Ich habe mir die Doku eben auch angesehen, mir den Text von Stefan Niggemeier durchgelesen und auch hier die Kommentare.
Meiner Meinung nach ist die größte Schwachstelle der Doku, dass zu sehr auf die Erklärung gesetzt wird, dass es sich Propaganda handelt, die eine bestimmte, klare (reaktionäre) Intention gehabt hat. Und das ist dann doch zu wenig belegt, dafür hätte man viel mehr Beispiele finden müssen wie etwa das (nicht vorhandene?) Zitat aus der Kriminalitätsstatistik. Wie in dem Niggemeier-Text ja auch richtig festgestellt wird, werden dann auch noch einige Beispiele zu Ungunsten Niggemeiers ausgelegt, auch wenn sie mindestens mehrdeutig sind.
Auch wird den „Fesseln“, die die Formatidee einer Fahndungssendung mit sich bringt nicht genug Aufmerksamkeit geschenkt: Klar sind Verbrechen im häuslichen Umfeld unterrepräsentiert, weil die vermutlich schneller aufgeklärt werden. Und dass nicht so viel Fokus auf die Täter gelegt wird bzw. werden kann ist auch klar, wenn diese unbekannt sind. Das alles nimmt doch etwas Wind aus den Segeln des Hauptvorwurfs des Films der Propaganda. Und da tut der Film dann den Machern der Sendung und im Speziellen Eduard Zimmermann vllt. auch etwas Unrecht.
Was mir persönlich aber doch einleuchtet ist (und was mir der Film bei all seinen Schwächen doch auch gut vergegenwärtigt hat) ist, dass das XY-Format auch die Möglichkeit geboten hat, ein paar konservativ-bürgerlichen Botschaften Raum zu verleihen (ohne dass dahinter notwendigerweise ein großer Propaganda-Masterplan stecken muss).
Ich bin kein großer XY-Experte, habe aber auch immer mal wieder einige alte Folgen über die MG-Livestreams gesehen - und es ist doch schon augenfällig, wie oft die Filme mit einem bürgerlichen Ideal beginnen und wie oft (aus bürgerlicher Perspektive) moralisch fragwürdiges Verhalten des Opfers (Homosexualität, Prositution, Trampen etc.) vielleicht nicht verbal in einen Kausalzusammenhang mit dem Verbrechen gesteckt werden, aber doch in der ganzen Komposition der Beiträge solche Schlüsse irgendwie naheliegen.
Gerade die Darstellung des Alltags bietet doch eine gute Bühne für solche Darstellungen. Ich habe nur durchgeblättert, aber in diesem Zusammenhang scheint mir der Beitrag von Jan Pinseler in einem Springer-Sammelband (nicht DER Springer-Verlag
) ganz aufschlussreich zu sein (ab S. 73) : https://link.springer.com/content/pdf/10.1007/978-3-531-91949-2.pdf
Nur mal ein Zitat (S. 85-86):
"Der Alltag, wie er in Aktenzeichen XY … ungelöst dargestellt wird, so hat sich
gezeigt, ist ein beständig vom Verbrechen bedrohter Alltag. Menschen werden –
in der Darstellung der Sendung – zu Opfern, weil sie leichtgläubig sind (wie der
alte Mann, der in seiner Wohnung ermordet wird), weil sie hilfsbereit sind (wie
der Mann, der eigentlich nur die Blumen in der Wohnung eines Freundes gießen
wollte), weil sie unvorsichtig sind (wie die junge Frau, die Auto fährt ohne dies
von innen zu verriegeln), weil sie nicht umfassend auf ihr Eigentum aufpassen
(wie die Bauern, denen die Fotovoltaikplatten vom Dach gestohlen werden),
weil sie ein Risiko eingehen (wie der schwule Mann, der einen Unbekannten mit
nach Hause nimmt) oder weil sie ihr Schicksal herausfordern (wie die Polizistin,
die ihren Kollegen überredet, den Dienst zu tauschen). Ihr alltägliches Leben
wird als gewöhnlich, als ‚normal‘ vorgeführt. Worin diese Normalität besteht,
wird in den Darstellungen der VerbrecherInnen deutlich, die die alltägliche
Normalität zerstören. Auffallend ist, dass nur im Fall des überfallenen schwulen
Mannes dessen Alltag kaum dargestellt und nur der Barbesuch gezeigt wird, der
zu dem dargestellten Verbrechen führte. Wenn Alltag in Aktenzeichen XY …
ungelöst als unhinterfragte, selbstverständliche Normalität gezeigt wird, dann ist
dies immer ein Alltag weißer deutscher Menschen aus der Mittelschicht.
Und auch (S. 86):
In den Filmen in Aktenzeichen XY … ungelöst geht es zu einem großen Teil gar nicht um die Darstellung des Verbrechens selbst, vielmehr wird zumeist das Leben der Opfer vor der Tat ausführlich dargestellt. Vor dem Hintergrund einer alltäglichen ‚heilen Welt‘ der Opfer erscheint das Verbrechen, das von außen in den Alltag eindringt, dann umso böser. So entsteht das Bild einer Dichotomie von Gut und Böse, in der diese unterschiedlichen Welten angehören und sich gegenseitig ausschließen. Diese Gegenüberstellung erfolgt mit Hilfe von filmischen und rhetorischen Mitteln. Je weniger sich die Alltagswelt der Opfer und die außeralltägliche Welt der Täter berühren, desto mehr kann das Verbrechen als einfach böse beschrieben, muss es nicht als Bestandteil einer Gesellschaft erklärt werden und können Widersprüche zugunsten einer eindeutigen Ordnung aufgelöst werden.
Das verdeutlich für mich dann schon nochmal, wie in einer Sendung wie Aktenzeichen XY eben auch konservative Moralvorstellungen immer ganz gut eingebunden werden können. In dem Zusammenhang finde ich das Beispiel mit der Darstellung des Trampens als große Gefahr ein ganz schönen Beleg dafür, dass die Fakten der Gefahren dem eigenen Weltbild untergeordnet wurden …
Auch wenn ich sagen muss, dass mich der Film dann letztlich nicht so aufschlussreich waren, wie die paar Passagen aus diesem Beitrag im Springer-Sammelband 