"Börse vor acht" befeuert Politikverdrossenheit

“Während Fußball Weltmeisterschaften beschließen die Regierungen unangehme Gesetze, damit es keiner merkt” das hört man so oder so ähnlich momentan überall. Teilweise mag da etwas dran sein, aber in “Börse vor Acht” vom 19.06 wurden schon sehr steile Behauptungen aufgestellt (ab Minute 1:00)

Leider ist das Original Video nicht mehr online, deswegen hier nur mal der Screenshot:

Während der WM 2006 wäre also die Mehrwertsteuer von 16 auf 19% erhöht worden, dabei wurde das Gesetz schon im Mai 2006 im Bundestag verabschiedet:

Die WM 2006 startete am 9 Juni, das Gesetz war also schon lange vor der WM im Bundestag und in der öffentlichen Diskussion. Endgültig beschlossen wurde die Gesetzesänderung erst Mitte Juni im Bundesrat, das ist wohl richtig. Aber das war bei der großen Koalition nicht mehr als ein Verwaltungsakt.

Die Erhöhung der Krankenkassenbeiträge wurde hingegen im November 2010 beschlossen, also satte drei Monate nach dem Ende aller WM Spiele:

Es gibt also bestenfalls einen wagen zeitlichen Zusammenhang, trotzdem behauptet man einfach das hätte System. Das finde ich schon ziemlich abenteuerlich, dadurch fördert man die allgemeine Politikverdrossenheit der Zuschauer und das in einem öffentlich-rechtlichen Sender.

Wie wäre es denn mit diesem Fall:

Das ist ziemlicher Blödsinn, findet sogar das linksrotgrüne Kampfblatt taz:

FAZIT: Die These, die Regierung beschließe absichtlich während der Fußball-WM unbeliebte Gesetze, ist Unfug. Selbst die Opposition teilt sie nicht. „Wir können während der Zeit der Fußball-WM den Parlamentsbetrieb nicht einstellen“, sagt Grünen-Fraktionsgeschäftsführerin Britta Haßelmann. „Andere gehen auch ihrer normalen Arbeit nach.“

Das Einzige, was mich hieran stört, ist, dass hier bei weniger als fünf Prozent anwesenden MdB keine Beschlussunfähigkeit festgestellt wurde, weil das nur auf Antrag einer Fraktion geschieht. Würde sich die Beschluss(un)fähigkeit direkt aus der Anzahl der Anwesenden ergeben, würde man nicht solche Zeitpunkte wählen.

Keine Ahnung was dem Autor der taz da geritten hat. Es ist natürlich so, dass es ja nicht nur den Monat der WM selbst gibt, sondern die Medien sind ja schon mindestens vier Wochen vorher voll mit dem Thema, sodass eine mediale Auseinandersetzung mit politischen Themen kaum mehr stattfindet. Und dann sind dann noch die 2,3 Wochen danach wo dann alle wieder down to earth kommen. Also hat man im Endeffekt nicht nur 4 Wochen Schland-Spektabel, sondern brutto ca. 10 Wochen. Also knapp ein viertel Jahr! Und dass man unbequeme Themen in diesen Zeitraum setzt, wie derzeit Fracking, ist ja wohl klar. Auch wenn es nix geworden ist, die Absicht war da:

Denn ursprünglich wollte Minister Sigmar Gabriel tatsächlich noch vor der Sommerpause die Verordnung ins Parlament einbringen

Also sollen die Parlamente „fast ein Vierteljahr“* nichts tun? Die Medien sind doch immer voll davon, dass unliebsame Themen angeblich mit Vol in diesen Zeitraum gelegt werden. Für mich gibt es weiterhin nur zu kritisieren, dass zu niedrige Anwesenheit im Bundestag nicht automatisch zur Beschlussunfähigkeit führt.

, wie derzeit Fracking

Hier noch mal etwas ausführlicher zitiert:

Eine Abstimmung im Schatten eines WM-Spiels wird es also nicht geben. Dass diese Gerüchte überhaupt aufkamen, hat das Ministerium aber mit zu verantworten. Denn ursprünglich wollte Minister Sigmar Gabriel tatsächlich noch vor der Sommerpause die Verordnung ins Parlament einbringen – und lieferte damit denjenigen, die der Regierung alles mögliche zutrauen, eine feine Vorlage.

Der Artikel macht genau das Gleiche wie der von mir verlinkte: Er zeigt - etwas nüchterner geschrieben - wie solche Gerüchte entstehen.

*Spätestens 24 Stunden nach dem Halbfinale wird sich in Deutschland außer den wirklich Fußballinteressierten keine Sau mehr um die WM scheren.

[QUOTE=Anchantia;362842]sodass eine mediale Auseinandersetzung mit politischen Themen kaum mehr stattfindet. [/QUOTE]

… die findet doch auch ohne WM ohnehin kaum statt. Man kann ja spasseshalber mal imArchiv des Bundestages sich die x-tausend Beschlüsse anschauen und sich dann fragen, wieviel darüber in den Medien berichtet wurde. Das sind ein paar vereinzelt prominente Themen und vielleicht, wenn’s ein Gesetzesbeschluss ist, mal eine kurze Meldung auf Phoenix oder den Tagesthemen.

Die ganze Aufregung um dieses Meldegesetzdings zeigt vielmehr, wie die Medien bei der Vermittlung parlamentarischer Vorgänge regelmäßig versagen. Und hinterher einen Skandal draus machen, nach dem Motto: Schiebung! Wir wurden alle hintergangen! … das ist schon sehr wohlfeil.

Auf der anderen Seite interessiert es eben auch niemanden. Wenn die ARD über sowas im Vorfeld ausführlichen berichten würde - wer würde sich das denn anschauen?

Es gibt wie gesagt Fälle wie das Halbfinale gegen Italien 2012, wo das Parlament offensichtlich geschlafen hat oder irgendetwas klammheimlich durchdrücken wollte. Aber die in “Börse vor acht” genannten Beispiele eignen sich dafür halt nicht und wenn man eine WM auf ein viertel Jahr ausdehnt, dann muss der Bundestag zusammen mit Sommer- und Winterpause, Europameisterschaften und Olympischen Spielen bald komplett die Arbeit einstellen.

Das während den laufenden Spielen die Aufmerksamkeit sehr stark auf der WM liegt, lasse ich mir gefallen, aber schon bei der Vorberichterstattung über Demonstrationen, halbfertige Stadien und Manuel Neuers Schulter? Da könnte man auch argumentieren, man dürfte keine Gesetze beschließen wenn im Ukraine Konflikt gerade so viel los ist, da gab es auch massive Berichterstattung um ein einziges Thema.

Nein, “Börse vor acht” verbreitet hier einfach Stammtischpalaver mit vermeintlichen “Beweisen”. So wie die ganze Sendung inhaltlich eine einzige Zumutung ist (“die Börsenkurse steigen, deswegen geht es Deutschland gut”).

[QUOTE=asdrubael;362853]man dürfte keine Gesetze beschließen wenn im Ukraine Konflikt gerade so viel los ist, da gab es auch massive Berichterstattung um ein einziges Thema. [/QUOTE]
Oder Prozesse gegen prominente Sozialschmarotzer laufen.

Frage: ist die “Börse vor acht”-Auflistung vollständig, oder kommt darunter noch was?

Denn merkwürdigerweise vermisse ich den Beschlusszur [B]Senkung[/B] der Krankenkassenbeiträge von 15,5 auf 14,6 Prozent im Vorfeld der WM 2014.

Vor Kurzem ist auch so ein kleines Rentenpaket durchgerutscht.

Ich muss aber ehrlich sagen das ich da die Meinung teile, das man das durchaus absichtlich macht. Nicht unbedingt böswillig, aber absichtlich. Da kann man halt mal gut Sachen verabschieden, die sonst von den Medien zerfickt werden würden.

Vielleicht wäre das allgemein mal ein langfristiges Thema für FKTV: [B]Bundestagsbeschlüsse, die die Medien nicht abbilden[/B]!

Denn Ihr habt natürlich Recht, dass das nicht nur zur WM der Fall ist. Sonst wird halt irgendne andere Sau durchs Dorf getrieben.

Das wäre ein Thema, was sicherlich Recherche bedarf. Aber das würde der Kern von Fernsehkritik.tv par excellence treffen. Immerhin zahlen wir ja Gebühren, also sollte man auch vön den ÖRs erwarten umfassend über politisches Geschehen informiert zu werden! Es weiß zwar jeder, dass die ÖRs nur selten Beschlüssen und Gesetze zum Thema machen, nur bei populären Fällen, es wäre aber mal interessant langfristig zu vergleichen was im Bundestag abläuft und wieviel davon in der Tagesschau, heute oder in den Tagesthemen berichtet wird!

Bei http://www.bundestag.de hat man ja immer eine schönen Überblick über Sitzungen und Entscheidungstermine. Und man kann auch gleich die Reden im BT runterladen!

Das wäre wirklich mal langfristig sehr interessant wie viel uns von den ÖRs (Phoenix ausgeschlossen) vorenthalten wird und daran festmachen, dass der ÖR keine politische Bildung betreibt und somit die Gebühren nicht verdient hat!

[QUOTE=Anchantia;362858][B]Bundestagsbeschlüsse, die die Medien nicht abbilden[/B]![/QUOTE]

Zu dem Zeitpunkt ist der Hase bereits gelaufen. Die Arbeit in den Ausschüssen ist vielmehr das Entscheidende, wo auch die Medien einhaken müssten.

Überhaupt kann ich das nur empfehlen, sich auf bundestag.de mal zu einem favorisierten Thema eine Ausschusssitzung anzuschauen. Man wird überrascht sein, wie konstruktiv und sachlich dort die Fraktionen zusammenarbeiten. Das ist weit entfernt vom Zirkus der abendlichen Talkshows. Nur leider wird genau dort in den Talkshows jede etwas tiefere sachliche Diskussion seitens der Moderation sofort unterbunden. Die Zuschauer könnten ja wegzappen, wenn es mal nicht alle 2 Minuten irgendwoher krawallt.

Die SZ hat den ursprünglichen Artikel zum Thema Fracking und WM (sowie Mehrwertsteuer, Krankenkassenbeiträge) in die Tonne gehauen (hier noch im Archiv) und durch eine „Sorry wir haben Stuss erzählt“-Meldungersetzt.

Korrektur: Hier stand ursprünglich ein Text, der sich als unwahr herausgestellt hat.

Es ging hauptsächlich um die These, dass die Bundesregierung Fracking im Schatten der WM legalisieren will. Das stimmt jedoch nicht, deshalb hat sich die Redaktion von Süddeutsche.de zu dieser Korrektur entschlossen.

Folgende Fakten stimmen: 1) Fracking kommt erst nach der Sommerpause zur Abstimmung ins Kabinett. 2) Fracking ist bereits legal, das Kabinett will das Gesetz lediglich konkretisieren - in welche Richtung auch immer.

An dem Beispiel sieht man: selbst wenn es die Idee gewesen wäre, das Thema unter den WM-Teppich zu kehren, ist das gründlich nach hinten losgegangen. Vielmehr hatte die Skandalisierung per WM-Verschwörung den Kampagnenmachern des Anti-Frackings in die Hände gespielt. Schließlich verbreitet sich eine skandalträchtige Schlagzeile „Kommt das Fracking-Gesetz während der WM?“ sehr viel besser als ein schnödes „Regierung plant Gesetz zur Regelung von Fracking“.

ZDF: Politik im Windschatten der WM

Dennoch war das kein Eigentor für „Campact“. Die Agentur hat die Furcht der Bürger vor dem versteckten Foul pfiffig für sich genutzt.

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ps: ich bin mal gespannt, ob nach der Sommerpause, falls dann der Referentenentwurf fertig ist, auch nur eine einzige ÖR-Talkshow das Thema aufgreift. Falls zwischendurch im Sommer noch was Spektakuläres passiert (vlt. zur Abwechslung was zu Sex mit Tieren), dann sicher nicht.

[QUOTE=Kiyotake;363797] Schließlich verbreitet sich eine skandalträchtige Schlagzeile [I]“Kommt das Fracking-Gesetz während der WM?”[/I] sehr viel besser als ein schnödes “Regierung plant Gesetz zur Regelung von Fracking”.[/QUOTE]
Wobei es hier beinahe egal ist, zu welcher Gelegenheit das Fracking legalisiert wird - ein skandalöses Verbrechen bleibt es allemal.

Wie bereits gesagt: … [I]“Fracking ist bereits legal”[/I] und wird in Deutschland auch seit den 1960ern angewendet (nur bislang noch nicht das umstrittene Schiefergas).

Alles weitere hier: http://www.bmub.bund.de/themen/wasser-abfall-boden/binnengewaesser/fracking-regelung/

… es geht in der Regelung also vielmehr darum, die unkonventionelle Gasförderung (Schiefergas) zu [U]verbieten[/U] und das Fracking insgesamt genauer zu regeln.

Das war übrigens auch im Koalitionsvertrag so festgelegt, dass eine gesetzliche Regelung zum Fracking geschaffen werden soll (eben grade [I]weil [/I]es bisher ungeregelt und [I]explizit nicht verboten[/I] ist).

Ah okay, so ist das.
Danke für die Info!