ARD am Montag - Schirach: Terror

Es wurden in dem Film und der nachfolgenden Sendung einige Gedankenexperimente angeführt aber das mMn passenste ausgelassen. (kleiner Nachtrag zu den Gedankenexperimenten am Ende des Posts)
Und zwar folgendes:
Es gibt eine Krankheit, welche zu 100% innerhalb 1 Monats tödlich verläuft, für die ein Heilmittel gefunden wurde. Dieses Medikament führt bei 90% der Erkrankten zur vollständigen Heilung, tötet aber die anderen 10% sofort.

Ist es nun richtig 10% sofort zu töten und 90% zu heilen oder muss man diesem Medikament die Zulassung verweigern danes 10% einen Monat Lebenszeit nimmt, auch wenn das bedeuten würde den 90% Jahre zusätzlicher Lebenszeit vorzuenthalten?

Und genau darum geht es in diesem ganz konkreten Fall. Das Flugzeug ist kurz davor in das Stadion zu stürzen und der Point of no Return, bis zu dem von Außen noch aktiv der Tod zehntausender Zuschauer verhindert werden kann, erreicht. Die Passagiere werden also mit nahezu 100%iger Wahrscheinlichkeit sterben sofern nicht ein sehr unwahrscheinliches Szenario eintritt.
Muss der Pilot nun auf ein Wunder hoffen und zehntausende Menschen sterben lassen nur um danach sagen zu können das er ja niemanden aktiv getötet hat?
Das Gesetz bejaht diese Frage aber die Menschlichkeit gebietet dem Piloten nicht anders zu handeln als er es getan hat.

Fefe greift da mit seiner Sichtweise komplett ins Klo, auch wenn er bestimmt wieder behaupten wird das er damit nur die Leser zu eigenständigem Denken anregen würde, und sieht hier eine komplett falsche Motivation für die Ausstrahlung. Es geht nicht darum das Volk zu unterhalten und via Umfrage zum Lynchmob zu machen oder für einen staatlich sanktionierten Massenmord zu begeistern. Es geht darum Menschen zum nachdenken über Menschlichkeit, Moral und deren Vereinbarkeit mit dem Gesetz anzuregen und ob sie ggf noch zeitgemäß sind.

Welche Frage mir gestern gefehlt hat war die ob man den Piloten wegen zehntausendfachem Todschlag durch Unterlassung hätte anklagen können wenn er den das Flugzeug hätte in das Stadion fliegen lassen.

Ich finde das die aktuelle Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichts in dem Fall garnicht so schlecht ist. Nicht weil das Gesetz richtig ist sondern weil es die Entscheidungsträger in so einem Fall dazu zwingt alle anderen Möglichkeiten in Betracht zu ziehen anstatt voreilig zu handeln. Es ist besser vor Gericht anzuerkennen das die Menschlichkeit in diesen Fall keine andere Option gelassen hat und man den Piloten/Polizisten/whatever wegen des Rechtsbruchs jetzt leider zu 10 Sozialstunden verurteilen muss als Menschen voreilig getötet zu haben weil das Gesetz es einem nunmal erlaubt.

Da muss mir jetzt auch niemand mit Artikel 1 kommen. Wo ist den in dem Fall die Würde der Zuschauer? Wo ist die Würde totkranker Menschen dennen man keine gewollte aktive Sterbehilfe leisten darf? Wo ist die Würde der Eltern deren Kinder in den Klinikmüll wandern anstatt sie beerdigen zu dürfen weil sie leider ein paar Tage zu früh tot geboren wurden?
Da gibt es genug Beispiele wo man Artikel 1 ins Feld führen könnte und noch mehr Beispiele in dennen er nur als Buzzword genutzt wird um die Diskussion abzuwürgen ohne auch wirklich zu verstehen was er den bedeutet.

Zu den Gedankenexperimenten:

MMn sind alle angeführten Gedankenexperimente in diesem konkretten Fall nicht anwendbar.
Beim Weichenstellerproblem wird immer eine Gruppe überleben, ganz gleich was man tut, und es geht nur darum welche man als lebenswerter erachtet. Zwar hat man hier auch die Quantität mit drin und soll “das kleinere Übel” wählen, manche Varianten des Weichenstellerproblems lassen auch noch Alter und Gesundheitszustand mit einfließen, am Ende überlebt aber IMMER eine Gruppe, wohingegen die Passagiere mit nahezu 100%iger Sicherheit sterben werden.

Genauso bei dem Mann auf der Brücke. Am Ende überlebt IMMER jemand. Entweder die Zuggäste oder der Mann auf der Brücke.

Und bei dem todkranken Patienten und möglichen Organspender liegt kein unmittelbarer Zwang vor. Mal ganz davon ab das man in Deutschland niemandem die Organe entnehmen darf wenn er oder seine Angehörigen dem nicht explizit zustimmen. Und selbst da gibt es Probleme mit Organspendern deren Angehörige eine Organspende verhindern können obwohl dieser früher explizit zugestimmt wurde. Aber das ist ein anderes Thema.

[QUOTE=Maddux;476022]Es wurden in dem Film und der nachfolgenden Sendung einige Gedankenexperimente angeführt aber das mMn passenste ausgelassen. (kleiner Nachtrag zu den Gedankenexperimenten am Ende des Posts)
Und zwar folgendes:
Es gibt eine Krankheit, welche zu 100% innerhalb 1 Monats tödlich verläuft, für die ein Heilmittel gefunden wurde. Dieses Medikament führt bei 90% der Erkrankten zur vollständigen Heilung, tötet aber die anderen 10% sofort.

Ist es nun richtig 10% sofort zu töten und 90% zu heilen oder muss man diesem Medikament die Zulassung verweigern danes 10% einen Monat Lebenszeit nimmt, auch wenn das bedeuten würde den 90% Jahre zusätzlicher Lebenszeit vorzuenthalten?

Und genau darum geht es in diesem ganz konkreten Fall.[/QUOTE]

Nein. Bei diesem Medikament ist der Fall ebenfalls anders gelagert. Jeder Patient könnte selbst entscheiden, ob er sich behandeln lässt oder nicht. Der Pilot im Film erhebt sich auf eine Gott-Position, in der er über das Leben eines anderen Menschen bestimmt.

Noch eine Frage, die nicht im Prozess gestellt wurde: Wusste der Pilot, dass die Lufthansa-Maschine auf einen Kartoffelacker fliegen würde? Oder hätte es auch eine Autobahn oder eine belebte Straße am Stadtrand sein können? Hat er riskiert bzw. war es ihm egal, dass vielleicht 1-100 Menschen (auf so einer Straße oder Arbeiter auf dem Kartoffelacker; egal, wie viele) zu Tode kommen durch das abstürzende Flugzeug, die ohne sein Eingreifen niemals in Gefahr gewesen wären? Hat er den Tod von diesen Menschen in Kauf genommen, weil sie ja durch ihre absolut geringere Anzahl vermeintlich weniger wert sind als die Zuschauer im Stadion?

Ganz zu schweigen von den Fußballspielern und -trainern, die ja noch mehrere Millionen Mal so viel wert sind wie Josef Jedermann. Aber will jetzt nicht in Polemik abdriften, sorry.

*edit: Erstmal muss ich natürlich noch klarstellen, dass das hier theoretische Szenarien sind und ich niemals vorhersagen kann, wie ich im Affekt oder unter Zeitdruck reagieren würde, wenn ich mit sowas konfrontiert würde. Ich stelle nur fest, was in meiner Moral das “Richtige” ist.

Zum Weichenstellerproblem: Hier ist für mich das Umstellen der Gleisanlage ein aktives Eingreifen in die Situation und damit das absichtliche Töten der Gleisarbeiter. Die passive Handlung, das Gleis nicht umzustellen hingegen, wäre ein “Nichtretten” von den Personen im Personenwagen. Das eine ist in meinen Augen ein Töten, das andere eine “Nichthandlung”. Die “Nichthandlung” wie unterlassene Hilfeleistung ist ethisch ebenfalls verwerflich, aber das Töten ist eine der schlimmsten, wenn nicht sogar die schlimmste Tat, die ein Mensch vollbringen kann. Tötung sollte niemals Menschen widerfahren, die sich nicht selbst mehr oder weniger bewusst in eine krasse Gefahren- oder Unrechtssitutation begeben haben (z.B. Geiselnehmer, Bankräuber, Terroristen). Auch hier finde ich tödliche Gewalt diskutabel, aber teils unausweichlich. Die Tötung von “Unschuldigen” (Gleisarbeitern, Flugpassagieren etc.) ist hingegen für mich ein No-Go und nicht mit dem Grundgesetz vereinbar.

Ich finde dein Beispiel mit dem Medikament nicht passend, denn da bleibt es ja immer noch die freie Entscheidung jedes einzelnen, ob er das Medikament nimmt.

@BG!

In dem Film haben sehr viele Sachen gefehlt die einem Juristen, der Schirach nunmal ist, in den Sinn hätten kommen müssen. Bei Boston Legal wären sie angesprochen worden.
Aber womöglich ist Schirach kein so guter Geschichtenerzäler oder ihm war bewusst das gewisse rechtliche und philosophische Punkte die Denkprozesse und Diskussionen eher behindern würden als sie zu fördern.

Wenn ich mir die Weltkarte mit dem Abstimmungsverhalten anschaue wurdert mich ein bischen das Ergebnis in Japan. Meiner Laieneinschätzung nach bin ich bisher doch davon ausgegangen das man in Japan, aufgrund von Kultur und Tradition, eher dazu bereit ist Wenige für das Wohl vieler Menschen zu opfern und hätte da mit einem anderen Ergebnis gerechnet. Die japanaffinen User hier im Forum mögen mich berichtigen wenn ich mit meiner Einschätzung daneben liege.

@Maddux

Ja klar, ich stimme dir da zu. Ich kritisiere nur diese Punkte, da das für mich entscheidende, ungestellte Fragen sind, um den Grad der Schuld beim Angeklagten festzustellen. Wenn die Fragen nicht im Film gestellt werden, dann muss sich der Zuschauer die Fragen selbst stellen, um zu seinem Urteil zu kommen. Das habe ich getan und sie haben mein entgültiges Urteil nicht verändert, mich jedoch darin bestärkt.

Zu dem Gedankenexperiment mit dem Medikament:

Auch wenn es mir damit darum ging ob aktiv wenige zu töten um viele zu retten schlimmer ist als nichts zu tun und passiv alle sterben zu lassen muss ich zugeben das ich den Punkt mit der Entscheidung ob man das Medikament nimmt oder nicht vollkommen vergessen habe. Mein Beispiel passt also genauso wenig wie die anderen :oops:

[QUOTE=Maddux;476028]Zu dem Gedankenexperiment mit dem Medikament:

Auch wenn es mir damit darum ging ob aktiv wenige zu töten um viele zu retten schlimmer ist als nichts zu tun und passiv alle sterben zu lassen muss ich zugeben das ich den Punkt mit der Entscheidung ob man das Medikament nimmt oder nicht vollkommen vergessen habe. Mein Beispiel passt also genauso wenig wie die anderen :oops:[/QUOTE]

Wozu muss man eigentlich eine passende Analogie finden, wenn der Fall selbst als Beispiel herdient? Wenn ich von meiner Kritik aus meinem vorletzten Post ausgehe (Pilot erhebt sich in Gott-Position), wäre für den konkreten Fall eigentlich das klassische “Steckerziehen bei Komapatienten” der Gegenpart. Ich würde wollen, dass bei mir lebenserhaltende Geräte abgeschaltet werden - ich würde aber nicht wollen, dass ein Arzt diese Entscheidung für mich trifft aus welchem Motiv auch immer. Es sollte mein Wille sein, der irgendwo verschriftlicht ist und auf dessen Grundlage mein Leben beendet wird. Kein anderer als ich selbst darf diese Entscheidung treffen und wenn es nirgends verschriftlicht wurde, dann bleib ich halt im Koma.

Und diese Gott-Position, in der ein einzelner Mensch über das Leben eines anderen entscheidet, ist beim Weichenstellen auch gegeben. Und zwar egal, ob ich den dicken Mann erstechen muss oder die Arbeiter durch meine Handlung umbringe. Es ist in meinen Augen ein und dasselbe. (Sorry, dass ich mich ein wenig wiederhole^^)

Das Motiv des Piloten ist nach BVerfG nicht mit dem Grundgesetz vereinbar und damit ist er zu verurteilen. Sonst könnte man auch andere Leute freisprechen, weil sie überzeugt waren, das “Richtige” zu tun. Ich bin mir sicher, viele islamistische Terroristen sind auch überzeugt, das “Richtige” zu tun und finden ihre Morde moralisch vertretbar.

[QUOTE=Scumdog;476018]Das scheint aber auch bei den Theatervorstellungen vornehmlich der Fall zu sein.[/QUOTE]

Ok, wenn sich schon das meist recht geblidete und intellektuell auch mal geforderte Theaterpublikum in der Mehrheit für “nicht schuldig” entscheidet, dann kann es in der Tat nicht verwundern, dass das weit heterogenere TV-Publikum, bei dem halt auch die bügelnde Hausfrau und der “Ricthtig so!” - Biertrinker vorm Schirm sitzen, noch viel eindeutiger in diese Richtung ausschlägt.

@BG!

Für dich ist, berichtige mich wenn ich falsch liege, ein Menschenleben unendlich viel wert, aufgrund dessen ein Aufwiegen nicht möglich und in diesem konkretten Fall ein aktives Handeln schlimmer als Inaktivität. Für mich ist manchmal ein Menschenleben nicht unendlich viel wert und kann gegengerechnet werden weswegen ich für einen Abschuß im letzten Moment wäre.

Evtl haben wir beide Recht, evtl auch keiner oder nur einer aber genau das zeigt warum diese Sendung so wichtig und auch richtig war. Es gibt nicht nur Schwarz und Weiß die man perfekt für alle Zeiten in Gesetze gießen könnte sondern spiegeln immer die philosophischen und moralischen Ansichten einer gewissen Zeit ab und müssen hinterfragt und ggf angepasst werden.
Die millionenfache industriele Vernichtung von Leben unter den Nazis war vom Gesetz gedeckt und unser Grundgesetz ist aufgrund der Eindrücke aus der Naziherrschaft entstanden.
Seitdem haben sich die Ansichten vieler Bürger in einigen Fragen, wie zB. Homosexualität oder Abtreibung, geändert und mit ihnen auch die Gesetze. Irgendwann wird es für das Gesetz zur Ehe auch mal egal sein wer mit wem und wie gemeinsam im Schlafzimmer Spaß hat und evtl wird man auch andere Ansichten haben wenn es um Fälle wie im Film geht.

Wie schon gesagt fände ich es problematisch gesetzlich eine Absolution für Fälle wie diesen zu haben aber evtl denke ich in ein paar Jahren anders darüber genau wie ich nach dem Krebstod meiner Stiefmutter andere Ansichten zu aktiver Sterbehilfe habe als vor 20 Jahren.

[QUOTE=Maddux;476032]
Evtl haben wir beide Recht, evtl auch keiner oder nur einer[/QUOTE]

Keiner von uns hat Recht. Moral ist etwas Persönliches und etwas Kulturelles. Jeder hat persönliche Erfahrungen (wie du auch selbst sagst) gemacht. Haben Menschen fremder Kulturen „Unrecht“, wenn sie andere Prioritäten, ein anderes Verständnis von Ehre, Ethik, Würde etc. haben? Nein. Was ich „richtig“ finde, muss niemand sonst „richtig“ finden. Ich habe in dieser Debatte den (unfreiwilligen) Vorteil, dass das Urteil des BVerfG und damit das geltende Recht auf meiner Seite steht. Meine Moralvorstellung wäre jedoch auch bei umgekehrter Gesetzeslage gleich. Denk dir meine vorangegangenen laienjuristischen Argumente weg, was dann noch übrig bleibt, ist meine persönliche Überzeugung.

Du sagst, dass wegen der aufkeimenden Debatte um das Thema, die Sendung wichtig war. Ich stimme dir grundsätzlich zu: Es ist super, wenn darüber diskutiert wird und man - wie hier im Forum - andere Vorstellungen kennenlernt und besprechen kann. Finde ich ehrlich super. Aber du weißt sicherlich auch, dass es zahlreiche Leute gibt, die eine derartige Reflektion nicht durchmachen und nur denken „Ich bin in der 86%igen Mehrheit, also habe ich Recht!“. Das ist die Gefahr, die ich sehe.

Ich stimme dir im Übrigen auch zu, dass es korrekt ist, Gesetze regelmäßig auf den Prüfstand zu stellen. Ich persönlich sehe allerdings nicht, wie ein Freispruch in diesem Fall mit meinem Verständnis von Art. 1 im Grundgesetz vereinbar ist (und natürlich ebenfalls nicht, dass dieser Artikel aufgegeben werden sollte). Ich will jetzt hier aber nicht noch ein Fass aufmachen :wink:

Zu deiner „Schwarz und Weiß“-Argumentation las ich eben diesen Artikel, der vielleicht noch ganz interessant ist: www.sueddeutsche.de/medien/1.3211228

Hm, das klang wie ein Widerspruch meinerseits, oder?
Das „aber“ also bitte aus meinem Satz wegdenken, war so net gemeint :wink:

Zum Teil finde ich den Artikel in der Süddeutschen gut wie in dem Punkt “Es gibt die Möglichkeit, die tragische Schuld des Angeklagten festzustellen - und ihn gleichwohl milde oder gar nicht zu bestrafen. Es gibt die Möglichkeit, ihn zu verurteilen und gleichwohl von Strafe abzusehen.”

Natürlich hat er gegen das Gesetz verstoßen und natürlich ist er schuldig zu sprechen aber wie in jedem anderen Verfahren auch geht es nicht nur darum ob gegen ein Gesetz verstoßen wurde oder nicht sondern auch um das Wie, Warum etc. Ich wette das viele der Zuschauer und Theatergäste mit ihrer Stimme für Unschuldig nicht zum Ausdruck bringen wollten das Gesetze zu brechen schon OK ist wenn es nur dem Größeren dient sondern das Schuldig für sie auch nicht infrage kommt wenn nur die Möglichkeit zwischen Unschuldig und Lebenslang besteht.

Der Film und das Theaterstück greifen hier, wie in anderen Punkten, viel zu kurz und Kritik daran ist berechtigt, mit seiner Kritik denkt der Artikel aber ebenfalls nicht weit genug.
Wie soll man einen solchen Fall in 1,5 Stunden komprimieren ohne wichtige Punkte unter den Tisch fallen zu lassen? Ein echter Fall würde ein Gericht über Wochen beschäftigen und am Ende gäbe es nicht nur die Entscheidung zwischen Freispruch und lebenslanger Haft.

Ich würde hier auch Hart aber Fair klar vom Film abgrenzen. Bei Hart aber Fair ging es noch nie darum eine lebhafte Diskussion zu führen sondern darum Menschen mit unterschiedlichsten Ansichten an einen Tisch zu setzen um möglichst viel Krawall zu erzeugen.

[QUOTE=Maddux;476036]
Wie soll man einen solchen Fall in 1,5 Stunden komprimieren ohne wichtige Punkte unter den Tisch fallen zu lassen? Ein echter Fall würde ein Gericht über Wochen beschäftigen und am Ende gäbe es nicht nur die Entscheidung zwischen Freispruch und lebenslanger Haft.[/QUOTE]

Genau das. Hat sich die ARD nicht in genau diesem Aspekt vergallopiert? Schön ein komplexes Thema auf 90 Minuten runterbrechen? Um eben bei sowas eine fundierte Entscheidung zu treffen, muss man sich viel länger mit dem Fall beschäftigen. Der Großteil des Publikums macht das nicht, stimmt ab, wähnt sich im Recht (weil Mehrheit) und zeigt kein Verständnis, warum die Gesetze in einer Demokratie nicht der Mehrheitsmeinung des Volks entsprechen. Fördert das nicht womöglich das Misstrauen in den Staat und die Regierung? Da ist man dann wieder bei der Metadiskussion, ob die ARD sowas überhaupt senden sollte und wenn ja, sollte es so aussehen?

Interessant wäre noch gewesen, eine derartige Abstimmung nach Geschlecht, Alter, Herkunft, Bildung etc. zu machen.

Zustimmung bzgl. Hart aber Fair.

Ich stimme ganz klar für [B]schuldig[/B], aus ethischen und technischen Gründen.

Hier ein paar Punkte, als Beispiel (einige andere wurden schon genannt):

Punkt 1

Der Soldat sagt, die Passagiere würden von den Terroristen als Waffe benutzt, hingegen seien die Konzertbesucher keine Waffe; also seien die Passagiere opfererungswürdiger als die Konzertbesucher. Diesen Punkt mit der Waffe halte ich für falsch. Ich sage, die Passagiere sind keine Waffe im Sinn einer Bombe, die Gebäude zum Einsturz bringt. Sondern sie sind eine Waffe im politischen Sinn, um – als Metapher gesprochen – die Gesellschaft zum Einsturz zu bringen. Ich bin mir sicher, dass ein Terrorist das auch so meint. Der Punkt ist nun, dass demnach die Konzertbesucher auf dieselbe Weise als Waffe bezeichnet werden müssten wie die Passagiere, nämlich im Sinn einer gesellschaftlichen Zerstörung, nicht als Gebäudezerstörung. Folglich muss, gemäß des Prinzips des Soldaten, auch jeder freiwillige Konzertbesucher sich des Risikos bewusst sein, dass er im Rahmen einer Massenversammlung als (gesellschaftliche) Terrorwaffe benutzt werden kann; und somit unterscheidet sich seine Unschuldigkeit nicht von der eines freiwilligen Passagiers. Letztendlich könnte sich durch dieses Prinzip jeder ermächtigen, wiederum die Konzertbesucher eventuell zu opfern, um den Passagieren eine Chance zu erlauben, den Terroristen im letzten Moment zu überwältigen.

Punkt 2

Die für einen Abschuss stimmenden gehen immer davon aus, dass der Terrorist unfehlbar sein Ziel treffen wird. Dieser Gedanke wird bei jedem Argument impliziert, als ob dieser Punkt gar nicht zu bezweifeln wäre. Genau das ist aber der Hauptpunkt! Es mag im Gedankenexperiment klar sein, aber in der Praxis ist es eben [I]nicht[/I] klar wie der Flug ausgehen wird. Das ist ein wichtiger ethischer Grund. Dazu kommt ein ziemlich banaler technischer Grund: Angenommen, die Gewissheit darüber, dass die Passagiere “sowieso” sterben würden, hinge von der verbleibenden Distanz zum Stadion ab, dann nehmen wir das doch mal praktisch unter die Lupe:

  • 30 Minuten Restzeit: “Nicht abschießen, weil Ausgang noch zu ungewiss.”
  • 20 Minuten Restzeit: “Bereit machen zum Abschuss.”
  • 10 MinutenRestzeit: “Waffe entsichern.”
  • 5 Minuten Restzeit: “Abschießen.”

Und nun schauen wir uns mal die Landschaft an:

  • 30 Minuten bis zum Stadion: Weizenfelder, Straßen, Bauernhöfe.
  • 20 Minuten bis zum Stadion: Kartoffeläcker, kleine Siedlungen.
  • 10 Minuten bis zum Stadion: Autobahnen, Eisenbahnen, Trabantenstädte.
  • 5 Minuten bis zum Stadion: Stadtgebiet.

Das heißt, je “gewisser” die Passagiere sterben müssen, desto mehr Menschen wird der Abschuss töten. Der Abschuss wird nicht allein die Passagiere töten. Brennende Flugzeugtrümmer werden auf bewohnte Häuser und belebte Straßen stürzen. Kein Stadion, kein Kino, kein Theater, kein Marktplatz befindet sich draußen auf weiter Flur umsäumt von Kartoffeläckern. Das sieht nur im Gedankenexperiment immer so isoliert aus.

Punkt 3

Die für einen Abschuss stimmenden sagen, unsere Verfassung ermutigte die Terroristen zu weiteren Flugzeugentführungen. Ganz im Gegenteil, sage ich. Erstens ist die Abschießerei nicht das einzige Mittel zur Verhinderung einer Flugzeugentführung; eine Flugzeugentführung muss schon vor dem Abflug verhindert werden, durch Vorbeugung am Boden, und wenn das nicht hilft, durch Maßnahmen in der Kabine. Zweitens, und das ist die gegenteilige Wirkung, hätte der Terror schon gewonnen, wenn wir uns durch ihn zwingen lassen würden, unsere Verfassung zu ignorieren und selbst eigenmächtig und unsinnig Flugzeuge abzuschießen. Wenn wir das tun, handeln und sehen wir mit dem gleichen einfachen, törichten Tunnelblick wie die Terroristen.

Würde also Punkt 1 Sinn machen, so müssten neben den Passagieren und Konzertbesuchern auch die freiwilligen Bewohner und Passanten im Stadionumfeld sich des Risikos bewusst sein und sich daher freiwillig als opferungswürdig sehen müssen. Das wäre noch grotesker. Schlussendlich würde sich die Opferungswürdigkeit in der gesamten Bevölkerung ausbreiten, und ihre vermeintliche Verwendung als Terrorwaffe würde sich vermischen mit der Verwendung als Anti-Terrorwaffe. Das meine ich, wenn ich von “einfachem, törichtem Tunnelblick” rede. Es löst das Problem nicht.

Punkt 4

Die für einen Abschuss stimmenden sagen, unsere Verfassung sei ein Prinzip, und Prinzipien seien nichts wert. Das ist ein rhetorischer Trick. Er degradiert die Verfassung zu etwas abstraktem, sinnlosem, und erhöht dagegen das eigene, befürwortete … Prinzip. Ja, auch nur wiederum ein Prizip. Das Prinzip, Prinzipien zu missachten, ist ein Prinzip, das nicht funktionieren kann. Dieser Universal-Punkt stellt kein Argument dar.

@Quck:

Natürlich muss die Verhinderung einer Entführung an erster Stelle stehen und deswegen sind nach 9/11 die Cockpittüren so konzipiert das sie selbst mit Werkzeug und massiver Gewalteinwirkung kaum zu knacken sind. Und ein Pilot würde selbst bei schlimmsten drohungen die Cockpittür nicht öffnen da die Folgen durch eine Entführung sehr viel schlimmer sein können als ein mordender Terrorist im Fluggastraum.

Man hat schon einen sehr unwahrscheinlichen, wenn auch nicht unmöglichen, Fall herbeikonstruiert um diese Geschichte zu erzählen. Ich finde es ein bischen kleinlich den Fall jetzt noch weiter mit allen möglichen hätte/wäre/wenn-Fragen noch weiter aufzublähen weil viele dieser Fragen einfach zu nichts führen. Zumindest zu keinem Erkenntnisgewinn.

Das andere Gedankenexperimente auf diesen Fall nur bedingt anwendbar sind und er für sich selbst gut als ein solches gut funktioniert haben wir ja mittlerweile festgestellt. Diese hätte/wäre/wenn-Fragen sind für mich ein bischen so als würde man über das Gedankenexperiment mit dem Weichensteller und den 5 Arbeitern reden wollen aber dann kommt einer um die Ecke und fragt was wäre wenn auf dem einen Gleis 1 alte Oma und auf dem anderen 1 kleines Kind stehen. Oberflächlich das selbe Thema aber im Kern ein anderes Problem und der erste Fall wird nicht weiter verfolgt weil jetzt über den zweiten geredet wird.

[QUOTE=Maddux;476042]
Natürlich muss die Verhinderung einer Entführung an erster Stelle stehen und deswegen sind nach 9/11 die Cockpittüren so konzipiert das sie selbst mit Werkzeug und massiver Gewalteinwirkung kaum zu knacken sind. Und ein Pilot würde selbst bei schlimmsten drohungen die Cockpittür nicht öffnen da die Folgen durch eine Entführung sehr viel schlimmer sein können als ein mordender Terrorist im Fluggastraum.[/QUOTE]

Super Idee. https://de.wikipedia.org/wiki/Andreas_Lubitz :twisted:

*edit: Ernsthaft: Die ganzen alternativen Gedankenexperimente sind mit der Prämisse der Menschenwürde, die einem jeden Menschenleben einen unendlichen Wert zuschreibt (unabhängig von Alter, Lebenserwartung, Krankheit etc.), ohnehin unnötig. Das Problem dabei ist, dass man dann eben ein Totschlagargument hat, gegen das sich nicht mehr anrennen lässt.

(Ich verstehe mein “hätte/wäre” nicht als hypothetische Fragen, sondern als Anschauungsbeispiele zu meinen Widerlegungen. Ich denke, ein paar meiner Punkte wurden bisher noch nicht genannt; also lass sie mich doch nennen. Der Film kam erst gestern.)

[B]Abgekürzt: Pro und Contra lässt sich nicht diskutieren. Es ist eine Sache der Intuition. Und von der gibt es tendenziell zwei Arten:[/B]

[B]A:[/B] [I]“Meine Intuition sagt mir, vermehre unseren Artbestand so weit wie möglich. Zeuge viele Nachkommen. Töte so wenige wie möglich. Quantität statt Qualität.”[/I]

[B]B:[/B] [I]“Meine Intuition sagt mir, verbessere unsere Lebensqualität so weit wie möglich. Zeuge Nachkommen nur dann, wenn dir danach ist. Töte niemals Artgenossen. Qualität statt Quantität.[/I]”

Meine Intuition, zum Beispiel, ist von der zweiten Art. Ich sehe keine Chance, sie anderen Leuten einpflanzen zu können. Leider. Das Ergebnis von 80% “pro Unschuldig” ist erschreckend. Ich gebe auf.

Die Würde des Menschen ist unantastbar, sie zu achten und zu schützen ist aufgabe aller staatlichen Gewalt.

wenn man den Tod von Menschen nicht nur in Kauf nimmt sondern ihn sogar herbeiführt dann nimmt man ihnen die würde und das geht nicht. Dann ist mir aufgefallen das in all diesen Beispielen immer nur ein Szenario oder das andere Szenario eintreffen kann. Ist das denn wirklich so? Wenn wir uns nur für oder gegen etwas entscheiden können, dann nehmen wir und für den Fall, das es einen weiteren Lösungsweg gibt die Souveränität weg. ich bin mir sicher, das es in der Realität andere Wege gegeben hätte

Aber wenn jetzt der Russe käme und deine Familie bedrohte und du hättest zufällig eine Waffe zur Hand…? :wink:

Weiß jemand, wo man die Spielszene der gegenteiligen, nicht-gezeigten Urteilsverkündung sehen könnte? Mich würde der Text des Richters und das Schauspiel aller interessieren.