Emotionalisierung in Nachrichtensendungen am Beispiel von "heute plus"

Hallo!

Mich beschäftigt seit geraumer Zeit eine Beobachtung: Die zunehmende Emotionalisierung von Nachrichtenformaten im Fernsehen. Dies ist allerdings auch nur ein kleiner Teil einer Entwicklung, die unsere Kanzlerin, so sehr man sie auch kritisieren kann und muss, so perfekt auf den Punkt gebracht hat (obwohl diese Entwicklung auch bei ihr in negativer Weise eine Rolle spielt): „Postfaktisch“. Sendungen wie „Ihre Meinung“ oder die Hashtag-Sendungen des WDR stoßen mir übel auf, sehe ich in Ihnen doch eine Anbiederung an Teile der Zuschauerschaft sowie Entwicklungen der „digitalen Gesellschaft“, ich nenne sie auch gerne „Meme-Gesellschaft“. Jan Böhmermann hat es sehr gut formuliert. Bezogen auf die Sendung „Ihre Meinung“ meinte er sinngemäß: „Der Zuschauer wird dort abgeholt, wo er steht… aber auch genau dort wieder rausgelassen.“ Der WDR holt ja neuerdings in mehreren neuen Formaten den Zuschauer ins Programm… „normale Leute wie Du und ich machen Fernsehen“… Mich ärgert in erster Linie diese mediale Verarbeitung politischer oder gesellschaftlicher Ereignisse. Nicht auf Fakten und Information beschränkt… sondern verpackt als emotionales Mitmachfernsehen in einer Gesellschaft, in der Jeder eine Meinung hat und diese publizieren muss… nun nicht mehr nur auf Facebook oder im Kommentarbereich auf YouTube, sondern zur besten Sendezeit im Fernsehen.

Wie auch immer. Nachrichtensendungen der Öffentlich-Rechtlichen werden zunehmend von „Emotionen“ geleitet. Besonders schlimm empfinde ich Sendungen des WDR, konkret z.B. die „Aktuelle Stunde“. Nein… es reicht ja nicht, sachlich mit Fakten versorgt zu werden… es muss die Gefühlsebene rein, und noch schlimmer: Die persönlichen Befindlichkeiten der Moderatoren. Mich interessiert es einen Scheiß, wie das Befinden eines Moderators ist, wenn dieser eine Nachricht vorliest und dabei betroffen guckt und kommentiert. Ich muss mir nicht vorschreiben und mir vorleben lassen, an welchen Stellen ich lachen, mich ärgern oder weinen soll.

Ich möchte hier exemplarisch einen Beitrag der ZDF Nachrichtensendung „heute plus“ zu der Entscheidung Martin Schulz’, nach Berlin zu wechseln, benennen, welche ich vor einigen Wochen gesehen habe. Zunächst dachte ich, es handele sich um einen Nachruf und Martin Schulz sei gestorben. Dann dachte ich, es wäre eine Einleitung für eine Satire. Etwa für „Die Anstalt“? Doch dann musste ich feststellen… nein… es ist ein Beitrag in einer „seriösen“ Nachrichtensendung. Musikuntermalung, Zeitlupen, eine völlig unkritische Auseinandersetzung mit diesem Politiker, „emotionale“ Mutmaßungen über die Beweggründe seiner Entscheidung. Aber seht selbst:

https://www.zdf.de/nachrichten/heute-plus/videos/heuteplus-schulz-europaparlament-100.html

Ich konnte zunächst gar nicht glauben, was ich da gesehen habe. Ist gerade Wahlkampf und dies eine Parteienwerbung? Für mich steht dieser Beitrag exemplarisch für eine Entwicklung, aber zugleich ist er auch in gewisser Weise trauriger Höhepunkt.

Ich weiß nicht, ob dieses Thema bereits in „Fernsehkritik-TV“ behandelt wurde – bin erst seit kurzem Abonnent und habe noch nicht alles gesehen :wink:

Das könnte ja 1:1 von der SPD stammen. Ist das ein Extrembeispiel oder spiegelt sich das tatsächlich auf dieser Ebene wieder? Das war… wow… man kann da schon nicht mal mehr “parteiisch” sagen.

Gab es nicht erst vor kurzem eine lobhudelnde Merkel-Doku im ÖR über 45 oder 90 Minuten? Gleicht sich da doch aus.

Ansonsten stehen die ÖR vor essentiellen Problemen aktuell: Wenn sie nicht mit der Zeit gehen, bekommen sie den Ruf des Senioren-Fernsehens verpasst und verlieren so ihre Legitimation. Und passen sie sich bei einigen Formaten an, sehen das andere wiederum kritisch. Ich halte hier erstmal eher die Zuschauer der Youtube-Generation für das Problem. Auch wenn das ÖR eh mit solchen Formaten nicht wirklich wettbewerbsfähig wird, kann man auf Youtube und auf Facebook genau sehen, was zumindest Millionen Deutsche wollen: Emotionale und simple Nachrichtenbotschaften.

Und die Aktuelle Stunde … war die jemals seit der Mitte der 90er Jahre seriös? Habe das als furchtbare und kitische Regionalnachrichten in Erinnerung, aber auch bestimmt seit 10 Jahren nicht gesehen.

Edit: Hier ist die Merkel-Doku, kann sich dann jeder selbst ein Bild machen, wenn man wirklich 90 Minuten lang Merkel sehen will: https://www.youtube.com/watch?v=5oCRdCcYRfU

Eine gewisse Gefühlsduselei ist mir gerade bei “heute” auch schon aufgefallen - mal abgesehen davon, dass ich den Eindruck habe, dass sie immer mehr die Ausgewogenheit bzw. eine professionelle Neutralität verlieren.

Es sind so Kleinigkeiten wie die Formulierung "…darunter Frauen und Kinder."
Dass ist eine diskriminierende Aussage.
Volker Pispers wartet auch nur darauf, dass irgendwann jemand “…zum Glück nur Männer” sagt. :ugly

[post=482078]@Baru[/post]: Vereinfacht gesagt: Du meinst, dass die Medien ihr Programm [-]dümmer[/-] einfach gestrickter gestalten, weil sie annehmen, dass das Publikum immer einfach gestrickter wird?
Oder ist es einfach nur die eiskalt kalkulierte Absicht mit Emotionen Menschen aufwiegeln bzw. zu beruhigen - und damit eine gewisse Kontrolle über Meinungen auszuüben?

[QUOTE=mchawk;482080]
[post=482078]@Baru[/post]: Vereinfacht gesagt: Du meinst, dass die Medien ihr Programm [-]dümmer[/-] einfach gestrickter gestalten, weil sie annehmen, dass das Publikum immer einfach gestrickter wird?
Oder ist es einfach nur die eiskalt kalkulierte Absicht mit Emotionen Menschen aufwiegeln bzw. zu beruhigen - und damit eine gewisse Kontrolle über Meinungen auszuüben?[/QUOTE]

Das ist dann eine Verschwörungstheorie. Da sitzen aber keine finsteren Politiker in der Kammer und überlegen, wie man am besten das Volk mit den Medien kontrolliert. Das ist viel mehr eine westliche oder gar globale Entwicklung, wie Menschen aktuell (im Durchschnitt) am liebsten ihre Nachrichten konsumieren und das ist laut, emotional und inhaltlich einfach gestrickt. Clickbaiting ist nicht ohne Grund aktuell so erfolgreich, ze.tt und bento sind die verzweifelten Versuche von alten Nachrichtenmagazine zu überleben und auch bei Youtube sind nicht die seriösen und ernsten Youtuber erfolgreich.

Die Menschen werden auch nicht unbedingt immer dümmer deswegen, auch wenn der Verdacht naheliegt. Ich glaube, das hat eher was mit neuen Formen des Konsums zu tun. (Nebenbei und überall aber deswegen auch nur oberflächlich.)

Für die „Youtube-Generation“ waren das viel zu wenig Jumpcuts und „OMG! LIEGT SCHULZ IM STERBEN??? DIE WAHRHEIT HINTER DEM EU-PRÄSIDENTEN!!!111“ :wink:

Es gibt ja wohl einen Unterschied zwischen einem Biopic und einer mehrminütigen Gefühlsduselei? Da kommt wenigstens auch die politische Gegnerin in Form von Wagenknecht zur Rede, bei dem gezeigten Beispiel hat man lediglich die eigene Klientel bedient. Schwaches Argument.

[QUOTE=ExtraKlaus;482084]
Es gibt ja wohl einen Unterschied zwischen einem Biopic und einer mehrminütigen Gefühlsduselei? Da kommt wenigstens auch die politische Gegnerin in Form von Wagenknecht zur Rede, bei dem gezeigten Beispiel hat man lediglich die eigene Klientel bedient. Schwaches Argument.[/QUOTE]

Die Merkel-Doku ist nicht frei von jeder Kritik, aber sie wird nur kurz durch interviewte Personen geäußert und das allgemeine Bild ist immer noch sehr positiv. Und im Schulz-Bericht kommt auch ein politischer Gegner von Schulz vor: Ein CSU-ler. Nur Schulz ist halt total perfekt, deswegen kann der auch nur positives sagen. :ugly

Das Problem am Schulz-Bericht ist, dass Schulz in der Politik aktiv bleibt. Hätte er einfach seine politische Karriere beendet, und in dieser Machtart ist letztlich der Bericht, wäre das doch etwas emotionalisierter aber letztlich nicht ungewöhnlicher Bericht. Nur weil Schulz eben in die Berliner Politik wechselt, wirkt es dann doch wie Wahlkampf.

@ ExtraKlaus: Im Falle von „Heute plus“ halte ich es für ein Extrem, von welchem es allerdings einige gibt. Dieses „Derivat“ von „heute“ richtet sich scheinbar an ein jüngeres Publikum, welches beim Mutterschiff „heute“ nicht abgeholt wird. So zumindest mutmaße ich über die Selbsteinschätzung des Senders. Die besagte „Emotionalisierung“ empfinde ich in dieser Nachrichtensendung als besonders ausgeprägt.

@ Baru: „Ich halte hier erstmal eher die Zuschauer der YouTube-Generation für das Problem“ – das sehe ich ähnlich. Wobei das Problem für mich dort beginnt, wo sich ein Sender anbiedert und einst geltende Qualitätsmaßstäbe und Codices über Bord wirft. Ich wünschte, ich hätte Einblick in die Redaktion von „heute plus“ und könnte beurteilen, ob die Inhalte der Sendung von „oben“ angeordnet oder Spiegel des Ausbildungsgrades junger Journalisten der Generation „Praktikum“ sind.

„Und die Aktuelle Stunde“…: Als Beispiel, welches mir im Gedächtnis geblieben ist. Eine Meldung zu einem „Betrugsfall“ wird verlesen, Seniorin wird an der Haustür um ihre Monatsrente gebracht oder so ähnlich. Es bleibt nicht bei Fakten und Informationen zum Hergang – nach Abspielen des Filmbeitrags schließt der Moderator mit betroffenem Blick in die Kamera und dem abschließenden Urteil: „Schlimm“. Der von mir sehr verehrte Harald Schmidt spricht von „Befindlichkeitsterror“ und dem Verlangen nach „Authentizität“. Das hat sich in alle möglichen Formate eingeschlichen und ist eine Entwicklung, die sicher mit Aufkommen des Internets und Social Media seinen Anfang genommen hat. Das Verlangen, eine Haltung zu haben und diese produzieren und zeigen zu müssen, hat in bestimmten journalistischen Formaten für mich nichts verloren, solange diese eben auf so „emotionale“ Weise daher kommt. Doch das Auftreten dessen ist Spiegel einer gesellschaftlichen Entwicklung.

Ich bin vielleicht naiv. Doch ich muss immer wieder an ein Zitat eines Mannes denken, der mich sehr geprägt hat und den ich persönlich kennen durfte und der mir jeden Tag mehr fehlt, nämlich Roger Willemsen. Er sagte einmal, dass im Idealfall das Medium Fernsehen (wie auch andere Medien) ein Medium der „Überforderung“ sein sollte. Denn nur dann kann man als Zuschauer wirklich lernen und zu einem Erkenntnisgewinn gelangen. Tatsächlich ist das Fernsehen mehrheitlich ein Medium der „Unterforderung“.

Ja, es muss alles scheinbar immer einfacher, schneller und greifbarer werden. Schlagzeilen und Texte von 140 Zeichen Länge. Ich könnte da noch andere Beispiele zum Thema „Simplifizierung“ (und zugleich Abnahme der Qualität) bringen – das werde ich mal in einem gesonderten Beitrag tun. Aber nur kurz ein Beispiel: Die Infantilisierung der Wissenschaftssendung „Quarks & Co.“ in deren Ableger „Quarks und Caspers“, in welchem der erwachsene Zuschauer für völlig blöd verkauft wird und eine Kindersprache Einzug gehalten hat, die ihres Gleichen sucht. Ein Beispiel für einen Generationswechsel im „Qualitätsfernsehen“: Der seriöse, präzise und wissenschaftliche Ranga Yogeshwar auf der einen Seite und der junge, hippe Ex-Moderator des Kinderfernsehens auf der anderen.

[QUOTE=dandee;482088]Ich wünschte, ich hätte Einblick in die Redaktion von „heute plus“ und könnte beurteilen, ob die Inhalte der Sendung von „oben“ angeordnet oder Spiegel des Ausbildungsgrades junger Journalisten der Generation „Praktikum“ sind.
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Was müsste man denn einer Eva-Maria Lemke von oben aufoktroyieren, was sie nicht ohnehin auch freiwillig ohne äußeres Zutun umsetzt? Deswegen hat man die Frau ja ausgewählt. Die politische Zielsetzung von heute+ wird spätestens nach einmaligem Anschauen völlig klar. Nun kann man sich damit arrangieren oder sichdarüber echauffieren und sich bei facebook die Finger wund schreiben.
Ein Beitrag von heute+ der übrigens bei facebook ähnlich hohe Wellen geschlagen hat - im Vergleich zur Apotheose auf den Lokalpolitiker Schulz aus Würselen - ist die Debatte über den jüngsten Polizeieinsatz in Köln.

Grundsätzlich ist aber der Einwand der enormen „Emotionalisierung“ bei heute+ völlig korrekt, nur eben nichts Neues. Mich wundert es, dass sie Sendung hier bei FKTV vergleichsweise glimpflich bisher davon gekommen ist. Technisch ist die Sendung nicht so schlecht gemacht, vielleicht täuscht dies auch etwas über den Kern und der Intention dieses Formates hinweg.

[QUOTE=Baru;482078]Und die Aktuelle Stunde … war die jemals seit der Mitte der 90er Jahre seriös?[/QUOTE]

Joh, ich kenn das nicht anders. Und ich erwarte es auch nicht anders.

Es besteht ein Unterschied zwischen den Hauptnachrichten [I]Tagesschau [/I]und [I]heute [/I], die meiner Erfahrung nach immer noch von emotionsloser Verkündung geprägt sind, und allen anderen Nachrichtenformaten, die meinetwegen machen können, was sie wollen.

Der Chulz-Beitrag lief bei [I]heute plus[/I], was von der Credibility ungefähr zwischen [I]Brisant [/I] und [I]RTL2-Action News [/I]rangiert. Wer sich darüber echauffiert, nimmt auch Ede Zimmermann sein permanentes “Leider kein Einzelfall” übel.

Im Gegenteil, würde ich mir mehr persönliches Gefühle in den Spätnachrichtensendungen [I]Tagesthemen [/I]und [I]heute-journal [/I]wünschen. Dort müssten Archor*women sitzen, die eine aufrichtige Haltung vertreten, unabhängig vom tagesaktuellen Lüftchen; Journalisten, die das Zeitgeschehen kommentieren und einordnen; Persönlichkeiten, die sich ihrem Ethos verpflichtet fühlen. Jeremy Paxman, anyone?

[QUOTE=Greggy;482184]Der Chulz-Beitrag lief bei [I]heute plus[/I], was von der Credibility ungefähr zwischen [I]Brisant [/I] und [I]RTL2-Action News [/I]rangiert. Wer sich darüber echauffiert, nimmt auch Ede Zimmermann sein permanentes “Leider kein Einzelfall” übel.[/QUOTE]

Der Vergleich hinkt gewaltig. Allein die Selbstdefinition des ZDF bezüglich dieser Sendung… und ich wüsste nicht, was diese Nachrichtensendung mit der Autobahnunfall- und Promi-Sendung “Brisant” zutun hätte, in der Politik nun gar keine Rolle spielt.

Die Selbstdefinition ist mir völlig schnuppe. [I]heute plus [/I]ist eine “Nachrichten”-Sendung für Bronys, Hipster und andere, die für [I]Logo [/I]zu alt und für die [I]Tagesschau [/I]zu doof sind.