorstellung, tatsächlich wild um sich zu schießen und wahllos Leute zu ermorden, ist völlig surreal. Man könnte sich nun selbst für gefährlich und verrückt halten. Der Trieb ringt sich mit dem moralischen "Das kannst du doch unmöglich tun!"
Und nun stellt euch die selbe Situation in unserer Welt vor. Das psychologische Phänomen wird zum gesellschaftlichen Phänomen. Das Problem ist kein individuelles mehr, sondern eines der Natur des Menschen. Die Verantwortung liegt gedanklich nicht mehr so sehr bei einem selbst, sondern die Menschen erhalten das, “was sie verdienen”. Durch andere Amokläufe motiviert entwickelt sich immer häufiger ein “Du musst das auch tun!” Es entsteht ein Werther-Effekt: Wenn das einzige, was einem zur Durchführung seines Vorhabens fehlt, die Bestätigung von außen ist, dann löst ein Amoklauf Folgeamokläufe aus. Diese Effekte sind statistisch nachweisbar und begrenzen sich auch nicht auf Amokläufe. Viele erinnern sich noch an die Stein- oder Holzklotzattentäter: Als einige Medien berichteten, wie Kinder Steine von Autobahnbrücken auf vorbeifahrende Autos warfen und damit ganze Familien auslöschten, machten sie es einfach nach; teils aus stupider Langeweile. Und dasselbe gilt eben auch für Amokläufer. Jeder, der nur kurz davor steht, selbst einen Amoklauf zu begehen, wird durch jeden weiteren Amoklauf in seiner Überzeugung final bestätigt. Diese Ansicht schlägt sich teilweise selbst auf normale Bürger nieder. So findet man nach geglückten Schulamokläufen in vielen Webforen Beiträge wie: “Der hat es halt nicht ertragen, ständig gemobbt zu werden und irgendwo geschiehts den Idioten dann auch Recht, die ihn immer geärgert haben.” Und das ganz unabhängig davon, ob überhaupt Mobbing vorlag, ob die Opfer in irgendeiner Beziehung zum Täter standen und ungeachtet der krassen Relation zwischen Mobbing und Mord. Das Töten von Mitmenschen wird - in gewisser Weise - moralisch relativiert. Bei einem Amoklauf vor mehreren Jahren geriet sogar der Abschiedsbrief des Täters an die Öffentlichkeit und viele Menschen sympathisierten mit dem Täter: “Ich würde vielleicht nicht ganz so weit gehen, aber verstehen kann ichs schon.” Man kann sicher so ziemlich alles verstehen, wenn man es aus der Sicht desjenigen zu lesen bekommt. Deshalb ist es wichtig, dass man das gerade nicht zu lesen bekommt. Man darf sich mit demjenigen nicht identifizieren. Und genau das schlägt der Pressekodex bei Suiziden vor und findet seit vielen Jahren Beachtung. Nur zu Amokläufen ist das noch nicht durchgedrungen. -
Ruhm und Ehre für Amokläufer.
Das Wichtigste für einen Amokläufer ist die mediale Aufmerksamkeit. Sie wollen sich in ihrer aufgebauten Realität wenigstens einmal Gehör und Macht verschaffen. Alle Welt soll sehen, wie sie sich gegen die Gesellschaft erfolgreich zur Wehr gesetzt haben. Und genau diese Plattform bieten die Redaktionen. Egal, wo auf der Welt ein Amoklauf geschieht, wir können ziemlich sicher sein, darüber informiert zu werden. Während die Opfer nur aufgezählt werden, wird der Schütze zum Prominenten. Er wird analysiert und charakterisiert. Die Kameras sind immer dabei, anfangs in stundenlangen Livestreams, um immer neue Sensationsmelden minutenaktuell zu verkünden und später, um jede kleine Wendung in den monatelangen Prozessen zu vermelden. Zumindest in den Fällen, in denen der Täter sich stellt. Ob er lebt oder stirbt, in jedem Fall wollen sie mit ihrem wirren Weltbild ein Nachdenken anregen. Sie halten sich für wichtige Vordenker, die als einzige geistig klar sehen. Sie wollen der Gesellschaft einen Spiegel vorhalten. Aber all das können sie nur, weil sie wissen, dass die Gesellschaft mitspielt. Sie wissen, was nach ihrem Tod geschieht. Die Interviews und Schlagzeilen, Diskussionen und so weiter. Präsident Obama hat seine Wahlkampftour abgesagt beim Batman-Attentat. Schön und gut, aber das signalisiert künftigen Amokläufern, wie weitreichend ihre Handlungen sein können. Und je mehr Menschen sie töten, umso größer der Aufschrei in der Gesellschaft. Was aber, wenn stattdessen niemand sich erhebt, wenn die Informationen zurückgehalten werden und über den Ort hinaus kaum jemand erfährt, was überhaupt passiert ist? Dann wirkt der Amoklauf aussichtlos. Wenn die Gewalt nur innerhalb regionaler Grenzen bekannt wird, dann versteht jeder Amokläufer, dass auch er nichts ändern wird. Egal, wie viele Menschen er tötet. Also vielleicht tötet er dann nur sich selbst.
Also, ergeben die einzelnen Punkte für euch Sinn oder wo seht ihr Widersprüche oder habt andere Ansichten? Fallen euch weitere Punkte ein?
Und was ergibt sich als Konsequenz für die mediale Behandlung von Amokläufen/Attentaten/Terrorakten?
Meine Meinung dazu ist:
Man sollte bei solchen persönlich motivierten Gewaltakten eine Informationssperre verhängen, weil das Leben möglicher Opfer weit schwerer wiegt als die Informationspflicht der Medien, die gerade in solchen Fällen nur die Sensationsgier der Massen bedienen will. Das ist ein emotionales Thema, was jedes Mal aufs Neue große Schlagzeilen garantiert. Schlagzeilen, die lebensgefährlich sein können und es auch sind aus oben genannten Gründen.
Viele schreien bei dem Gedanken auf, weil Zensur heute vielfach als einer der schlimmsten denkbaren Eingriffe in die Informationsfreiheit gilt. Aber vielleicht sollte gar nicht jede Information frei sein. Schon heute wird vieles und überall zensiert. Es ist gar nicht möglich, nicht irgendwelche Informationen zurückzuhalten. Es wird nur das berichtet, was in besonderem Maße interessant oder wichtig ist. Und wenn man Menschenleben damit retten kann, dass man den Menschen weniger Interessantes bietet, bin ich dafür. Nur die Lokalpressen sollten über solche Akte der Gewalt berichten dürfen. Denn wenn das die globale Presse tut, entsteht ein verzerrtes Bild der Wirklichkeit. Heute ein Amoklauf in Peking, morgen einer in Toronto, da wird der Eindruck der Alltäglichkeit vorgegaukelt, Amokläufe als etwas Normales verstanden.
Ist jemandem aufgefallen, wie oft seit dem Sinken der Costa Concordia Nachrichten über andere Fähren folgten? Beinahe wöchentlich, hatte ich den Eindruck. Davor habe ich seit der Estonia nicht wirklich was in Erinnerung. Es wird immer das Bewusstsein für ein Thema geschärft und dann nur noch darüber berichtet. Die Nachrichten werden selektiert. Nicht Aktuelles wird negativ selektiert, also zensiert. Aber man sollte auch Gefährliches zensieren, denn die Journalisten müssen sich auch in ihrer Verantwortung sehen: Wenn die ausführliche Berichterstattung die Wahrscheinlichkeit für Amokläufe und höhere Opferzahlen hebt, dann soll man entweder gar nicht berichten oder nur in einer kurzen Randnotiz. Es ist ja auch für die Leser und Zuschauer völlig unerheblich, wie der Täter die Tat ausgeübt hat, welche Waffen er benutzte, was sein Beruf war oder was seine Eltern dazu sagen. Dieses Wissen ist “nice to know”, aber es hilft uns in keiner Weise weiter. Potentiellen Amokläufern dafür umso mehr. Daher bin ich für eine Ausweitung der Zensur von Suiziden auf Amokläufe.
tl;dr
Die Medien sollten davon Abstand nehmen, mögliche Nachahmungstäter zu informieren und zu motivieren und daher durch Selbstzensur Menschenleben retten.