Harmlose Sätze und ihre Meta-Bedeutung

In der politischen Diskussion wird oft über unbestimmte und mehrdeutige Aussagen und Sätze gestritten, ohne dass man sich dabei jeweils die Mühe machen würde, mitzuteilen, wie man so seinen Satz versteht und meint; es wird also bewusst unterlassen, dass man etwas für eine Klärung tut. Auf diese Weise werden dann scheinbar harmose und banale Aussagen emotional und bedeutungsmäßig aufgeladen.

Ein berühmtes Beispiel sind die Sätze des freheren Bundespräsidenten Christian Wulff:

“Das Christentum gehört zweifelsfrei zu Deutschland. Das Judentum gehört zweifelsfrei zu Deutschland. Das ist unsere christlich-jüdische Geschichte. Aber der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland.”

Das ist eigentlich einigermaßen unmissverständlich - sollte man meinen. Dennoch kamen Reaktionen wie die, dass das “historisch falsch” sei, oder dass Judentum und Christentum die abendländische Kultur mehr prägen als der Islam, oder dass es unangemessen sei, Christentum, Judentum und Islam gleich zu setzen usw.

Worauf ich hinauswill, ist, dass man die Aussage von Wulff vielerorts gar nicht verstehen wollte, sondern sie absichtlich inhaltlich verfremdet hat, um sich besser vom Islam distanzieren zu können. Denn darum ging es in Wahrheit: Nicht, ob Wulff recht hat, sondern ob man dem Islam eher aufgeschlossen oder ablehnend gegenübersteht.

Eigentlich wäre die Frage um die ursprüngliche Aussage ja sachlich ganz leicht zu klären. Man müsste jeweils nur sagen, was man mit einer Aussage wie “Der Islam gehört (nicht) zu Deutschland” meint und was nicht. Denn natürlich gibt es heute Millionen Menschen muslimischen Glaubens in Deutschland, zwei Mio. davon deutsche Staatsbürger; und auch, wenn die meisten deutschen Muslime nicht sehr fromm sind, so ist dann der Islam doch Kultur von Millionen in Deutschland, und es gibt Moscheen usw.

Insofern könnte man - ohne Wertung - sagen, dass der Islam faktisch eine Realität in Deutschland ist und somit auch zu Deutschland gehört; ob man das gut findet oder nicht ist eine ganz andere Frage.

Und dass der Islam historisch gesehen viel weniger zu Deutschland gehört als das Christentum ist ebenfalls eine selbstverständliche Tatsache, und auch, dass die jetzige deutsche Kultur deutlich weniger prägt. Das weiß ja auch Wulff, und das will ja auch niemand bestreiten.

Man könnte solche Probleme also durch eine kurze Bedeutungs-Analyse von Aussagen und Intentionen ganz schnell klären. Dann würde sich zeigen, dass es um den Inhalt solcher Äußerungen eigentlich keinen Streit geben kann, sondern höchstens noch um bevorzugte sprachliche Ausdrucksweisen, was allerdings belanglos ist.

Aber ich glaube, so eine Klärung will man gar nicht. Bestimmte, scheinbar banale Sätze kommunizieren eine Bedeutung auf der Meta-Ebene. Es wird damit jeweils viel mehr gesagt, als man laut ausspricht:

  • Was Wulff “eigentlich” sagen wollte, war ja, dass man nicht nur die Menschen muslimischen Glaubens respektiert und ihre Religion irgendwie notdürftig “duldet”, sondern dass man ihre Religon auch in einem positiven Sinne respektiert, anerkennt und würdigt. Weil der Islam Teil der Identität dieser Menschen ist, und diese Menschen zu Deutschland gehören, gehört in gewisser Weise auch ihre religiöse Identität zu Deutschland und sollte positiv anerkannt werden; dies war die Botschaft.

  • Umgekehrt wollten diejenigen, die Wulff kritisiert haben, ja auch nicht das Faktum ableugnen, dass es Millionen Muslime gibt, die hier ihre Religion ausüben; sondern man wollte damit zum Ausdruck bringen, dass man diese Menschen zwar (mehr oder weniger) akzeptiert und ihre Religion auch toleriert, aber dass man den islam eigentlich nicht mag und ihn eben mit Zähneknirschen und Bauchschmerzen hinnimmt, ihn aber keineswegs irgendwie “positive würdigen” oder “aufwerten” will. Eigentlich geht es auch vielleicht eh mehr darum, Gefühle anzusprechen; insbesondere aversive Emotionen und Ressentiments gegenüber dem Islam. Die eigentlich intendierte Aussage lautet: “Wir schätzen den Islam nicht gerade.”

Mir geht es hier nicht um die Frage des Islam als solchem; aber so werden eigentlich völlig banale und unstrittige Aussagen mit einer impliziten, versteckten Bedeutung überladen, die sie gar nicht haben; man instrumentalisiert,verfremdet und “misssversteht” sie, um ganz andere Inhalte zu vermitteln und gewisse Gefühle anzusprechen.
Dies ist nun das Beispiel, das mit einfällt, aber es gibt auch andere. Anstatt Sprache für Verständigung und Klarheit zu gebrauchen, redet man absichtlich aneinander vorbei und missbraucht Sprache für versteckte Botschaften auf der Meta-Ebene. Anstatt zu sagen, was man meint, versteckt man sich hinter aufgeladenen Phrasen.
(Im konkreten Fall würde ich Wulff allerdings keinen großen Vorwurf machen, denn es liegt hier ja auf der Hand, was er sagen wollte; seine Kritiker hingegen haben seine Aussagen absichtlich sinnentstellend verfremdet und sich doch sehr hinter Phrasen versteckt.)

Solche Vorgänge zeugen in meinen Augen von der großen geistigen Verarmung, mangelnden Differenzierung und fehlenden Klarheit, mit der Debatten geführt werden, und allgemein der immer wieder erneut überraschenden Dummheit, die so vielen gesellschaflichen und politischen Diskussionen zueigen ist. Fallen noch jemandem weitere Beispiele ein?

[video]http://www.youtube.com/watch?v=k4YZ6aJmn1Q&feature=g-vrec[/video]

Solche Vorgänge zeugen in meinen Augen von der großen geistigen Verarmung, mangelnden Differenzierung und fehlenden Klarheit, mit der Debatten geführt werden

Ich seh das eher umgekehrt: Natürlich gibt es einen Teil, der sich über seine Phrasendrescherei nicht bewusst ist, aber Leute wie Minister Friedrich setzen solche Methoden bewusst ein, um Debatten zu lenken und das zeugt nicht von geistiger Verarmung. Um Klarheit im Sinne von Wahrheit geht es in der Politik oder der Gesellschaft auch fast nie, sondern um die Durchsetzung bestimmter Interessen und die lassen sich eben auf vielfältige Weise realisieren: Populismus, Verwirrung, Spaltung, Diffamierung usw. Die Frage ist stets: Cui bono? Wem nützt es? Wem nützt es, wenn christliche und muslimische Arbeiter sich an die Gurgel springen und ihre Gemeinsamkeiten vergessen? Wem nützt es, wenn der faule Grieche an der Armut Schuld ist? Und dann weiß man auch, für welche Interessengruppen Friedrich, Sarrazin, Diekmann und Konsorten einstehen. Deine Analyse finde ich also sehr treffend!

Das Problem, dass natürliche Sprache immer Interpretationsspielraum zulässt ist ja nicht neu und wird nie anders sein.
Den Satz kann man auf ganz verschiedene Weisen verstehen. Du hast erläutert wie du ihn verstanden hast. Ich habe ihn auch so verstanden und bin auch Wulffs Meinung.
Aber man kann ihn sehr wohl anders verstehen. Und Personen, die ihn anders verstehen sind auch nicht per se böswillige Menschen. Natürlich haben viele Menschen, die dem Islam kritisch gegenüberstehen, die Gelegenheit gesehen die Unterschiede in der Bedeutung der einzelnen Religionen für Deutschland herauszustellen oder ihre Position zum Islam klarzustellen. Aber dadurch sagen sie doch auch Implizit wie sie den Satz verstehen, oder? Was sie vielleicht verschweigen, ist, dass ihre Interpretation nur eine von vielen Möglichen ist.
Der Satz war eben - wie sagt man so schön - Anstoß zu einer Debatte. Und eine Debatte ist doch nicht schlecht.