Folge 192 - Im Namen des Zuschauers

[QUOTE=Mr. Polara;476419]Nach wie vor kann ich nicht nachvollziehen wie man da die Frage Schuldig oder Unschuldig stellen kann.
Und noch weniger wie 87 % der Zuschauer für Unschuldig stimmen konnten.[/QUOTE]
Der Pilot hat sicherlich Schuld* auf sich geladen - aber ob er im Sinne der [U]Mordanklage[/U] schuldig ist sei mal dahin gestellt.
Das ist ja auch, was Holger bemängelte: Diese Schwarz/Weiß-Sicht bzw. die Nötigung zu einer Ja/Nein-Antwort.

Andersherum hätte er auch Schuld* auf sich geladen, hätte er nicht geschossen - aber das Flugzeug wäre ins Stadion gedonnert.
Und das obwohl er “nur” Befehlen gefolgt wäre.

Egal wie rum: Er hätte nur dann nicht die Arschkarte gehabt, wenn die Entführer den Flieger brav auf dem nächsten Flugplatz gelandet hätten. Und da kann sich jeder selbst ausrechnen, wie wahrscheinlich das gewesen wäre.

*) Ich rede hier von “persönlicher Schuld” bzw. “persönlichen Schuldempfinden” - nicht von schuldig im Sinne des Gesetzes!

Es ging hier wohl nicht um persönliche Präferenzen.

Es ging er darum, dass er lieber 170.000 Stadioninsassen rettet als 146 Flugzeuginsassen vermutlich letztendlich auch nicht rettet.

Ich möchte hier nicht sagen, dass der Pilot unschuldig ist, aber man muss die Situation schon richtig darstellen.

[QUOTE=Quck;476425]Und als Rechtfertigung behauptet er, die Passagiermasse wäre sowieso zerstört worden; das hat er dank der Glaskugel in seinem Schädel vorausgesagt.[/QUOTE]

Oder er hat die Situation wirklich so eingeschätzt. Dies muss man ihm Zugestehen. In dubio pro reo. Oder war diese Behauptung zu unglaubwürdig? Da weiß ich jetzt nicht, wie dies im Film dargestellt worden war.

Ein anderer Punkt:
Beim Abstimmungsergebnis muss man auch berücksichtigen, dass aufgrund einer Technikpanne, die Abstimmung sehr schnell zusammenbrach. Es werden also vor allem jene abgestimmt haben, die nicht viel reflektiert haben.

[QUOTE=Quck;476425]Sondern weil ihm die Stadionmasse lieber war als die Passagiermasse. Und als Rechtfertigung behauptet er, die Passagiermasse wäre sowieso zerstört worden; das hat er dank der Glaskugel in seinem Schädel vorausgesagt.[/QUOTE]

Du hast die Verfilmung auch nicht gesehen, was?

Wenn man eine kalte, moralfreie Logik ansetzt, hat der Pilot völlig richtig gehandelt: Die Wahrscheinlichkeit, dass die Flugzeugbesatzung überlebt war verschwindend gering, es waren zudem zahlenmäßig weitaus mehr Leute im Stadium, die in jedem Fall überleben würde, sofern das Flugzeug keine Chance hätte, das Staion zu erreichen. Selbst wenn die Passagiere es bei einem ausbleibenden Abschuss irgendwie ins Cockpit geschafft hätten, wäre nicht sicher gewesen, dass die Passagiere überlebt hätten. Die Terroristen hätten lediglich die Piloten erschießen brauchen.

Problematisch wird es, wenn wir unsere Vorstellungen von Moral und Ethik ins Spiel bringen: Ab dem Zeitpunkt kann man einen Abschuss nicht mehr bringen. Wir können schlicht das Dilemma nicht beantworten, welches Leben eines Meschen wertvoller ist, als ein frei wählbares anderes Menschenleben oder gar mehrerer Menschenleben.

Ich kann durchaus nachvollziehen, dass man den Piloten gern laufen lassen will - immerhin hat er offentichtlich tausende Menschen gerettet unter einem Opfer, dass nachvollziehbar erscheint.

Unser Staat ist durch das Grundgesetz so angelegt, dass die moralische Perspektive bei der Urteilsfindung nicht ignoriert werden darf. Ein Richter muss den Piloten schuldig sprechen, auch wenn das unserem ersten Empfinden seiner Schuld widerspricht. Tut der Staat das nicht, bricht er damit mit dem ersten Artikel des Grundgesetzes, das eben genau solche Vergleiche zwischen Menschenleben verhindern soll. Wenn wir als Gesellschaft das akzeptieren, was sagen wir dann beim nächsten Gerichtsverfahren, wo es dann vielleicht nicht mehr um 164 zu 70000, sondern nur noch um 164 zu 1000 geht? Was, was, wenn sich dann der nächste um 1:1 geht? Wo soll der Staat dann noch eine Grenze ziehen?

Genau das ist meiner Meinung nach das Hauptproblem bei der ganzen Angelegenheit. Erlauben wir dem Staat, Artikel 1 Grundgesetz zu ignorieren, öffnen wir die Büchse der Pandora. Und das kann niemand ernsthaft wollen.

Gruß Iwan

Iwan, hier ist ein ausführlicherer Kommentar von mir zu dieser Verfilmung:

http://forum.massengeschmack.tv/showthread.php?19618-ARD-am-Montag-Schirach-Terror&p=476040#post476040

Was auch im Spielfilm thematisiert wurde, aber später in den Diskussionssendungen nicht mehr, was die Option der Räumung des Stadions. Was bei dieser Option “Räumung Stadion” aber nicht themtisiert worden ist, war die Möglichkeit/Gefahr das Panik im Stadion ausbrechen könnte, und durch diese Panik ebenfalls Menschen zu Tode kommen könnten. [B]Joachim Fuchsberger[/B] stand [B]1972 als Stadionsprecher in München[/B] genau vor so einer Situation und hat diese Situation mal sehr eindrücklich beschrieben, hier:

//youtu.be/Ztw_aA91d5w

Danke Solarkritiker für diesen Eindruck von einer wirklichen Situation aus der Praxis, bei dem zwar alles gut ging, aber prinzipiell eine ähnliche Situation herschte. Hier sieht man auch, dass man selber niemals in eine solche Situation kommen möchte. Die Last, welche man dort verspürt muss unglaublich erdrückend sein.

Ich finde immer noch, dass Spekulationen über Panik im Stadion, über heimliche Erwartungen der Befehlskette, über Verfehlungen, das Stadion zu evakuieren, komplett am Fall vorbei gehen.

In der juristischen Lehrpraxis verbringt man auch keine Zeit damit über Details zu spekulieren, die im Fall nicht genannt sind - es geht ausschließlich um die - durchaus abstrakte und nicht der Lebenswirklichkeit angepasste - Aufgabenstellung, in diesem Fall um die Prinzipfrage ob ein Flugzeug, welches sonst in ein Stadion krachen würde (diese Annahme liegt durchweg zugrunde) abgeschossen werden kann. Alles andere ist Besserwisserei.

[QUOTE=monsterfurby;476539]
In der juristischen Lehrpraxis verbringt man auch keine Zeit damit über Details zu spekulieren, die im Fall nicht genannt sind - es geht ausschließlich um die - durchaus abstrakte und nicht der Lebenswirklichkeit angepasste - Aufgabenstellung, …[/QUOTE]

DANKE für die [B]erneute[/B] Bestätigung, dass deutsche Juristen an der Lebenswirklichkeit vorbei praktizieren.

Gerhart Baum hat mal in einer Portrait-Sendung über sich selbst gesagt: “[I]Weil ich Jurist bin, habe ich auch gelernt, logisch zu denken.[/I]” Ich habe laut gelacht, als ich das damals gehört hatte.

Wie wäre wohl die Abstimmung ausgefallen, wenn im Flugzeug nur Frauen und Kinder gewesen wären :voegsm:

Und Robbenbabies!

Oder im Stadion nur Flüchtlinge.

Also. Da müssen wir jetzt aber mal ganz scharf nachdenken. Die erste Frage ist: Wäre es 1972 zu einer Panik gekommen? Antwort: Vielleicht: Nachdem man durch die Ereignisse in den Tagen zuvor verunsichert war hätte es passieren können. Aber es hängt nicht nur von den Menschen ab, sondern auch von dem Bau des Stadions. Ja die Tore waren zu, aber die hätte man ja aufmachen können.

Zweite frage ist: Die Allianz Arena in München ist nach den ganzen Stadionkatastrophen wie Hillsborough, Valley-Parade und Heysel gebaut worden, zu einer zeit, als man sich schon Jahrzehnte mit solchen Phänomenen auseinandergesetzt hat. Ich bin mir Relativ sicher, dass man das Stadion innerhalb von wenigen Minuten Komplett Räumen kann ohne, dass es zu Panik oder ähnlichen Erscheinungen kommt.

[QUOTE=Kajdron;476428]Es ging hier wohl nicht um persönliche Präferenzen.

Es ging er darum, dass er lieber 170.000 Stadioninsassen rettet als 146 Flugzeuginsassen vermutlich letztendlich auch nicht rettet.[/QUOTE] 70000

Oder er hat die Situation wirklich so eingeschätzt. Dies muss man ihm Zugestehen. In dubio pro reo. Oder war diese Behauptung zu unglaubwürdig? Da weiß ich jetzt nicht, wie dies im Film dargestellt worden war.

Ein Pilot in einem Kampfflugzeug in einem Einsatz hat weder die Zeit und Konzentration, so eine Entscheidung zu Treffen, noch hat er alle Relevanten Informationen, noch kann er sich sicher sein alle relevanten Informationen zu haben. Er ist da oben, bis auf eine Sprechfunk Verbindung von der Außenwelt abgeschnitten. Und da soll er eine Frage beantworten, die schon für einen Menschen in einem Bequemen Fernsehsessel mit allen Informationen schwierig zu beantworten ist. Ein Pilot, hat mehr noch als andere Soldaten im Einsatz ausschließlich auf die Befehle zu hören, die er bekommt. Er soll nicht selbst entscheiden. Gleichzeitig würde ich ihn sogar aus der Haftung herausnehmen wenn er einen Rechtswidrigen Befehl befolgt( was ich bei anderen Soldaten nicht so machen würde). In dem Luftsicherheitsgesetz, das ja verfassungswidrig war, musst schließlich immerhin der Verteidigungsminister den Befehl geben. Niemand sonst. Kein General, kein Oberst, kein Hausmeister, nur der Minister.

Und es gibt noch mehr Varianten. Das Militär besitzt Nebelbomben. Wenn man um das Stadion einige davon abwirft dann kann man das Stadion nicht mehr sehen. Und die Instrumente kann man mit Störsendern stören. Der Terrorist wird dann höchstens aus Zufall das Stadion Treffen und vermutlich deshalb eher ausweichen. Das gibt einem wiederum zeit eine Weitere Lösung zu erarbeiten. Das muss aber am Boden Passieren

Ich stimme Dir in allem zu, Icetwo, nur in diesem einen praktischen Detail nicht: Die relevanten Instrumente kann man nicht mit Störsendern stören. Das wäre schlimm, wenn das möglich wäre. Man kann das Wetterradar stören, aber das ist irrelevant. Und man könnte das GPS-Signal in einem bestimmten Gebiet stören (von den USA kontrolliert, das GPS gehört ihnen), aber das [I]Trägheitsnavigationssystem[/I] an Bord ist völlig unabhängig (wenn auch nicht ganz so präzise wie GPS).

also GPS hat schon eine Ungenauigkeit von 5-20 Metern. Die Allianz Arena ist ca 270 Meter Lang, dazu kommt, das man kein ILS hat weil die Allianz Arena kein Flughafen ist und es deshalb Wahrscheinlich ist das man zu früh zu tief oder zu spät zu hoch ist. Östlich und Nördlich der Allianz Arena ist ein Hügel, Das sperrt diese Richtungen komplett. Man kann einen Anflug nur über das Kreuz München Nord oder von Süden aus Starten. Wenn man aber im Süden ein Flugzeug abschießt dann tut man das über bewohntem Gebiet. Das ist eine Sache der ich noch gar nicht begegnet bin. Wer kann sich noch daran erinnern was für Große Teile in Lockerby oder in Überlingen runter gekommen sind.

Klar wird das schwierig, ich wollte auch nur das eine Detail hinzufügen.

Aber abgesehen davon, er könnte auch auf Sicht fliegen und das letzte Stück im Nebel mit Radiohöhenmesser und IRS. Eine gewisse Ausbildung müsste er allerdings haben, in jedem Fall.

Jedenfalls gäbe es bestimmt mehrere Möglichkeiten dort noch etwas zu tun, die niemandem bisher in den Sinn gekommen sind. Das ist doch ein Problem. In dem wir den Abschuss als denkbare Variante zulassen nehmen wir uns selbst die Möglichkeit bessere Lösungen zu finden.

Diese ganze öffentliche Debatte und auch diverse Teile des FKTV-Beitrags gehen leider eigentlich an der Idee des Stücks / Films vorbei. Es geht hier ja überhaupt nicht um eine juristische Frage. Das sollte auch insbesondere den Juristen, die sich angucken, wie überhaupt in den Dialogen argumentiert wird, sofort klar werden. Was hier geführt wird, ist eine Debatte aus der praktischen Philosophie: Sollte man einer konsequentialistischen (insbesondere utilitaristischen) oder einer deontologischen Ethik folgen? Entsprechend werden ja vonseiten der Staatsanwaltschaft im Drama auch Kant und die Würde des Menschen bemüht und nicht Entscheidungen des BVerfG. Es ist, das sagt ja auch schon der erste Beitrag in diesem Thread, ein Gedankenspiel zur Erörterung einer philosophischen Frage. Und da es sich um ein literarisches Werk handelt, hat man es eben in irgendeine Kulisse verlegt, wo sich ein Gerichtssaal ja nun mal anbietet. Wenn das nun nicht als Kunstprodukt rezipiert wird, sondern als wissenschaftlicher Text oder Film, ist das einfach eine fehlgeleitete Rezeption, die sich nicht auf die Gesetze der Diegese einlässt.